Dreimal Weniger

2023:November // Andreas Schlaegel

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11-2023

Erstens: mehr ist weniger.
Veranstaltet von der AICA und der Redaktion von Texte zur Kunst war die Veranstaltung „ Besprechungsbedarf: Zur Lage der Rezension“ eine mäßig kurzweilige Veranstaltung, die versprach, viele Fragen zu stellen, aber letztlich vor unangenehmen Fragen zurückschreckte und sich in Allgemeinplätzen verlor. Ja, Kritiker sind unterbezahlt, und ja, es gibt zu wenig Platz für kritische Besprechungen. So kam der Abend weitgehend ohne Dissonanzen oder Konflikte aus, was sicher auch daran lag, dass das Publikum relativ homogen wirkte, was Herkunft und Bildungshorizont anging. Vielleicht hätte man das aufbrechen können, indem man Kollegen anderer Publikationen eingeladen hätte oder wenigstens versucht hätte, die Veranstaltung zweisprachig auszurichten.
Es begann mit der kunsthistorischen Einleitung von ­Annette Tietenberg über die Anfänge der Ausstellungsrezension am Beispiel der Réflections von Étienne La Font de Saint-Yenne, der darin den Pariser Salon von 1746 ausführlich besprach und dabei auch die Rolle des Kritikers als unabhängigem Vermittler („ohne Leidenschaft und ohne jegliches persönliches Interesse“) zum ersten Mal thematisierte. Seine Kritik veröffentlichte der Autor anonym, nicht zuletzt griff er in seinen Ausführungen nicht nur bedeutende Künstler an, sondern mit der Kunstakademie auch die mächtigste künstlerische Institution in seiner Zeit.
Unglücklicherweise spielte genau diese wesentliche Qualität der Kritik, speak truth to power, in der weiteren Folge der Veranstaltung kaum noch eine Rolle. Einen Tiefpunkt erreichte die Veranstaltung mit dem Geständnis eines Teilnehmenden, dass die Entlohnung für Kunstkritik so gering und der Aufwand dafür so groß sei, dass es keinen Sinn mache, eine „negative Kritik“ zu schreiben. Vielmehr sei die Rezension heute die Plattform, mit der man bestimmte Ausstellungen empfehlen könne. Nicht gesagt wurde, dass eine negative Bewertung in einer Kritik natürlich mehr Arbeit für die Autoren bedeutet, denn es gerät den Kritisierenden nicht zur Ehre, wenn bei der Rezension Fehler gemacht werden, einer Jubelarie werden kleine Schnitzer wohl eher vergeben.
Was sagt das über das Selbstverständnis von Kritikern aus, wenn die Ausstellungsrezension zur reinen Empfehlung dezimiert wird? Nichts Gutes, so viel ist eindeutig. Vor über zehn Jahren hatte bei einer ähnlichen Veranstaltung Frieze-Herausgeber Jörg Heiser mal dafür plädiert, das Daumen-hoch-Symbol von Facebook als Nukleus der Kritik zu betrachten. Im Roten Salon folgt ihm die ganze Diskussionsrunde, und Heiser ist längst nicht mehr bei Frieze, sondern in die Lehre gewechselt. Adieu, Kritik!
(Siehe auch Text von Andreas Koch Link)


Zweitens: mehr ist mehr.
PG Berlin ist ein unscheinbarer kleiner Raum in der Uhland-Fasanen-Passage und nicht unbedingt für herausragende Ausstellungen von Gegenwartskunst bekannt. Wer sich hierher verirrte und im September etwas Zeit mitbrachte, konnte hier Wie die „Statue“ entstanden ist entdecken, so der Titel der Ausstellung und der zentralen Arbeit der Berliner Künstlerin Mio Okido. Auf zwei gegenüberliegenden Großleinwänden sah man einmal den Kopf der Statue, einmal die Hände der Gesprächspartnerinnen, mit denen die Künstlerin über die Statue im Titel sprach. Die gesprochenen Worte, die Emotionen, die sich in den Gesichtern ablesen lassen, dem gegenüber die aktiven Hände, die in Gesten auf das Tun verweisen, entwickeln einen eindringlichen Dialog.
Aber welche Statue? Und warum die Anführungszeichen?
Weil es hier nur vordergründig um eine tatsächliche Statue geht, und zwar um die Friedensstatue in Berlin-Moabit, die an die jungen Frauen erinnert, die im zweiten Weltkrieg in japanischen Kriegsbordellen zur Prostitution gezwungen wurden und damit gleichermaßen als Mahnmal gegen sexualisierte Gewalt und für Frieden verstanden werden soll.
Die Aufstellung des Denkmals, initiiert von der AG Trostfrauen (so die euphemistische Bezeichnung für diese Zwangsprostituierten des Korea Verbandes, eine in Deutschland ansässige, politisch unabhängige Informations- und Kooperationsplattform für alle, die sich für das Leben auf der koreanischen Halbinsel interessieren) war nicht frei von Konflikten. Mehr dazu auf der Website www.trostfrauen.de. Die Nichtanerkennung der sexuellen Gewalt durch die japanische Regierung belastet auch heute noch die Beziehung von Japan und Korea. Das wurde deutlich, als niemand geringeres als der japanische Außenminister beim deutschen Außenminister vorstellig wurde, um die Statue entfernen zu lassen. Tatsächlich zog das Bezirksamt die Genehmigung zurück, nach einem Eilantrag wurde dies wieder widerrufen, aktuell darf die Statue bis nächstes Jahr stehen bleiben.
Die Geschichte der Trostfrauen, oder der Statue selbst, nimmt nur einen kleinen Teil dessen ein, von dem, was die Frauen in Mio Okidos Video erzählen. Indem die Künstlerin ihren Gesprächspartnerinnen Raum gibt, ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Erlebnisse in Bezug zu diesem Themenkomplex zu erläutern, ergibt sich ein Generationen und Kulturen übergreifendes Panorama, das von sexualisierter Gewalt, Rassismus und Misogynie berichtet, aber auch von den Möglichkeiten, dies zu thematisieren und Formen zu finden, etwas dagegen zu unternehmen.
Wenn man sich das über längere Zeit anhört, wird einem bewusst, dass die Künstlerin hier auch an einer Vision für Berlin arbeitet. Denn fast alle Gesprächspartnerinnen bringen verschiedene Konflikterfahrungen aus unterschiedlichen Kulturen mit sich. In den aufgezeichneten Darstellungen der Frauen eröffnet sich über die Zeit noch etwas, das über den Themenkomplex sexualisierte Gewalt, Generationen-Gerechtigkeit und die Schaffung von anhaltendem gesellschaftlichem Frieden hinausgeht. Okido lässt einen Berlin als multikulturelle Stadt wieder als Möglichkeitsraum imaginieren, der eine relative Sicherheit bietet, in dem Probleme, die an anderen Orten unlösbar erscheinen, aus der Distanz ausgelotet werden und, wenn nicht gelöst, so doch so weit besprochen werden könnten, dass Lösungsansätze vorstellbar werden. Die Stadt als ein Labor für Aussöhnung. Einen Monat nach dem Ende der Ausstellung erscheint das utopischer denn je, aber lieber eine Utopie als keine Perspektive.

