Ranglisten / Artfacts

2010:Feb // Andreas Koch

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02-2010
















Rankings oder Ranglisten gab es bestimmt schon in der Steinzeit. Wer erlegt das größte Mammut, wer wirft den Speer am weitesten, wer kann am besten die Höhlen bemalen? Mangels besserer Methoden beschränkte sich die Übermittlung dieser Leistungen auf das Mündliche. Heute ist man da weiter, spätestens seit dem Internet kann man jede mögliche Leistung googeln und vergleichen.

Die Kunst tat sich anfangs schwer mit dem World Wide Web, in den Neunzigern und spätestens mit dem Platzen der Dot-Com-Blase Anfang 2000 gingen etliche Start-ups, die versuchten die Kunstwelt miteinander zu vernetzen, wieder ein. Im klassischen Kunstmarkt und Galeriehandel konnte man sich damals nicht vorstellen, dass sich etwaige Interessierte über die bloße Vernissageninfo hinaus des Internets bedienen würden, schon gar nicht, dass Kaufentscheidungen nach der Ansicht eines wenige Pixel großen Bildes gefällt würden. Das ist mittlerweile anders. Heute bevölkern einige Dienstleister den virtuellen Kunstraum, vorneweg Artnet, mit umfangreichen Informationen zu Preisentwicklungen in Galerien und auf Auktionen, einer eigenen Auktionsplattform und einem unabhängigen Internetkunstmagazin, das kritisch und auf qualitativ hohem Niveau Ausstellungen bespricht und Märkte beobachtet – auch unter der Gefahr, dass nach einer schlechten Besprechung ein gut zahlender Abonnent kündigen könnte. Artnet gibt es in Abwandlung schon seit Ende der achziger Jahre, der Fokus lag immer auf der Dokumentation der Preise von Kunstwerken.

Artfacts hingegen kam gut zehn Jahre später auf die Bildschirme der mittlerweile deutlich weiter verbreiteten Computer mit Internetzugang. Ursprünglich vom Bundesverband der Galerien zusammen mit der Telekom initiiert und von Marek Claassen betrieben, fokussierte Artfacts auf das Sammeln und Sichtbarmachen von Ausstellungsdaten. Wer, wann, wo, mit wem, lautet bis heute die simple Formel und es entstand eine Art Metasammlung von Einladungskarten, ein riesiges Archiv in dem mittlerweile über 230 000 Ausstellungen aus der ganzen Welt aufgeführt sind. Abonnenten können ihr eigenes Programm umfangreicher ins Netz stellen oder tiefer in die Statistiken eintauchen, aber auch Künstler können Artfacts via Mail über ihre Ausstellungen informieren. Sofern sie denn wollen.

Denn die Homepage bastelt aus den ganzen Informationen – täglich werden momentan von Teleheimarbeitern um die 300 Ausstellungen erfasst – eine Rangliste. Die Rechner von Artfacts, die den Datenberg nach bestimmten Kriterien und mit einfachen Formeln ständig neu sichten, spucken einmal die Woche eine 80 000 Künstler umfassende Liste aus. Beginnend bei Andy Warhol und zur Zeit endend bei Emily Stedman. Als „normaler“ Künstler befindet man sich irgendwo dazwischen. Für jede Ausstellung, die man macht gibt es Punkte, für eine Einzelausstellung mehr als für eine Gruppenausstellung, für eine Gruppenausstellung in einer Galerie in Pusemuckel weniger als für eine in einer Institution in Berlin. Eine Galeriegruppenausstellung bringt mit steigender Anzahl der Beteiligten weniger Punkte, da diese als Resteverwertung eingestuft werden, während die Wertigkeit einer Institutionsausstellung oder einer Biennale mit der Zahl der Künstler steigt. Ausstellungsorte werden intern von Artfacts nach eigenen Maßstäben gerankt, ganz oben sind meist amerikanische Museen.

Der Aufbau der Liste folgt demnach Kriterien, die unabhängig von Auktions- und Galeriepreisen, die Aktivität der Künstler im Ausstellungsbetrieb bewerten. Ein hochpreisiger Auktionskünstler wie Anselm Reyle, dessen erste Retrospektive im schwäbischen Tübingen stattfand, ist weit hinter einer Künstlerin wie Natasha Sadr Haghighian platziert, die eine rege Biennaleteilnahme aufweisen kann, aber einen Bruchteil verdient. Andererseits sind Künstler die beflissen auf ihren Platz schauen und darauf achten, dass jede ihrer noch so kleinen Ausstellungsteilnahmen bei Artfacts gelistet ist, natürlich ebenfalls höher bewertet. Die Künstler auf den ersten 1000 Plätze sind in ihrer Ausstellungstätigkeit noch relativ exakt erfasst, danach werden die Lücken größer. Zwischen den Plätzen 5000 und 60 000 sind die Auswertungen des Rankings eher zufällig und die Schwankungen enorm.

