Gespräch mit Roger Behrens

Teil 2

2012:Dec // Elke Stefanie Inders

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12-2012

















Künstlerische Ineffizienz, Teil 2
/ Elke Stefanie Inders im Gespräch mit Roger Behrens

Inders/  Ich möchte nochmals eure (deine und Kerstin Stakemeiers) These, dass Gegenwartskunst eine Industrie und ein Marktsegment sei und somit Teil einer gesellschaftlichen Zurechnungsfähigkeit werden könne, aufgreifen und weiter vertiefen. Ist das ein emanzipatorischer Ansatz für euch, vor dessen Folie ich auch eine Kritik formulieren kann? Dies ist meines Erachtens innerhalb unseres letzten Gesprächs zu kurz gekommen. Die Ausgangsfrage im ersten Teil unseres Interviews (08-2012, vonhundert) war die des künstlerischen Erfolgs, also wann unter welchen Bedingungen Künstler Erfolgsaussichten haben, und wenn ich darüber nachdenke, lande ich ganz schnell in einer oberflächlichen Befindlichkeitsspirale und verschleiere dabei die zentrale Frage, was eigentlich die konstituierenden Produktionsbedingungen sind, die einen Künstler eventuell auch zum Erfolg führen können.
Behrens/  Es scheint sinnvoll, die These „Gegenwartskunst ist eine Industrie“ von der Frage, ob der mögliche Erfolg der Gegenwartskunst auch emanzipatorisch sein kann, zu trennen. Die Bestimmung der Gegenwartskunst als Industrie ist erst einmal nicht emanzipatorisch; wenn, dann ist es der Versuch, diese Komplexion von Gegenwartskunst als Industrie aufzuklären oder überhaupt erst einmal in allen Konsequenzen zu fassen. Ich greife hierbei weitgehend auf die Überlegungen von Kerstin Stakemeier zurück: Kerstin geht es erstens um eine begriffliche Abgrenzung von Gegenwartskunst zur Moderne und zweitens um den Befund, dass Gegenwartskunst kein fixierbarer Stil ist und auch nicht in irgendeiner Weise epochal einzuordnen ist, sondern dass die Versuche, Kunst über das Etikett „Gegenwartskunst“ zu kanonisieren, selbst signifikant für eine Statusveränderung der Kunst in der Gesellschaft sind. Und dies versteht sie in Abgrenzung zur Moderne, die man eben durchaus noch als Epoche und schließlich Stil bezeichnen kann. Mit der Transformation der Moderne zur Gegenwartskunst geht das verloren, Stil wird zum Ausdruck – anders gesagt: Innerhalb der Gegenwartskunst zeigt sich die „Moderne“ als eine Konfrontation: Stil versus Ausdruck. Kerstin macht dies an historischen Fragen fest: Wann wird zum ersten Mal von Gegenwartskunst gesprochen? Ist Gegenwartskunst insofern eine Industrie, als dass hier die Kunst immer schon über den Markt vermittelt ist? Ist also im Sinne der „Industrie“ die Gegenwartskunst eine Kunst, die vollständig in die kapitalistische Struktur und in die Ökonomie integriert ist?
Erst in der Klärung dieser Fragen lässt sich ermitteln, was das kritische, das emanzipatorische Potenzial künstlerischer Praxis wäre. Die These lautet hierzu: mit der Gegenwartskunst als Industrie verlagert sich auch das Emanzipatorische der Kunst in diese Industrie, verschiebt es sich nämlich von der Ästhetik in die Produktion.

Inders/  Das rückt heute wohl deshalb in den Fokus, weil sich ökonomische Krisen wesentlich schneller formieren und entladen und weil sich diese nicht nur an der topologischen Peripherie unserer Wahrnehmung abspielen, sondern global zirkulieren, sozusagen umher mäandern und mitunter direkt vor unseren Augen in rasender Geschwindigkeit stattfinden; die alten Gewissheiten, was Zentrum (Industrieländer) und was die Peripherie (Schwellenländer, failed states) ist, lösen sich auf. Und das schlägt sich natürlich auch in der Gegenwartskunst nieder.
Behrens/  Mit den Krisen, von denen seit dem Aufstieg und Fall der so genannten New Economy gesprochen wird, scheint der Kapitalismus auch für die Wohlstandsgesellschaften der westlichen Welt gewissermaßen wieder konkret wahrnehmbar oder erfahrbar zu werden: Gerade für die gegenwärtige Finanz- und Konjunkturkrise gilt, dass nun auch die so genannte Mittelschicht spürt, dass der Kapitalismus in seiner kruden Verwertungslogik dem Profitmotiv folgt. Die Mittelschicht stand bisher auf der Seite der Gewinner der Affluent society; sie konnte bisher den Rückbau des Sozialstaates immer noch mit Rücklagen, Ersparnissen, Erbschaften oder zumindest symbolischen Repräsentationen des Wohlstands kompensieren. Gleichwohl: die Mittelschicht hat sich ja seit den siebziger Jahren sehr vergrößert, hat sich ausgedehnt in einem ziemlich verästelten und disparaten Geflecht unterschiedlichster individualistischer Lebenswelten – und dazu gehört auch der institutionelle und diskursive Ausbau des Kunstfeldes: die Künste, nicht nur die bildende Kunst, sondern ebenso Musik, Literatur etc., haben seit den siebziger Jahren ihre soziale Bedeutung als integraler Bereich demokratischer „Öffentlichkeit“ und „Kultur“ enorm erweitert. Auch dies ist ein Moment der Globalisierung und hat seine Effekte auf diese: tatsächlich werden die Künste der so genannten Schwellenländer heute anders rezipiert, diskutiert und auch konsumiert als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Dabei ist die Peripherie allerdings nicht verschwunden; im Gegenteil: Mit der Globalisierung – und man muss sagen: vor allem mit der Globalisierung des Kunstmarktes – haben sich die Zentren verteilt und damit neue Zonen der Aufmerksamkeit, aber auch neue – unsichtbare – Zonen des Elends, Schattenwelten des Inhumanen, hervorgebracht.
Kunst wird heute gerne in dem Fokus interpretiert und inszeniert, dass sie uns aufklärt über die Krise, dass sie politische Missstände benennt, eingreift in die Misere unserer Zeit. Was da allerdings von künstlerischer Seite vorgeschlagen wird, bleibt alles im Bereich des Verhandelbaren und Akzeptierten. Und zugleich hat die Kunst wohl auch die Funktion, das Leben unter Bedingungen der Krise ein wenig erträglicher zu machen, also alles ein bisschen aufzuhübschen. Gerade mit Mitteln der Kunst setzt sich hier die von Walter Benjamin schon 1936 diagnostizierte „Ästhetisierung der Politik“ durch, nunmehr unter demokratischen Bedingungen.
Bemerkenswert scheint mir, dass diese Entwicklung der Kunst, die ja zur ideologischen Formation der Gegenwartskunst dazugehört, in den siebziger Jahren losgeht – also zeitgleich mit der Ölkrise; und dass sich das, was sich in den achtziger Jahren entfaltet – Stichwort Galerie-Boom –, zusammenfällt mit der großen Krise, die mit dem Neoliberalismus, den Reaganomics und dem Thatcherismus ansetzt, zu der auch der Zusammenbruch des Realsozialismus gehört, eine Krise, für die die nachfolgenden und gegenwärtigen Krisen nur die Symptome sind.
Übrigens konnte ja zu Beginn der Finanz- und Immobilienkrise 2008/2009 einiges an Kapital noch in den Kunstmarkt verschoben werden – ökonomisch unbedeutend, aber durchaus wichtig für den Kunstmarkt, die Museen, die Sammlungen etc. Beinahe schien es, als könnte sich gegen die allgemeine Krise der florierende Kunstmarkt sogar im Internet ausbreiten.
Das sind alles Momente, die sich zu einem Komplex verdichten: die ständig steigende Zahl von Kunstmessen und der damit einhergehende Bedeutungsverlust einzelner Messen, das Imagegerangel oder die Stellung von Kuratoren, das Brimborium vieler Ausstellungen, die zu riesigen Entertainment-Shows werden. Harald Falckenberg zitierte neulich in einem Artikel die Statistik, nach der es immer noch mehr Museumsbesucher als Kinobesucher und Sportveranstaltungsbesucher gäbe. Kunst als Unterhaltungsprogramm hat – weltweit – ein Riesenpublikum. Gleichzeitig darf man freilich nicht vergessen, dass genau solche Statistiken zeigen, wie sehr sich der Begriff der Kunst verschoben und aufgeweicht hat, und wie sehr eben das Label „Gegenwartskunst“ zum Programm der Event-Kultur dazugehört. Auch „klassische“ Kunstmuseen bieten heute unter dem Label „Kunst“ ein Potpourri verschiedenster Dinge, Inszenierungen und Phantasmagorien an und funktionieren fast wieder wie die Wunderkammern, um das Publikum bei der Stange zu halten.

