Henri Chopin

Supportico Lopez

2010:Feb // Fiona McGovern

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02-2010
















Henri Chopin (1922–2008), der in Berlin zuletzt beim Poesiefestival 2003 mit noch vollem körperlichem Einsatz der von ihm unter dem Stichwort ‚poésie sonore‘ geprägten, elektrisch verstärkten Geräuschkompositionen auftrat, ist zu Lebzeiten überwiegend einem überschaubaren Publikum bekannt geblieben. Doch gerade sein interdisziplinärer Ansatz und seine Tätigkeit als Publizist und Herausgeber der zeitweise europaweit einzigen Zeitschrift im Bereich der audiovisuellen Poesie OU/Cinquième Saison (1958–1974) machte ihn zu einer in Künstlerkreisen wichtigen und für folgende Generationen einflussreichen Figur. Berechtigterweise hat sein Oeuvre nach seinem Tod vor zwei Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen und wird wieder vermehrt im Kunstkontext gezeigt. Dabei dominierte in den letzten Jahren durch die von Tris Vonna-Michell (mit)kuratierten Ausstellungen in London und Paris neben viel Archivmaterial eine dezidiert künstlerische Perspektive auf Chopins Oeuvre, bei der der Fokus vor allem auf seinen britischen und französischen Wurzeln lag. Die Ausstellung in der aus einem Neapolitanischen Kuratorenprojekt hervorgegangenen Kreuzberger Galerie Supportico Lopez versucht nun mit dem Schwerpunkt auf Chopins Zeit in Neapel einen Blickwechsel im aktuellen Diskurs seiner Arbeiten. Die enge und sehr produktive, von den 1980er Jahren bis zu seinem Tod andauernde Zusammenarbeit mit dem Napolitaner Galeristen und späterem Sammler Peppe Morra führte neben einer Reihe von Ausstellungen und Performances auch zu Publikationen bisher unveröffentlichter Texte, Gedichte und Illustrationen. Dabei bildet den Schwerpunkt der Berliner Ausstellung eine Vielzahl der in dieser Zeit entstandenen Schreibmaschinengedichte aus den Beständen der 1992 gegründeten und privat geleiteten Fondazione Morra, die sich der Förderung visueller Kommunikationskulturen verschrieben hat. Die signierten Einzelblätter zeigen verschieden farbige, von einem narrativen Anspruch losgelöste geometrische Buchstaben- und Zahlenformationen, aus denen plastische Effekte, optische Spielereien und architektonische Formen hervorgehen. So wird auf jedem Blatt aufs Neue durch Schichtungen, Variationen und Richtungswechsel das Verhältnis von Chaos und Ordnung ausgelotet und in ein spannungsreiches Gefüge gebracht. Durch die Drehungen des Papiers während des Entstehungsprozesses ist den Gedichten ein Bewegungsmoment inhärent und die Abdrücke der Schreibmaschinenanschläge im Papier vermitteln eine Präzision und Unmittelbarkeit, die durch die unprätentiöse, lose Aufstellung der einzelnen Blätter auf Holzleisten und ohne Schutzglas noch verstärkt wird. Dabei eröffnet sich bei genauerem Hinsehen hinter dem rein visuellen, teils collageartigen Erscheinungsbild der Gedichte eine mehrschichtige und oftmals tautologische Anlage. Das ‚alphabet classique‘ etwa besteht aus den 26 jeweils übereinandergeschichteten Buchstaben des Alphabets, während das Blatt mit der Unterzeile „NAPOLI pour Morra“ nur aus den Worten „Morra“ zusammengesetzt ist. Neben dem reflexiven Umgang mit dem Verhältnis von Wort und Bild bzw. Inhalt und Form sind Verweise auf literarische Texte, wie im Blatt zu George Orwells 1984 wiederholt Gegenstand der einzelnen Blätter. In Blättern wie „Carpet for the Queen Juin 1991“ oder der aus grünen Buchstaben zusammengesetzten Darstellung einer Papstmütze vermischen sich humorvolle Anspielungen mit gesellschaftskritischen Kommentaren.

Ergänzend zu den Gedichten liegen auf zwei Tischen die von Morra herausgegebenen Editionen Chopins aus, begleitet von Auszügen ihrer teils handgeschriebenen Briefwechsel. Fotografien von Chopins Performances und eine beidseitig mit Schreibmaschinengedichten bedruckte Schallplattenedition „Les Mirifiques Tundras & Compagnie“ mit Aufnahmen von drei Audiogedichten aus den Jahren 1972 bis 1995 vervollständigen die Auswahl der Exponate. Es ist eine persönliche Ausstellung, die vor allem versucht, die Bandbreite von Chopins Schaffens zu verdeutlichen und damit ein vielschichtiges Porträt des Künstlers zu gestalten, in dem Texte, Gestik, visuelle Poesie und Soundkunst gleichberechtigt ihren Platz finden. So wirkt sie wie der etwas geisterhafte Versuch, ihn hier im Kreuzberger Kellerraum noch einmal in Gänze aufleben zu lassen. Bleibt zu wünschen, dass er es in Berlin auch ohne künstlerische Beihilfe erneut aus den Katakomben an die Oberfläche schafft.


Henri Chopin
Supportico Lopez
Graefestraße 9
04.12.2009 – 23.01.2010
Henri Chopin „Pologne Libre“, 1982 (© Courtesy Supportico Lopez, Berlin und Fondazione Morra, Napoli)
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