Eine/r von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Sommer und Herbst 2023

2023:November // Eine/r von hundert

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11-2023

22.7.2023 Kupferstichkabinett
Die Dürer-Ausstellung ist eine Empfehlung in ihrer Eigentümlichkeit. Im Mittelpunkt der Texte steht neben dem Künstler Dürer die Geschichte der Sammlung – was in diesem Fall heißt, dass die Sammlungsleiter ordentlich abgefeiert werden. Was ich sonst noch mitnehme: dass Dürer schon zu Lebzeiten ein „Weltkünstler“ war, der seitdem verehrt und gedealt wird. Muss eine recht privilegierte Person gewesen sein, wenn er dem Kaiser Maximilian so nahe stand.
Ich bin beeindruckt von den detailgenauen, großformatigen Drucken und sehe neben etlichen Zeichnungen zum ersten Mal seine Malereien. Sie sind kleinformatig und sehen nach Aquarell aus. Es gibt einen tollen Steinbruch, der im Diffusen endet, und ich frage mich, ob das so gewollt oder ob es ein unvollendetes Bild ist. Sowieso frage ich mich bei einigen Skizzen, die als Vorübungen entstanden sind, ob er sie selber auch ausgestellt hätte. Anders gefragt: Hat Dürer bereits zu Lebzeiten mit ihnen Geld gemacht oder ist dies erst im Nachhinein geschehen? Das führt zu weiteren Fragen: Sind die Zeichnungen künstlerisch interessant oder als Zeitdokumente? Was gab es in dieser Zeit sonst noch für Kunst? Warum ist sie nicht erhalten geblieben bzw. andersrum: Wie konnten diese fragilen Werke so lange überdauern? Wer hat sich um sie gekümmert? Waren sie von Anfang an Wertanlagen?

1.8.2023 nachdenklich zu Hause
Ich muss gestehen, dass ich diese Rubrik auch deswegen so gerne lese, weil da ab und zu ein bisschen Gossip erzählt wird (und wahrscheinlich ist es eben dieses etwas verbotene Gefühl, dass Gossip so attraktiv macht). Ich bleibe mit jedoch treu und nutze dieses Format, um mal wieder auf die Widrigkeiten des Künstler*innendaseins hinzuweisen, denn gerade habe ich eine Nachricht von einem befreundeten Kollegen bekommen, dessen Untermietvertrag ausläuft. Weil die monatelange Suche nach einer neuen Bleibe erfolglos war, ersuchen er und seine Freundin um eine Verlängerung des Vertrages. Tatsächlich lässt sich der Vermieter darauf ein, verlangt dafür aber eine zusätzliche Kaution von 3.000 Euro. Der Kollege zerknüllt den Vertrag und macht ein Kunstwerk draus, dennoch bleibt ein fader Beigeschmack, denn die Ausnutzung der prekären Lage gerade von Nicht-deutsch-Muttersprachler*innen ist kein Einzelfall. Was für die konkrete Suche und das Klarkommen mit der permanenten Unsicherheit für Lebens- und Arbeitszeit draufgeht! (Was ebenso für die Ateliersituation gilt – erst eine Woche zuvor hatte ich einen anderen Künstler getroffen, der kurz davor war, sein zwischengemietetes Atelier zu räumen, um in eine weitere Zwischenuntermiete weiterzuziehen. Auch dies ist Alltag.)

29.8. zu Hause, am Bewerbung schreiben
Es gibt diese neuen Empfehlungen für Ausstellungshonoraruntergrenzen, die 2.500 Euro für eine Einzelausstellung nahelegen. Ich finde das super und als Künstlerin profitiere ich selber davon. Als Projektraumbetreiber*in dagegen bringen sie mich in die Bredouille, denn dadurch prallen einmal mehr bezahlte und unbezahlte, prekäre und angemessene Bezahlung aufeinander. Woher sollen wir das Geld nehmen? Wir bewerben uns natürlich um Förderungen, doch wenn es (wie es wahrscheinlich ist) nicht klappt? Dann sind wir auf das Verständnis der Künstler*innen angewiesen und fragen uns, ob wir es vertreten können, die Empfehlungen zu unterlaufen. Noch etwas fragen wir uns: Wie sieht es mit Empfehlungen für die kuratorische Arbeit aus, die wir leisten? Gibt es da auch Untergrenzen? Wenn die Arbeit des*r Kurator*in noch nicht mal von der KSK anerkannt wird?