Inders/  Hier wäre ja die entscheidende Frage, welche Bedeutung ein Museumsbesuch für einen Großteil der Besucher hat, verknüpft mit der Frage, welchen Kunstbegriff diese vertreten. Das ist ja oft genug so ein nettes add-on innerhalb eines Touristenbesuch in Paris, Berlin oder sonst wo, so nach dem Motto: „Und dann gehen wir aber auch bitteschön noch in dieses Museum!“
Behrens/  Genau, Gegenwartskunst als eine Form von touristischem Erlebnisprogramm, wo es relativ unerheblich ist, ob man sich ein Museum anschaut, in dem die Steinzeit verhandelt wird, sich eine aktuelle Kunstausstellung ansieht, oder irgendein Sammelsurium von Gegenständen, das als Kunst präsentiert wird. Gleichzeitig haben sich die Konzepte der Museen ja insgesamt zur Eventkultur verschoben; viele Museen erscheinen als selbstreferenzielle Systeme …

Inders/  … was etwa die Museumsshops angeht …
Behrens/  … Ja, und solches Kunstmarketing, wo der Kunde vom Katalog über die Postkarte bis zur Munch-„Der Schrei“-Aufblaspuppe mit allen Gimmicks versorgt wird, hat längst auch ganze Ausstellungskonzeptionen erfasst. Ich denke hier an zwei für Hamburg – aufgrund der hohen Besucherzahlen auch finanziell – sehr wichtige Ausstellungen: Zum einen 2010 die „Pop Life“-Ausstellung, die weniger im engeren Sinne der Pop Art britische und U.S.-amerikanische Kunst der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre ausstellte, sondern deren Verständnis von „Pop Leben“ bis weit in die Gegenwart hineinreichte und derart irgendwie versuchte, den Popbegriff nicht primär aus der Kunstgeschichte zu holen, sondern so zu überformen, dass alles hübsch bunt, also „poppig“ erscheint, der Katalog auch rosa ist, und Takashi Murakamis „Hiropon“-Skulptur, eine Manga-Figur mit Riesenbrüsten, wohl auch jeden verklemmten Kunstliebhaber überzeugen soll: Das ist Pop! Zum anderen die Hamburger Daniel Richter-Retrospektive von 2007, die damals – von den Besucherzahlen her gesehen – eine der erfolgreichsten Ausstellungen der Bundesrepublik gewesen sein soll. Es ist übrigens bemerkenswert, wie heute Künstler – und in der Regel sind es dann ja auch wieder männliche Künstler wie Rauch, Richter und Meese – zunächst einen diskursiven Raum bekommen, bevor sie dann über Ausstellungen berühmt werden. Auch das gehört wieder zur Gegenwartskunst, hilft, den Nachwuchsstars der Szene ihre Bedeutung zu basteln. Und im Sog des Erfolgs gibt es dann vielleicht noch kleinere Ausstellungen von irgendwelchen Hochschulabsolventen, die aber nur Zierart des Spektakels sind …

Inders/  Da fällt mir die Ausstellung der diesjährigen Absolventen der Kunsthochschule Weißensee, Berlin ein, die ich im Sommer in Kreuzberg gesehen habe und die ich interessanter als die diesjährige Documenta fand. Klar waren da auch fragwürdige Sachen …
Behrens/  Aber insgesamt fallen solche Ausstellungen kaum auf. Hier werden ganz andere Raster benutzt, und auch die Künstler operieren in einem anderen Status als Produzenten. Es gibt ja keinen beruflich gesicherten Karriereweg, der von der Kunsthochschule zur Einzelausstellung im weltberühmten Museum führt. Gerade die Star-Künstler sind nicht nur Produzenten, die anders arbeiten als die vielen unbekannten Künstler, sondern sie sind selbst zu einem Produkt in der Gegenwartskunstindustrie geworden. Biografien sind allerhöchstens noch als Anekdoten relevant, mit denen so manche Künstler-Inszenierung ausgeschmückt wird, als narzisstische oder idiotische Interessantmacherei.