Mio Okido, Wie die Statue entstanden ist, PG Berlin, Uhlandstraße Berlin 170, 10719 Berlin, 9.9.–29.9.2023
Drittens: weniger ist mehr.
Karsten Botts Installation Federmöbel bei Grzegorzki Shows passt beinahe in eine Handfläche und ist in seiner Konzentration eine Offenbarung. Sonst sind die Präsentationen seines Archivs der Gegenwarts-Geschichte oft überwältigend, sie konfrontieren die Betrachter mit einer kaum überschaubaren Masse an banalen, manchmal auch rätselhaften Gegenständen, versehen mit kleinen Notizen. Zwar ist das Archiv nach Stichworten geordnet, aber in sich so umfangreich, dass selbst kleine Ausschnitte daraus die Betrachter aufgrund ihrer Menge überfordern, wie beispielsweise das darin vorhandene Konvolut gebrauchter Zahnbürsten oder allein die weggeworfenen Einkaufszettel, die der Künstler bei verschiedenen Supermärkten einsammelte. Bei Grzegorzki zeigt Bott wieder einen Teil seines Archivs, konzentriert sich aber auf ein einzelnes Objekt. Auf der dazugehörigen Einladungskarte ist ein kleiner Karton abgebildet, der vom Künstler mit folgendem Text versehen wurde:

Federmöbel
27.4.96
von 80-jähriger Frau
die gestorben ist
stand immer auf der
Kommode sagt die Frau
die es verkauft hat
(Kriegsgefangenen-Arbeit)


Einzeln im kleinen Raum steht dort auf einem einfachen Sockel unter einer Plexiglashaube ein Esstisch mit Stühlen, wie die Miniaturausgabe von Rattanmöbeln, nur eben, wenn man dem Titel glauben darf, aus Federkielen geflochten. In fleißiger Handarbeit im Kriegsgefangenenlager hergestellt, womöglich unter nicht unerheblichen Entbehrungen, dann als fragiles Werk über weite Wege transportiert, wohl um sie einem Kind, möglicherweise dem eigenen, mitzubringen. War dieses Kind die mit achtzig Jahren verstorbenen Dame?
Vor fast dreißig Jahren erwarb der Künstler diese unscheinbar wirkenden Puppenmöbel auf dem Flohmarkt und fügte sie seinem Archiv hinzu, nicht unter dem Stichwort Puppenmöbel, sondern unter: Krieg. Unter diesen Vorzeichen erzählt die kleine Arbeit sehr viel: von der Sehnsucht des Kriegsgefangenen nach Zuhause, dem Kreis der Familie, die sich um den Esstisch versammelt, nach dem Kind? Und von der Bedeutung, die dieses Mitbringsel für die alte Dame hatte, dass sie dies immer auf der Kommode stehen hatte. Indem der Künstler nicht nur ein Objekt zeigt, sondern Geschichte(n) an diesem festmacht und diese mit den Betrachtenden teilt, bringt er in vermeintlich weiter Ferne stattfindende Kriege ein wenig näher und macht die Entbehrungen und Not, die sie auslösen, greifbar.

Karsten Bott, Federmöbel, Grzegorzki Shows, Prinzenallee 78–79, 13357 Berlin, 11.10.2023–02.12.2023


Ausstellungsansicht: Mio Okido, Wie die Statue entstanden ist