Die Kunst der Weltrettung

2023:November // Christoph Bannat

Startseite > 11-2023 > Die Kunst der Weltrettung

11-2023

Letztes Jahr lernten wir, was „Lumbung“ heißt, um den Überbau der documenta 15 zu verstehen. Dieses Jahr lernen wir, was „O Quilombismo“ bedeutet. Was mich stört, ist die Vermischung.
Ich hab nicht verstanden, warum Ruangrupa, das Kuratorenkollektiv der documenta fifteen, sowie die Findungskommission so dermaßen auf Kollektivierung gesetzt haben. Ich meine, es gibt in Deutschland über 600.000 Vereine, 7.000 Genossenschaften, Bands, Orchester, Theaterkollektive, Syndikate, freie Schulen etc. pp. Was also ist das künstlerische Problem? Vom Standpunkt der Weltrettung und unter Kunstgesichtspunkten aus betrachtet, wäre demnach das Individuum das Problem. Jenes Individuum, das der Ausdruckswelt seinen Zoll zahlt. Und für die der Künstler als Symbolfigur steht.
Quilombismo (https://de.wikipedia.org/wiki/Quilombo) ist die Kultur entflohener Sklaven. Beruht nicht schon das Judentum auf einer Sklavenkultur – und der Legende nach brauchte es eine Generation, 40 Jahre Wüstenerfahrung, bis zum Einzug ins gelobte Land, 40 Jahre traumatisierende, aber auch das Durchhaltevermögen trainierende Wüstenerfahrung.
Was mich stört, ist die Vermischung der Begriffe Kultur, Kunst, Kult und Ritual – nicht dass ich für ein Reinheitsgebot wäre. Begriffe, die in Jahrhunderten mühsam, unter großen Opfern und mörderischen Auseinandersetzungen auseinanderklamüsert wurden.
So bezeichnet Kultur in ihrer simpelsten Übersetzung doch nur unterschiedliche Überlebenstechniken. Techniken, die zurzeit Konjunktur haben. Dabei kann der Mensch doch nur Momente, nicht aber das Leben selbst, überleben. Überleben kann die Spezies, nicht aber der Einzelne. In ideologischen Konstruktionen wird dies auch auf die Art, die Familie, die Nation, den Staat oder die Bevölkerung übertragen.
Soll die Sklavenkultur unser(en) Leben(-sstandard?) retten? Sollen wir durch den Kulturbetrieb symbolisch gekitzelt werden? Oder uns als Entflohene fühlen und uns opferwillig mit einem Neuanfang infizieren – äh, oder identifizieren? Oder lernen, wie man im Zivildschungel der Zivilisation überlebt? Oder wie man sich neu im unbeschriebenen Grün (er-)findet?
Warum, frage ich mich, soll die Kunst kollektiviert werden? Originalität und Authentizität sind heute im europäischen Kunstbetrieb wichtiger als Handwerk und Tradition. Dabei steht Kunst symbolisch für das Individuum. Nur kann es alleine nicht überleben. Unsere Gesellschaft ist ein Produkt der Aufklärung und genauso ausdifferenziert wie die oben genannten Begriffe Kultur, Kult, Kunst und Ritual. Dabei werden die Ideale der Aufklärung, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit-Schwesterlichkeit, die der Wahrheitsfindung jenseits von Religion, Politik und Wirtschaft dienen, oft vergessen. Wir leben in einem komplexen Gesellschaftsgefüge, in einem komplizierten Gewebe, das den Einzelnen vor der Mehrheit, die Minderheit vor dem Einzelnen, die Mehrheit vor dem Einzelnen, sowie diese vor der Minderheit schützt. Aus den Idealen der Aufklärung entstand das Bild des Künstlers in Europa, der es seit Giotto di Bondone mitformte. Die Künstler bebildern die Selbstermächtigung des Einzelnen. Damit steht der Künstler für das Bild des Individuums schlechthin – in Europa. Die Freiheit der Kunst ist die des Individuums und zeugt von dessen Selbstermächtigung, Übertreibung, Anmaßung. Und wer nicht Künstler sagen möchte, sagt AutorIn. Warum also die Kollektivierung der Kunst? Einmal abgesehen davon, dass der Kunstbetrieb bereits aus vielen Kollektiven und Vereinen besteht.
Es ist richtig, dass die Aufklärung und mit ihr das (europäische) Individuum sich heute in der Krise befindet. Der erfolgreiche Export dieser Kultur wird die Welt nicht retten, wenn es darum geht, den kollektiven Selbstmord unserer Spezies zu verhindern. Der Mensch wird nur im Kollektiv, nicht als Einzelner, überleben. Das Bild des Künstlers als einst symbolischer Gradmesser für die Freiheit des Individuums unterliegt heute einem Werteverfall der Kunst und Meinungsfreiheit.
Die Feier der Freiheit der Selbstermächtigung (ohne Lobby?) erleben wir mit jedem Radiosong (was wäre das Radio ohne Musik), jeder DSDS-Sendung und am deutlichsten im Internet (was wäre das Internet ohne Bilder?), in dem jeder ein Kunstwerk aus seinem Leben machen kann.
Die Aufklärung muss sich selbst aufklären. Das ist das große europäische Abenteuer, das mit Leben gefüllt werden muss. Denn wir wissen alles über die Bedrohung, die vom Menschen und seinen kapitalistischen Produktionsbedingungen ausgeht, und wie gut diese Hand in Hand mit unserer repräsentativen Demokratie – lange auch so ein europäischer Exportschlager – einhergehen. Nur haben wir den Dreh noch nicht raus, wie wir unsere Produktionsbedingungen ändern. Wie wir damit ein Wir kon­struieren, das als Wertegemeinschaft auf den Einzelnen erleichternd und bereichernd wirkt. Gleichzeitig hat sich die Kunst demokratisiert, oder wenigstens die Techniken des Selbst. So erneuert bereits die Leistung, abstrakte Bilder als solche zu erkennen, das Versprechen, dass jeder sich ein Bild machen kann. Dass jeder etwas Besonderes, bestenfalls originell und authentisch ist. Auch das Readymade erzählt davon, nur sind es hier Gesten, Konzepte, Kulttechniken, die durch das Ritual des Ausstellens immer wieder erneuert werden.
Zurück zum nervenaufreibenden Dreiklang – den Idealen der Aufklärung, zu Gleichheit, Freiheit, Brüderlich-Schwesterlichkeit –, der nichts mit Kunst zu tun hat, aber vielfältig mit ihr zusammenhängt. So auch im Glauben, durch neue (Lebens-)Formen auch zu neuen Inhalten kommen zu können.
Wir, die AutorInnen, müssen weitermachen, der Kunst der Übertreibung folgen, zeigen, wie sich die Aufklärung von innen anfühlt. Wir müssen schonungslos ihre Einsamkeit, Freuden, Ängste und Illusionen zeigen. Das Großprojekt Aufklärung muss noch attraktiver und magischer werden. Das zeigen uns beide Kunstprojekte, documenta 15 und HKW, im Kleinen. Sie sind kein warnendes Beispiel, sondern eine Art begehbare Philosophie. Und eine Bereicherung für jene, die Lust haben, sich zu erinnern, Spaß am Denken und an der Kritik haben, die aber nicht dermaßen von solchen Politiken und Bildern regiert werden wollen.

Giotto di Bondone, Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel, 1303, Padua