Inders/  Du spielst damit wohl auch auf den Personenkult einiger Künstler an …
Behrens/  … der ein integraler Teil der Gegenwartskunst ist. Bei aller Banalität und Durchsichtigkeit der Ideologie der Gegenwartskunst, müssen die Künstler schon bestimmte Regeln einhalten, um überhaupt mitspielen zu dürfen. Freilich bleibt hierbei das Geschlecht wichtig: bei einer Künstlerin, die in einer ganz anderen Materialität arbeitet, wie zum Beispiel Alice Creischer, ist es dann auch sehr schwer, sie als Gegenwartskünstlerin einzuordnen.

Inders/  Creischer hinterfragt ja eher die von dir kritisierten Paradigmen und hegemonialen Diskurse innerhalb der Gegenwartskunst, um sich damit anders innerhalb der Gegenwartskunst zu verorten, also ein notwendiges Korrektiv, was übrigens auch in ihrer pointierten Kritik an der Documenta 13 in der letzten „Springerin“-Ausgabe deutlich wurde. Möglicherweise ist sie weniger bekannt als Andreas Siekmann, obwohl die beiden fast immer zusammen arbeiten, auch auf der vorletzten Documenta ausgestellt haben und Creischer ja auch im Frühjahr 2012 eine Einzelausstellung bei KOW in Berlin gezeigt hat, die aber dann nicht bei contemporary art daily aufgeführt war. Da verschiebt sich sofort etwas in der öffentlichen Wahrnehmung. Und die Frage ist, wie kommt es dazu?
Behrens/  Ja und das kann man dann wieder rückkoppeln an die Frage, unter welchen Bedingungen Künstler überhaupt ihren so genannten Erfolg haben. Wenn sich also jemand entschließt, Kunst zu studieren, um Künstler oder Künstlerin zu werden, und damit insofern Erfolg haben möchte, als dass längerfristig die Lebenshaltungskosten gedeckt sind, dann muss man schon den Mechanismen des Marktes folgen und kann nicht einfach nur nach eigenem Belieben „Kunst machen“. Wer sich durchsetzen will, macht „Gegenwartskunst“ – und setzt damit ein riesiges Referenzsystem nicht nur an sozialer und öffentlicher Positionierung, sondern auch an „ästhetischer“ und „politischer“ Inszenierung des eigenen Lebens in Gang.

Inders/  Und dann sind wir wieder bei Meese.
Behrens/  Vermeintlich parodiert Meese ja dieses Erfolgsmodell, obwohl er es natürlich durch und durch benutzt. Andere machen das offensichtlicher, wie zum Beispiel sein Freund Daniel Richter. Interessant ist, dass beide ihre eigenen Vermittler sind, ihre Arbeiten erklären, kontextualisieren, über sich schreiben: Meese hat gerade einen Riesenband ›Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst‹ bei Suhrkamp veröffentlicht, Richter betextet und gestaltet seine Kataloge selbst; Meese forciert damit den auch seiner Kunst immanenten Antiintellektualismus, während Richter als der versierte, engagierte und wortgewandte Sachverständige auftritt. Immerhin findet das noch in sozialen Kontexten statt, wo es sich gelegentlich durchaus lohnt, sich kritisch mit dieser Kunst und diesen Künstlerfiguren auseinanderzusetzen. Das unterscheidet Meese und Richter etwa von Olafur Eliasson, der mit seinem Unternehmen die postfordistische Version von Andy Warhols factory-Modell fortsetzt. Das ist dann nicht einmal mehr eine Karikatur auf den ökonomischen Betrieb. Man kann bei Meese wenigstens noch vermuten, dass er versucht, der Gesellschaft oder auch nur der Kunst als Narr einen Spiegel vorzuhalten, dass es hier also doch irgendwie um Kritik geht, auch wenn schnell klar ist, dass ihm das mitnichten gelingt, weil seine Provokationen banal und bescheuert sind. Bei Eliasson ist es einfach nur ein als „Kunst“ deklariertes Geschäft. Doch auch das hat seine Funktion, auch mit ihm und seiner Kunst lassen sich – gerade über das Erfolgsticket – Genialität und Meisterschaft verknüpfen, passend zur neoliberalen Ideologie.
Dies berührt übrigens wieder die Eingangsfrage nach dem Emanzipatorischen der Gegenwartskunst: Gerade dort, wo die Gegenwartskunst sehr explizit Industrie ist, generiert sie „gesellschaftliche“ und auch „gesellschaftskritische Relevanz“. Das ist die „Ästhetisierung der Politik“ in erweiterter Form: statt dass gesellschaftliche Verhältnisse verändert werden (was notwendig wäre, damit Milliarden von Menschen auf diesem Planeten leben und überleben können), bekommen die gesellschaftlichen Verhältnisse ihren künstlerischen, und das kann auch meinen „kritischen“, „selbstkritischen“, „ästhetischen“ etc. Ausdruck. Der Skandal der Kunst verselbstständigt sich zum Spektakel. Jede Documenta behauptet, jetzt endlich eine „politische“ Documenta zu sein. Und mittlerweile verschwinden solche Kunst-Events nicht erst am Ende in der Bedeutungslosigkeit und Langeweile.

