Erik van Lieshout

Guido W. Baudach

2010:Feb // Iris Mickein

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02-2010
















Seit dem großen Finanzkrach stehen auch in der Kunstwelt alle Zeichen auf Rückzug: Nicht nur auf dem Kunstmarkt, nicht nur in den Museen, wo die Budgets und Ausstellungsprogramme zusammengestrichen wurden, sondern auch auf künstlerischer Seite. Das war insbesondere auf der jüngsten Venedig-Biennale zu spüren. „Welten machen“ war das Motto und so offen und weitläufig dieses Konzept klingen mag, es waren vor allem private und subjektive Welten, die im italienischen Pavillon und im Arsenale zu sehen waren. Dass es auch anders geht, dass es auch offensiv geht, hat der niederländische Künstler Erik van Lieshout in seiner ersten Berliner Einzelausstellung demonstriert. „Keine Kohle, kein Holz“ war der Titel seiner gesamtkunstwerkartigen Installation, die den Zustand von Krise und allgemeiner Verunsicherung als Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Interventionsmöglichkeiten von Kunst genommen hat.

Das war nicht das erste Mal, dass Lieshout den Schock einer Krise als Motor für seinen künstlerischen Prozess genutzt hat. Genau genommen war bisher jede seiner Arbeiten eine Reaktion auf oder Konfrontation mit einer Krisensituation, sei sie privat oder öffentlich. Und dabei gab es noch kein Thema, das Lieshout zu sehr Tabu gewesen wäre. Zu seinen Hits gehören Filme über die Liebesbeziehung zu seiner Assistentin („Sex is Sentimental“, 2008) und über seinen homosexuellen Bruder, den er auf der Suche nach einem Lover durch das marokkanische Quartier von Rotterdam begleitet hat („Respect“, 2003). Weniger privat, aber nicht weniger heikel war seine Arbeit über die Rassenpolitik in Ghana, die er mittels der beschränkten Verfügbarkeit des Anti-Malariamittels Lariam offen legte – vor lokalem Publikum, in einem Rap-Song, der den Beipackzettel des Medikaments als Textgrundlage wählte („Lariam“, 2001). Lieshout hat ein Talent: Er weiß, wie er solch inhaltlich schwere Kost mit Humor und Selbstironie würzen kann. Er weiß, wie er sein Publikum zugleich schockieren und amüsieren kann. Er weiß, wie er uns zum Denken anregen kann.

„Keine Kohle, kein Holz“ bringt Lieshouts beste Eigenschaften und Qualitäten auf den Punkt und vermeidet die übermäßige Fixierung auf die eigene Person oder andere. Der Fokus der Arbeit liegt stattdessen auf dem Produktionsprozess und damit der Frage, der sich jeder Künstler allmorgendlich stellen muss: Die Frage nach der Motivation und nach dem Programm für das eigene Handeln, das dann wiederum das „wie“ des Machens bestimmt. Für Lieshout führt diese Frage zu einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ästhetik und Politik – konkret, mit den Möglichkeiten von Kunst, soziale und politische Realitäten zu reflektieren und zu beeinflussen. Auf der Suche nach einer Antwort lässt er sich von zwei Modellen der Avantgarde leiten, die grundlegend verschiedene Lösungsvorschläge formuliert haben. Das ist einerseits das Modell einer engagierten Kunst, andererseits das Modell einer utopischen Kunst. In der Beschäftigung mit den Philosophien und Bildsprachen dieser beiden Modelle entwickelt Lieshout seine ganz eigene Form- und Materialsprache und damit künstlerische Position.

Zentraler Ausgangspunkt von Lieshouts Selbstkritik ist der Dokumentarfilm „Misere au Borinage“ (1933) – ein klassisches Beispiel von engagierter Filmkunst, in dem der Niederländer Joris Ivens die elenden Lebensumstände der Bergarbeiter in der Borinage, dem bedeutendsten Steinkohlereviers Belgiens anprangert. Ivens war überzeugter Kommunist und gehörte zu den wichtigsten Vertretern der Film-Avantgarde zwischen den beiden Weltkriegen. In „Misere au Borinage“ nutzt er die krude Ästhetik des Schwarzweißfilms, um die Armut und Ausnutzung der Arbeiter darzustellen – aber auch den Kampf des Proletariats gegen diese Widrigkeiten. Lieshout nimmt Ivens’ Film als Vorlage für die Produktion eines Animationsfilms, in dem das klassenkämpferische Drama auf einer kleinen, selbst konstruierten Drehbühne nachgespielt wird.