Die in Berlin allein durch die schiere Anzahl von 566 teilnehmenden Künstlern Aufsehen erregende von Karin Sander kuratierte Ausstellung „Zeigen – eine Audiotour“ in der Temporären Kunsthalle, erzeugte im Ranking so etwas wie einen kurzfristigen Massenschluckauf. Dies wurde von vielen Künstlern bemerkt und zeigt, dass nicht wenige auf ihren Ranglistenplatz schielen. Je mehr das tun, desto höher wird die Relevanz und man könnte sich als Künstler in naher Zukunft dazu gezwungen sehen, alle seine Informationen zu schicken, um nicht schlechter dazustehen, als man könnte. Eine Logik, die gerade in vielen Bereichen des Web 2.0 greift: Brauche ich eine Facebook-Seite, wenn alle eine haben? Wie viele Followers kann ich bei Twitter sammeln? Muss ich irgendwann meine Videoarbeiten bei Youtube sichtbar machen?

Bei der Kunsthallenausstellung gab es für einen um Platz 15 000 angesiedelten Künstler einen Riesensatz um 5 000 Plätze auf Platz 10 000, von 25 000 stieg man auf 15 000 oder von 40 auf 20 Tausend. Die Ausstellung bedeutete für nicht wenige eine Verdopplung ihrer bis dahin mühevoll gesammelten Punkte, zwei Minuten Audiofile waren genauso viel Wert wie zehn Jahre Gruppen- und Einzelausstellungen.

Marek Claassen, der Artfacts nach dem Ausstieg der Telekom seit 2001 als Geschäftsführer alleine betreibt, fiel diese plötzliche massenhafte Verschiebung nach oben auch auf. Im letzten Kunstmarktkompass von Capital, in dem er regelmäßig die Top Hundert, aber auch die Aufsteiger des Jahres veröffentlicht, stellte der größte Jahressprung noch 7000 Plätze dar und den hätten jetzt gleich einige hundert Künstler gemacht. Da man Systemfehler auch beheben kann, indem man die Ursache verändert, schaute er sich die Ausstellung persönlich an und definierte sie – manche kritische Lesarten folgen ihm da – von einer Gruppen- zu einer Einzelausstellung um. Schwupps waren die für diese Ausstellung vergebenen Punkte aller Teilnehmer wieder weg und man fand sich auf seinem Ursprungsplatz wieder. Dass dies auf Betreiben der Künstlerkuratorin geschah, ist also nur ein Gerücht. Interessant daran ist, wieviel böses Blut diese Artfacts-Affaire entfachen konnte, und wie stark eine Art von Quartettspielermentalität den Berliner Kunstbetrieb bestimmt. 300 PS sticht oder ich bin schon unter 10 000! Die Faktoren, nach denen die Liste aufgebaut ist, sind letztenendes vor allem subjektiv und Marek Claassen wird in naher Zukunft wieder an den Reglern schrauben. Hätte er die Wertigkeit der Kunsthallenausstellung halbwegs proportional zu der Anzahl der teilnehmenden Künstler reduziert, könnte jeder mit ein paar Pünktchen aus der Beteiligung zufrieden schlafen.

Die Qualität der Liste und damit auch ihre Akzeptanz könnte nicht nur mit genaueren und objektiv nachvollziehbaren Bewertungskriterien verbessert werden, sondern auch mit ihrer Vollständigkeit. Faktoren die sich gegenseitig bedingen, denn wenn sich niemand für die Liste interessiert, schickt auch niemand Informationen, die Qualität leidet und niemand interessiert sich dafür.

Die Leute von Artfacts begegnen diesem Umstand mit ihrer unermüdlichen Suche nach Ausstellungen auch bis weit in die Vergangenheit zurück. Ziel ist es, alle Ausstellungen bis zurück zum Pariser Salon des Refusées 1863 zu erfassen und dafür gehen sie bis in die Archive der Museen. Claassen schätzt die Zahl aller seither stattgefundenen Ausstellungen auf ungefähr eine Million. Dann erst, sollten sie je fertig werden, kann es passieren, dass ein René Magritte wieder über einem Douglas Gordon gelistet wird – natürlich auch nur wenn der Umstand, dass es damals viel weniger Ausstellungen gab, mit eingerechnet wird.

Rekonstruktion einer Künstlerkurve mit Ausschlag, www.artfacts.net (© the authors)
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