Inders/  Ja, ich konnte auf der Documenta die ein oder andere Beobachtung in dieser Hinsicht machen, aber das würde den Gesprächsrahmen sprengen. Du sprachst vom factory-Modell und der heutigen postfordistischen Variante bei Eliasson. Das heutige Modell der factory ist doch das Beziehungsnetzwerk eines Künstlers, in denen es ganz stark um Attitüden, Styles usw. geht und deren Arbeiten kann man, um einen Begriff von Barbara Buchmaier aufzugreifen, als „Verkörperung von Netzwerken“ bezeichnen. Damit einhergehen ja dann auch mehr oder minder starke Abhängigkeitsbeziehungen und Hierarchisierungen. Wobei ich hier zu bedenken gebe, bzw. mich frage, ob das jemals anders war, also bei Warhol bestimmt nicht. Und eine weitere Frage stellt sich mir, ob z. B. Cosima von Bonin dies anders handhabt? Spielt es eine Rolle, dass sie eine Frau ist? Welche Rolle spielt es, dass ausschließlich männliche Künstler für oder ganz eng mit ihr zusammen arbeiten? Kritisiert sie damit womöglich die vorwiegend männlichen Seilschaften und Netzwerke um einzelne Künstler, indem sie sich sagt, das kann ich genauso gut und ich eigne mir genau dieses Prinzip an?
Allerdings las ich neulich in einer alten Frieze-Ausgabe, dass sie mal mit einer alten Jugendliebe von mir eine Arbeit zusammen gemacht hat. Das war aber vor ihrem Durchbruch und er gehörte nicht zur Kippenberger Clique. Wer hier wem nützlich gewesen ist, weiß man also nicht so recht. Immerhin wurde er in der Publikation The Fatigue Empire (2010) erwähnt.
Jetzt sind wir über ganz viele Punkte gesprungen, wie politische Kunst, die Documenta, künstlerischer Personenkult, die hängen natürlich wesentlich mit den eingangs formulierten Fragestellungen und eurer These zusammen, aber ich möchte noch mal zurück zu dem, was ich eingangs in unserem ersten Teil des Interviews gesagt habe. Ich hatte mich auf Bourdieu bezogen und frage mich dabei selber, ob seine Begrifflichkeiten wie ökonomisches und kulturelles Kapital lediglich soziologisch an der Symptomoberfläche herumdoktern und du ihn daher verwerfen würdest? Meines Erachtens sind die Produktionsbedingungen die entscheidenden Bereiche, an denen Kritikhebel angesetzt werden können, oder die auf bedeutende Diskurssperren hinweisen.
Behrens/  Bleiben wir beim Stichwort Produktionsbedingungen. Zwar weist Bourdieu auf die Produktionsbedingungen hin und er analysiert diese auch, aber er entwirft in Bezug auf die Produktionsbedingungen keine emanzipatorischen Forderungen.

Inders/  ... im Grunde ist Bourdieu deskriptiv und stellt infolge dessen auch keine Forderungen?
Behrens/  Ich verstehe ihn so, aber meine im Übrigen, dass das auch seine Stärke ist: diese präzise Deskriptivität. Ich bezweifle jedoch, dass Bourdieus kritisches Theorie-Instrumentarium hinreicht, um eine, um es etwas plakativ zu formulieren, Kritik der politischen Ökonomie der Kunst zu entwickeln, die auch die Frage adäquat erfasst, ob das, was derzeit in der Kunst passiert, überhaupt noch mit einem emphatischen Begriff von Ästhetik, bzw. ästhetischer Erfahrung beschreibbar ist? Hierbei geht es ja nicht darum, ob eine Künstlerin oder ein Künstler Erfolg hat. Es geht darum, ob das, was als „Kunst“ heute produziert wird, im ästhetischen Sinne „erfahrungsfähig“ ist, und ob eine mögliche ästhetische Erfahrung auch in der künstlerischen Produktion in irgendeiner Weise gestaltet wird. Mit der Gegenwartskunst hat sich nun nicht nur das, was „Kunst“ sein soll oder sein kann, ideologisch transformiert, sondern auch die damit einmal verbundene ästhetische Ideologie beziehungsweise Ideologie der Ästhetik. Bereits zu Beginn der siebziger Jahre hatte Otto Karl Werckmeister ein Ende der Ästhetik mit der Referenz auf Marcuse und Adorno konstatiert; in ähnlicher Weise problematisieren den Status von Kunst und Ästhetik dann auch schon Peter Bürger (Theorie der Avantgarde, 1974) und Heinz Paetzold (Neomarxistische Ästhetik, ebenfalls 1974).
Gerade für die Gegenwartskunst ist nämlich signifikant – was mit der Moderne durchaus schon beginnt –, dass die Kunst von der Ästhetik entkoppelt wird. Die Gegenwartskunst bezieht sich kaum noch systematisch auf die philosophische Ästhetik (höchstens sporadisch, hier und da immer mal wieder Kants Kritik der Urteilskraft etc.); und auch die Ästhetik, man denke vor allem an Adorno und seine Ästhetische Theorie, spart die Kunst ihrer Zeit aus.
Mithin: in der Gegenwartskunst geht es nicht mehr um etwa ästhetische Erfahrung, um Erkenntnis, um Wahrheit und die ganze Werkproblematik. Zwar gibt es neuere Modetheorien, zum Beispiel Jacques Rancière, wo wieder von Erfahrung, Sinnlichkeit, das Ästhetische etc. die Rede ist, aber das sind dann weitgehend um die Kritik entkernte Begrifflichkeiten. Eine emanzipatorische Perspektive, die auf radikale und reale Humanisierung der Gesellschaft zielt, gibt es hier nicht.