Das Ergebnis ist weniger dramatisch als kämpferisch und gleichzeitig total grotesk, denn bei Lieshout ist die Misere das reinste Puppentheater: Holzstäbe stehen für Menschen, handelsübliche Grillbriketts für Kohle, handbeschriebene Zettel für Zwischentitel. Zum Auftakt der Handlung pinnt der Künstler eine Reihe von „Texttafeln“ an die Wand: „OK: Krise“ / „Jetzt reichtst“ [sic!] / „Jetzt ist es genug“. Dann nimmt die Geschichte ihren Lauf. Die Holzstäbe erscheinen auf der Bühne, sie treten zusammen, sie treten auseinander, sie marschieren, sie wanken, sie fallen, sie rappeln sich wieder auf, sie tragen Särge. Es ist ein beständiges Hin und Her zwischen rationalisierter Ordnung und klassenkämpferischem Chaos, zwischen tanzenden Grillbriketts und kargen Stuben mit selbst gebastelten Rietveld-Stühlen; ein widerspenstiges Puppentheater, denn immer wieder bleibt die grob gezimmerte Drehbühne stecken. Dann hört man ein Fluchen aus dem Off – „Scheiße!“ – und kann beobachten, wie sich ein dickbebrillter Kopf in den Bildausschnitt schiebt. Der Künstler sucht nach der Schwachstelle, er rüttelt an der Bühne bis es irgendwann weiter geht. Aber es dauert nicht lange und wieder geht etwas schief und wieder hört man den Künstler fluchen: „Fuck!“. Zu all dem läuft ein flotter Hip-Hop-Soundtrack.

Lieshouts Animationsfilm erzählt von nicht weniger als zwei Miseren – von der Misere der Bergarbeiter, aber auch und vor allem von der Misere eines Künstlers, der politischen Inhalt und ästhetische Form zusammenbringen will. Bewusst dilettantisch und willentlich daneben erzählt er von dem Dilemma eines Künstlers, der engagiert und politisch, aber auch abstrakt und visionär sein will – eben genau so realistisch wie ein Ivens und genau so utopisch wie ein Gerrit van Rietveld. Insofern können wir Lieshouts Referenzen an die Arbeiten von Ivens und Rietveld zugleich als Hommage und Kritik verstehen. Darum ist es auch kein Zufall, dass die selbst gebastelten Pseudo-Rietveld-Stühle und Möbel merkwürdig verzerrt und unfunktional im Raum stehen; es ist ein Hinweis auf das ultimative Scheitern von Rietvelds künstlerischer Philosophie. Als Architekt und Mitglied der De Stijl-Bewegung wollte er elementares und ideales Design gestalten, gewissermaßen Prototypen einer kommenden Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne formuliert jeder seiner Stühle ein abstraktes Haltungs- und Handlungsmodell, das der Realisierung dieser kommenden Gesellschaft verschrieben war. In Wirklichkeit konnten jedoch weder Rietveld noch die De Stijl-Bewegung reale Veränderungen bewirken, geschweige denn von oder für die breite Masse sprechen.

Schlussendlich erzählt Lieshouts Animationsfilm die Geschichte von einem aber eigentlich allen Künstlern, die sich nicht für die eine ästhetische oder die andere politische Welt entscheiden wollen, sondern in einer zerrissenen, hypothetischen Welt arbeiten, die reale Misere und utopisches Irgendwann zu vereinen sucht. Die darin enthaltene Spannung äußert sich auch im restlichen Teil der Ausstellung, die eine Montage an vorbereitenden Zeichnungen, Collagen und rekonstruierten Designobjekten zeigt. Lieshouts Ausstellung „Keine Kohle, kein Holz“ ist kein totales, harmonisches System, keine eine Welt; es ist ein gebrochenes Gesamtkunstwerk, eine durch und durch heterogene Welt, die Jacques Rancières Konzept des Politischen beschwört – als ein Widerspruch von zwei Welten, die in einer einzigen beherbergt sind.

Am Ende steht eine Ausstellung, die kein konkretes sozialkritisches Programm verfolgt – keine Rassen- oder Randgruppenkonflikte noch irgendein anderes Tabuthema – und dennoch ungemein politisch dasteht. In der Auseinandersetzung mit zwei denkbar gegensätzlichen Modellen der historischen Avantgarde entwickelt Lieshout eine Form- und Materialsprache, die den ganzen latenten Wahnsinn, aber auch die verrückte Schönheit von künstlerischer Kompromisslosigkeit realisiert.

Erik van Lieshout „Keine Kohle, kein Holz“
Galerie Guido W. Baudach
Oudenarder Straße 16–20
13347 Berlin
25.09.– 7.11. 2009

Erik van Lieshout, „Komsomol OK: Krise“, 2009 (© Foto: Roman März, Courtesy Galerie Guido W. Baudach, Berlin)
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