Inders/  Das sind im Grunde verschiedene Denkschulen, unterschiedliche Traditionen, die aber auch miteinander zusammenhängen. Ich denke aber, dass sich z. B. Rancière ganz stark auf Adorno bezieht. Der politische Möglichkeitssinn bei Rancière, der seiner Meinung nach nicht entstehen kann, wenn eine unmittelbare Identität von Fiktion und Realität behauptet wird, weil dazu eine politische Differenz gegeben sein muss, das lässt mich an Adorno denken. Politische Differenz verstehe ich hier als das, was Adorno und Horkheimer als „korrektives Korrelat“ bezüglich der mimetischen Rationalität in der Moderne bezeichnen. Ein frankokanadischer Freund, der Soziologe Alain Deneault, der vor über 12 Jahren bei Jacques Rancière über Georg Simmel promoviert hatte und damals auch in Berlin lebte, konstatierte zunehmend, dass ihm, die genau von dir genannten französischen Autoren, jetzt etwas salopp formuliert, zu deskriptiv seien. Das war bevor Jacques Rancière zunehmend im deutschen Sprachraum veröffentlicht und rezipiert wurde und eine diskursive Bühne bekam. Im Gegenzug dazu gibt es seitens der französischen Autoren ein großes Interesse an den Klassikern der Frankfurter Schule. Es ist auch interessant, dass über die von Catherine David kuratierte Documenta eben genau Jacques Rancière bekannter wurde. Die Documenta 10 muss so etwas wie ein publikationswirksamer Trigger für Rancière gewesen sein, aber das ist nur meine These. Allerdings betrachte ich im Nachhinein die Documenta 10 immer noch für die beste, sowohl was den theoretischen Überbau als auch die ausgestellten Werke anging. Aber erkläre doch mal genauer, warum du eher wenig mit Badiou, etc. anfangen kannst.
Behrens/  In einem Bogen: Was in der kritischen Theorie „Kritik“ heißt, ergibt sich nicht aus normativen Postulaten oder deskriptiven Forschungsergebnissen der Sozial- oder gar Kulturwissenschaften. Marx definierte den kategorischen Imperativ der kritischen Theorie, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (MEW Bd. 1, S. 385) Um das einzusehen und zu meinem kategorischen Imperativ zu machen, brauche ich keine Wissenschaft. Ich kann sehr wohl kritisch forschen, warum und unter welchen Bedingungen Menschen leiden; dass aber das Leiden selbst abgeschafft sein soll, folgt einem Bewusstsein, dem die kritische Theorie, wie Max Horkheimer es beiläufig gesagt hat, ein „kritisches Verhalten“ ist. Die kritische Theorie hat immer wieder in Hinblick auf die Bestimmung der Kritik von Metaphysik (Horkheimer), von Hypothesen (Herbert Marcuse), sogar vom Credo (Erich Fromm) gesprochen; die Notwendigkeit der radikalen Kritik (radikal, weil sie immer auf das Ganze zielt, nämlich auf den Menschen) ist zwar rational, aber nicht rational begründbar. Genau das verlangt aber einerseits Jürgen Habermas oder Axel Honneth als Normativität der Kritik; aber auch der Poststrukturalismus hat mit dem Diskurs-Paradigma versucht, Kritik wissenschaftlich zu begründen. Was Habermas mit der Theorie des kommunikativen Handels versuchte und Honneth mit seiner Anerkennungstheorie weiterführte, hat bei Theoretikern wie Foucault, Butler, Deleuze und eben auch Agamben, Rancière und Badiou zwar ganz andere Begrifflichkeiten erschlossen (Macht, Dispositive, „Körper“, Ereignis, das Offene, das Sinnliche etc.) und ist in die intellektuell interessanteren und etwas weniger starren Bereiche der Kunst und des Künstlerischen verschoben worden, aber auch hier führte die Integration der Kritik in die Theorie eben nicht zur kritischen Theorie, sondern zur Depotenzierung der Kritik.
Mir scheint es mithin, dass sich diese Depotenzierung der Kritik in die Kunst hinein verlängert. Auch deshalb habe ich Schwierigkeiten, Kunst – also Gegenwartskunst – mit „Emanzipation“ zusammenzubringen. Das heißt nun nicht, dass Kunst nicht emanzipatorisch sein sollte oder kann. Es bleibt aber die Frage, was beziehungsweise inwiefern Kunst emanzipatorisch sein soll oder kann. Kunst, bei der postuliert wird, dass sie als ästhetisches Ereignis emanzipatorisch ist – wie gerne für die opulenten Arbeiten Eliassons behauptet –, so affirmativer und antiemanzipatorischer ist sie dann oft auch. Dass hingegen das Emanzipatorische in der Produktion verortet wird, berührt ja zum Beispiel auch die Frage des Geschlechts; das scheit mir auch bei den Arbeiten Bonins relevant zu sein. Aber auch hier bleibt die Frage, auf welcher Ebene Kunst und Emanzipation verbunden sind …

Inders/  … und da setzt auch eure Kritik am derzeitigen Hype der politischen Kunst an, die sich nur als reine Repräsentation mit moralischer Tünche ohne Wirkung darstellt …
Behrens/  … eine Schein-Wirkung, oder schlichtweg Ideologie …

Inders/  … aber das Ganze kann man eben auch als verkappte bildungsbürgerliche Arroganz bezeichnen.
Behrens/  Ja, allerdings wird dabei vernachlässigt, dass man selber in dieses System involviert ist und dies auch notwendigerweise. Die entscheidende Frage bleibt auch hier, inwieweit diese Stellung innerhalb der künstlerischen Produktion reflektiert wird. Das wäre dann auch eine Perspektive, die sich mit Bourdieu fassen lässt: Wenn man die gesellschaftliche Funktion oder die Rolle des Geschmacks in der zeitgenössischen Kunst untersucht, darf eben nicht vernachlässigt werden, die eigene Stellung und Bedingtheit in diesem System zu befragen. Das macht übrigens Ulf Wuggenig, ein Kenner und Verteidiger von Bourdieu. Er untersuchte die Problematik innerhalb der Kunst, dass nur ein paar Stars werden, aber andere in schlechten Lebensumständen leben usw., etwa anhand der Geschlechterverhältnisse. Heute scheint es, als wäre man in Gender-Angelegenheiten aufmerksamer, auch und gerade im Kunstbetrieb. Aber wenn man sich ansieht, wie viele Frauen auf den großen Biennalen vertreten sind, wie viele Frauen Kunstgeschichtsprofessuren im Vergleich zu Männern innehaben, zeigt sich schnell, dass sich an der grundsätzlichen Situation kaum etwas geändert hat, Frauen, zumal nichteuropäische, nichtweiße Frauen immer noch ausgegrenzt werden. Die „Kritik“ von Gender etc. hat hier eine beruhigende Funktion, kaschiert mit ihrer Pseudoreflektiertheit die Missstände vielmehr, und es werden nicht nur einfach im statistischen Sinne Quotenfrauen eingesetzt, sondern auch im theoretischen Sinne.

Inders/  Bourdieu war sich seiner akademischen Position bewusst und hat diese durchaus mitreflektiert. Aber das, was du beschrieben hast, ist eben auch der Bereich, unter denen man sich Produktionsverhältnisse innerhalb der Kunst anschauen muss: Wie sieht es mit der Anerkennung von Ausbildung aus, um zu erkennen, dass immer noch sexistische Mechanismen greifen und noch perfider, ein so genannter verschleierter Backlash.
Übrigens was wäre Meese ohne seine Mutter Brigitte? Rhetorische Frage, er gibt es ja selber zu, dass er wahrscheinlich in der Psychiatrie landen würde. Wobei ich Meese niemals chauvinistisches misogynes Verhalten unterstellen würde, im Gegenteil. Man könnte ihm ja auch zugute halten, dass er die „starke Frau“ hinter sich, seine Mutter, komplett öffentlich macht. Meese ist für mich ein Phänomen innerhalb der Gegenwartskunst, er verkörpert sie durch und durch. Künstlerisch ist er eine liebenswerte Totalkatastrophe. Ich meine auch dafür ist die Kunst ein Ort, ein utopischer Ort, wenn man so will. Meese hat in der Kunst sein Betätigungsfeld, sein ultimatives Therapeutikum gefunden. Die Kunstwelt freut sich und alle möglichen Kunsthistoriker beißen sich an Meese die Zähne aus und er kann sich freuen, dass er damit soviel Geld verdienen kann. Seine eigene Persönlichkeit ist ihm da wieder dienlich. Allerdings ist mir sehr wohl klar, dass diese Beliebigkeit, die arrogante Selbstbezüglichkeit vieler Künstler, jeglichen wirklich künstlerischen Anspruch verwässern oder zunichte machen kann. Diese Gefahr droht immer und ist wohl auch bezeichnend für die Gegenwartskunst. Vielleicht ist es auch so, dass Meese, wenn er denn soviel Selbstreflektiertheit besitzt, sein eigenes Meese-Totalerzbaby-System instrumentalisiert und in den eigenen Dienst stellt, sein eigener Soldat der Kunst ist, Herr und Diener in einem, wie er das ja immer einfordert, und wir gehen ihm laut lachend auf den Leim.
Was mich aber auf der Metaebene mitunter ärgert, um auf deine vorab genannten Worte zurückzukommen, ist die Tatsache, dass genau die von dir genannten kritischen Untersuchungsmöglichkeiten auf dem Feld der Kunst seit langem von der feministischen Theorie moniert werden; im Übrigen sind dies ja auch hauptsächlich weibliche Theoretikerinnen. Das ist nicht unwichtig und jetzt wird das zunehmend von immer mehr männlichen Akademikern entdeckt und propagiert.
Ist das schon wieder so eine Usurpation seitens männlicher Akademiker? Wird dies jetzt im korporativen Kapitalismus endlich mal deutlich, fliegt der ganze Schwindel der geschlechterpolitischen Verlogenheit, die ja maßgeblich den Kapitalismus stützt und immer noch abfedert, auf? Ist das nur ein Burgfrieden, oder eine Art Übersprungshandlung? Oder ist es auch so, dass diese Fragestellungen erst eine öffentlichkeitswirksame Relevanz erzielen können, wenn sie durch männliche Akademiker autorisiert werden?
Bemerkenswerterweise bekommen ja Künstler, ich denke da an den Theatermacher René Pollesch oder an den Musiker Dirk von Lowtzow, die ich übrigens sehr schätze, eine unbedingt positiv gesinnte Aufmerksamkeit, wenn sie auf einmal in der Lage sind, feministische Autoren wie Donna Haraway, Judith Butler, Hélène Cixous, etc. zu zitieren. Da würde ich zu gerne mal nachhaken. Auf einmal ist von Körperdiskursen die Rede, zwar verspotten die ja selber die eigene Männlichkeit und drehen diese durch den geschlechterpolitischen Diskurswolf, aber vielleicht sollte man auch misstrauisch sein und fragen, ob sich dieser Diskurs und damit verbunden das role model des effeminierten Mannes nur angeeignet wird, um den eigenen Öffentlichkeitswert zu steigern? Das wäre dann auch der Beweis für das, was du eben kritisch als Pseudoreflektiertheit monierst, sozusagen potenziert.
Behrens/  Kerstin Stakemeier geht an diesem Punkt noch weiter und konstatiert, dass die Kunst keinen gesellschaftlich-ökonomischen Sonderbereich darstellt, sondern, dass hier genauso allgemeine gesellschaftliche Produktionsverhältnisse herrschen, verbunden mit der Fragestellung, was dazu alles gehört: Was für Leute arbeiten für Eliasson, welche Leute führen Aufsichten in Kunstausstellungen und so weiter? Kunst als Produktionssegment weitet sich immer mehr aus, besonders in Bezug auf das Verhältnis von Qualifizierung und Entqualifizierung von Ausbildung. Dieses Moment diversifiziert sich noch weiter und zwar in zwei Richtungen, die aber miteinander verklammert sind: Was heißt es überhaupt innerhalb kapitalistischer Produktionsbedingungen zu produzieren, also Dinge in einer Waren produzierenden Gesellschaft herzustellen und gleichzeitig mit diesen umzugehen? Und wie lässt sich unter diesen Bedingungen Kunst produzieren, die auch nur eine Ware ist, die allerdings längst nicht kraft des Ästhetischen Autonomie beanspruchen kann? Auch hier bleibt zu diskutieren, in welcher Form sich „politische Kunst“ überhaupt realisieren lässt.
Noch immer gehen viele Künstler davon aus und noch immer wird das Bild reproduziert, dass das, was Künstler machen nicht einfach nur genial, sondern auch ein Moment von nicht entfremdeter Arbeit sei, und das soll quasi die Vorlage für ein anderes Weltverhältnis sein, das man sich außerhalb des Kunstbetriebs nicht leisten kann. Ich stimme in diesem Punkt mit Kerstin sehr überein, dass gerade dieses Ideologem künstlerischer Produktion aufgesprengt werden muss. Dass Kunst das Reservat für nicht entfremdete Arbeit sei, ist eine Illusion – und zwar eine schäbige und mitunter auch entwürdigende Illusion.

Inders/  Und dahinter versteckt sich ja auch wieder ein bürgerliches Verständnis von Kunst, samt seinem Wahrheitsanspruch, dem Geniekult, usw., was man als bildungsbürgerliche Verbrämung bezeichnen kann. Aber es geht um etwas ganz anderes, und das Problem schreibt sich so immer weiter fort und ist damit kein neues Thema.
Behrens/  Es ist ja gerade heute sehr leicht, die Kunst mit Versatzstücken, Begriffsetiketten und Parolen bildungsbürgerlicher Ideologie zum Beispiel als „genial“ aufzuwerten, weil es gar kein Bildungsbürgertum mehr gibt, das das korrigieren könnte oder müsste. Aber gerade der Kunst immer wieder zu attestieren, dass sie der Ort der Kreativität sei, ist absurd.

Inders/  In unserem ersten Teil des Interviews hast du gesagt, dass der sozial Disqualifizierte der eigentliche Prototyp des kreativen Arbeiters sei und nicht der Künstler? Da würde ich dich bitten, das noch mal genauer zu erklären.
Behrens/  Das sind drei Schritte. Es gibt die Rede vom Prekariat, die interessanterweise im Kontext kulturell-künstlerischer Produktionsverhältnisse, im akademischen Milieu und auch im Creative industries-Milieu auftaucht. Sich in seinem Arbeitsverhältnis als prekärer Kulturarbeiter zu bezeichnen, deutet ja zunächst auf einen Statusverlust hin, der nicht nur mit finanziellen Einbußen zu tun hat, sondern auch mit der sozialen Stellung. Was hierbei allerdings als „prekär“ oder „Prekarisierung“ bezeichnet wird, betrifft nicht nur Kulturproduzenten, sondern ist grundlegend für Lohnarbeitsverhältnisse an sich; einfach gesagt: Lohnarbeit ist immer prekäre Arbeit. Gegen die klassische Industriearbeit hat sich aber vor allem in der Kulturarbeit die Illusion durchgesetzt, dass jeder seines Glückes Schmied sei …

Inders/  … frei nach dem Motto, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg …
Behrens/  … Genau, allerdings erweist sich dieser Weg immer mehr als Sackgasse, nämlich gerade unter den Bedingungen einer „Industrialisierung“ der Kulturarbeit und Kunstproduktion. Gleichwohl gehört zu den Produktionsverhältnissen der Creative industries die Ideologie der Prekarität, dass es nicht schlimm sei, wenn man ein paar Jahre eine Durststrecke durchmacht – irgendwann wird der Erfolg schon kommen. Dahinter stecken Ideen von Mischkalkulationen: Mache erst einmal ein bisschen Kunst für dich und arbeite ruhig nebenher in der Kneipe, aber lass dich oft genug auf Ausstellungen blicken – das wird schon irgendjemand mitbekommen, und dann kommt das große Spektakel! Freilich funktioniert das bei einigen, zufällig. Hier setzt sich die Vorstellung weiterhin fort, dass die Kunst nach wie vor ein Bereich sei, der von der Restökonomie ausgeschlossen wäre. Dazu gehört auch die Chimäre vom „bösen“ Kunstmarkt und seinen rein finanziellen Interessen: Sammler fallen über die Kunst her und machen sie kaputt. Diese verkürzte Kritik verkennt, welches ideologische und ökonomische Verhältnis die Kunst schon im Kapitalismus hatte. Bemerkenswert ist auch, dass sich gerade im Bereich der bildenden Kunst die Idee der Prekarität viel stärker durchsetzt als z. B. in Bereichen kultureller Produktion, in denen länger schon industriell gearbeitet wird: Künstler, aber auch Journalisten, Autoren und Musiker sprechen viel häufiger von Prekarität als zum Beispiel die Angestellten in der Filmbranche.

Inders/  Das heißt, dass sich bestimmte Personen, die in der Kulturbranche arbeiten, noch mehr  als andere belügen, weil sie ihre problematischen Verhältnisse nicht offen legen …
Behrens/  ... und weil es kaum ein Bewusstsein davon gibt, die eigene gesellschaftliche Position in Hinblick auf die Produktionsverhältnisse zu reflektieren. Es gehört ja auch zur Gegenwartskunst als Industrie das Ausbildungsversprechen, dass jeder irgendwie auch mit seiner Kunst reüssieren kann. Die drohende Prekarität, dass die Kunst eben eine brotlose Kunst ist, bezeichnet allerdings eine Normalität. Mir scheint dies aber mit Prekarität falsch beschrieben zu sein; eher ist es eine Mischung aus Proletarisierung und …

Inders/  … Selbstverblendung …
Behrens/  … ja, Selbstverblendung als Form einer hypostasierten Selbstverbürgerlichung – ohne allerdings auf ein reales Bürgertum rekurrieren zu können. Leo Kofler hat in den achtziger Jahren im Zuge der Selbststilisierung und Yuppiesierung den Begriff des Proletarischen Bürgers eingeführt und es scheint mir, dass dieser Begriff den Prozess der Prekarisierung genauer fasst.

Inders/
  Stichwort: Gegenwartskunst als Popkultur, wobei man ja gleichzeitig auch von einer Refeudalisierung der Kunst reden kann, das steht ja daneben. Willst du darauf noch mal eingehen?
Behrens/  Die Popkultur ist von Anfang an belebt mit vorbürgerlichen Figuren, der Popstar ist King of Rock ’n’ Roll, Disco-Queen, Prince etc. Solche, wie Du es nennst, Refeudalisierungstendenzen gibt es bereits seit den fünfziger Jahren, überhaupt ist die Moderne schon immer mit ihrem Gegenteil, dem Archaischen, dem Mythos, der Antike durchwachsen. Insofern verwundert es nicht, nun auch in der Kunst auf eine Refeudalisierung zu stoßen.
Ich stimme mit Kerstin auch darin überein, die Gegenwartskunst nicht als gesonderte Kunstsphäre zu verorten, sondern sie als Teil der allgemeinen Popkultur zu begreifen. Popkultur ist eine Fortsetzung der Kulturindustrie, die sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt: Das Studio-System, die Standardisierung, überhaupt die industrielle Produktion der Kultur als ordinary way of life gehören dazu; Kultur wird als Ware produziert, wird kommodifiziert. Die Kunst büßt ihre ästhetische Autonomie ein, wird als angewandte Kunst, als Design ebenfalls zur Ware – ohne dass das für die Kunst und ihren gesellschaftlichen Status problematisch wäre, im Gegenteil: Am Beispiel von Bauhaus oder den Surrealisten lässt sich zeigen, dass die Kommodifizierung der Kunst mit der Wiedergewinnung gesellschaftlicher Relevanz der Kunst verbunden war.
Mit der in den fünfziger Jahren sich formierenden Popkultur wird diese Logik der Kulturindustrie weiter getrieben: Kultur ist jetzt nicht nur Ware, sondern die Waren selbst werden zur Kultur. Das gilt auch für die Gegenwartskunst, sofern sie ein Teil der Popkultur ist. Dazu gehört dann auch, dass die Gegenwartskunst – scheinbar – ihren Warencharakter, ihre Gebundenheit an den Markt, überhaupt den Kapitalismus thematisiert und auch problematisiert. Das ist aber eben nur scheinbar so; tatsächlich bleiben die Produktionsverhältnisse und die Strukturen, die die Ware zur Ware machen, unberührt.
Auch ein Picasso ist eine Ware; aber das, was den Picasso ausmacht, bleibt davon relativ unberührt; anders bei einem Objekt von Damien Hirst: hier gehört der Warencharakter, den man glaubt etwa in den bei den Auktionen erzielten Verkaufspreisen anschaulich zu haben, zu dem, was dieses Objekt als Kunst ausmacht,  mit dazu.

Inders/  Also sollte man künstlerische Produktionsbedingungen, nicht nur im Sinne von, was macht da Künstler X gerade in seinem Atelier, fassen, sondern im Hinblick auf die Verkehrung dieser Verhältnisse: Die Produktion rutscht sozusagen immer mit in die Kunst hinein und sollte daher auch transparent werden, konkret würde das am Beispiel eines Museumsbesuches bedeuten, dass der Ausstellungsbesucher zumindest über die Entlohnung des Museumswärters (Ein-Euro Jobber) oder über die unbezahlte Praktikantin, die die gesamte Ausstellungshängung organisiert hat, informiert wird …
Behrens/  Das kann man bis zu den Leuten runterdeklinieren, die im Museum dann saubermachen; auch die Putzkolonne ist ein Glied – und längst nicht das letzte – in der Produktionskette der Gegenwartskunstindustrie …

Inders/  … dann folgt auch daraus letztendlich euer Fazit, dass sich Künstler als Produzenten verstehen müssen?
Behrens/  Genau!

Inders/  Das wäre dann die Konsequenz. Aber wenn dann Creischer sagt, dass sie nicht als mittelständische Kunstunternehmerin enden möchte, würde ich ihr ja keine politische Romantik unterstellen, sondern kann diese Verweigerung gut nachvollziehen.
Behrens/  Das ist dann die Frage, ob das Eingeständnis, sich als Kunstunternehmer zu verstehen oder diese Rolle selbstkritisch mitzuflektieren, nicht schon die ideologische Falle ist.
Das ist aber auch die Frage, an wen dieses Eingeständnis adressiert ist: Geht es um eine Selbstverortung innerhalb der kunstbetrieblichen Landschaft mit den Museen, Galerien, Ausstellungen, Stipendien, Preisen etc. oder geht es um die konkreten Produktionsbedingungen (wie finanziere ich mich unter welchen Bedingungen, wie viel sexistisches Arschlochverhalten lasse ich über mich ergehen, wo kann ich mich wie organisieren etc.)? Das führt uns, meine ich, auf unsere Ausgangsfrage zurück, wie es um das emanzipatorische Potenzial der Kunst bestellt ist. Verschränkt ist das auch wieder mit der Ideologie künstlerischer Produktion, die Imaginationen kreativer, nicht entfremdeter Arbeit.
Hierbei geht es allerdings nicht nur um einen eingeschränkten Bereich der „Kunst“, sondern letztendlich um die Totalität kapitalistischer Produktion. In der heutigen Gesellschaft sind ja Formen der „künstlerischen“ Tätigkeit längst auch jenseits des Kunstbetriebs absorbiert, etwa durch die Popkulturindustrie, die heute Creative industries heißt. Konterkariert wird das mithin durch eine Entqualifizierung „künstlerischer“ Tätigkeit beziehungsweise überhaupt der Berufe der Creative industries. Das ist eine allgemein aktuelle Tendenz des Kapitalismus, die eben auch die Gegenwartskunst als Industrie erfasst: dass Tätigkeiten ent- und dequalifiziert werden. Kreativität wird banal. Allerdings produziert die Gegenwartskunst selbst die nötige Ideologie, diese Banalitäten aufzuwerten. Jonathan Meese ist hier ein gutes Beispiel: dessen armselige Pseudoprovokationen werden dankbar von weiten Teilen des Feuilletons als „genial“, „witzig“, „queer“, „subversiv“ goutiert.
Also: wenn es stimmt, dass eine Entqualifizierung der Produktion und der allgemeinen Praxis zum Kapitalismus dazugehört, dann muss das genauso für die Kunst gelten. Ich halte das für einen wichtigen Punkt gerade angesichts derzeitiger Umstrukturierungen des Bildungs- und Ausbildungssystems: Wenn gerade nach Bologna in Universitäten und Kunsthochschulen so getan wird, als würden sie Orte qualitätsvermittelnder Exzellenz sein – was meinethalben einzelne Institute und Fakultäten auch zurecht behaupten –, dann wäre zu reflektieren, was heute grundsätzlich an „Wissen“, „Wissenschaft“, „Lerninhalt“ etc. in Bildungs- und Ausbildungsprogramme eingeht. Dass die berufliche Qualifikation tatsächlich qualifiziert, ist ein Irrglaube – auch in der Kunst. Und auch das wäre in die Kritik der Gegenwartskunst als Industrie mit aufzunehmen: dass sich gerade in ihrer heutigen gesellschaftlichen Funktion zeigt, dass durchaus – um eine gewichtige These zum Schluss hervorzuholen – das alte Hegelsche Postulat vom Ende der Kunst sich wieder als aktuell erweisen könnte; und das hat auch Konsequenzen für die Frage nach den Möglichkeiten emanzipatorischer, „politischer“ Kunst heute.
René Pollesch „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“, Volksbühne Berlin, 2012 (© )
René Pollesch „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“, Volksbühne Berlin, 2012 (© )
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