15.10.2023 zu Hause, Corona

Meine Freunde
(eine Petitesse)


Meine Freunde
von anderen will ich gar nicht sprechen
kennen sich aus

Sie waren im Krieg
oder zur Recherche an der Front
Sie haben ihren Theweleit gelesen
und viele folgen ihnen

Doch am Freitag dem Dreizehnten
als auch ich hätte lesen
und im warmen Saal eine Meinung
kundtun sollen

während anderenorts gelitten, gehungert und
Fleisch von Knochen gerissen
Gelenke zertrümmert, Menschen gedemütigt und
Körper verbrannt wurden

war ich froh, dass die Seuche der
letzten Jahre mich in
Gewahrsam genommen hatte und
ich die Stimme nicht erheben konnte

Meine Freundinnen
von anderen zu sprechen erübrigt sich
texten und teilen

Sie wissen und verbreiten
weiter ihre Sicht auf die Welt
die mir häufig viel bedeutete
doch jetzt wäre mir lieber

Ruhe

(Nicht, dass ihr mich falsch versteht
Es ist nötig zu sagen
dass wir angesichts des Terrors gegen Israel
zusammenstehen

Aber darüber hinaus ist nun
nicht die Zeit für Belehrungen

Also trauert, fühlt mit und
wisst weniger Bescheid!)


20.10.2023 im Büro
Und der Gewinner ist Oliver von Koerner von Gustorf! Er ist der diesjährige Preisträger des mit 5.000 Euro dotierten ADKV-Preises für Kunstkritik. Auch er einer, der mal versucht hat, Galerist zu sein („September“). Glückwunsch!
Die AICA vergibt übrigens nächstes Jahr erstmalig den Preis für Junge Kunstkritik, da gibts 12.000 Euro.
Um der Chronik willen hier die Liste aller bisherigen ADKV-Preisträger (Sternchen bedeutet, dass sie mal für die von hundert geschrieben haben oder es noch tun, 2 Sternchen heißt, dass sie dies mal auf einem Podium mit „ich hab mir auch schon mal die Hände schmutzig gemacht“ umschrieben haben, ein Zitat, das wir immer mal wieder abdrucken).

Oliver von Koerner von Gustorf (2023)
Magdalena Kröner (2022)
Noemi Smolik (2020)
Antje Stahl (2019)
Radek Krolczyk (2018)
Kito Nedo (2017) *
Jörg Scheller (2016)
Stefan Kobel (2015)
Barbara Buchmaier * und Christine Woditschka (2014) *
Astrid Mania (2013) **
Kolja Reichert (2012) *
Jens Kastner (2011)
Jennifer Allen (2009)
Rudolf Schmitz (2008)
Ludwig Seyfarth (2007) *
Catrin Lorch (2006)
Dominic Eichler (2005)
Gregory Williams (2004)
Raimar Stange (2003) *
Renate Puvogel (2002)
Jan Verwoert (2001)
Stefan Römer (2000) *
Hans-Christian Dany (1999)

21.10.2023 mal wieder im Büro
Jetzt also doch. Nach dem Besuch von Kate Brown (wir beide müssen die Reste der Berliner Projektraumförderung verwalten und sind in der Jury, das heißt, wir müssen darüber entscheiden, welche 100 Räume die Förderung nicht erhalten werden und eventuell schließen müssen, und welche 12–16 Räume Mittel bekommen, warum mache ich da mit?) lande ich auf der Seite von artnet, deren Redakteurin sie ist. Und wirklich, sehe ich jetzt, Alicja Kwade hat nun auch König verlassen und wechselt zur Pace Gallery. Zum Glück habe ich schon 2004 beschlossen, den Pfaden des Galeristendaseins nicht mehr zu folgen. Man führt extrem viele Beziehungen, arbeitet im Sinne der Künstler, stellt sie wie König Kwade über 20 Mal aus (artfacts), erstmalig vor 14 Jahren 2009, begleitet sie auf ihrem Weg in die Top 100 der Welt, und dann verlassen sie einen, auch noch zu einem Zeitpunkt, wo die meisten einen eh schon verlassen haben, und die Cancel-Welle schon wieder am abebben ist.
Anstatt wieder eine Position aus seiner Künstlerliste auf der Website zu streichen, veröffentlicht König jetzt alle ausgestellen Künstler und Künstlerinnen seit 2002. Sind das schon Vorzeichen einer kompletten Schließung? Wurde der Elefant erlegt?

26.10.2023 Steinstraße 12
Nach zwölf Jahren schließt Marc Barbey die Räume seiner Collection Regard. Als Neffe des berühmten Magnum-Fotografen Bruno Barbey begeisterte er sich früh für Fotografie und machte aus seiner Leidenschaft einen Beruf. Er schuf in der Steinstraße 12 einen Treffpunkt der Berliner Fotografieszene, viele wurden hier erstmals umfassend ausgestellt, manche älteren Positionen wieder neu entdeckt. Sein motivischer Schwerpunkt lag auf Berlin, viele Publikationen zeugen noch langfristig von seiner kuratorischen und sammlerischen Tätigkeit. Das letztes Projekt ist eine Arbeit von Michael Wesely, der den Nachlass von Hein Gorny (ein zentraler Bestandteil der Collection Regard) als Ausgangspunkt für Doppelbelichtungen nahm, das heißt, er fotografierte von exakt gleicher Stelle die historischen Motive Gornys und belichtete sie übereinander. Eine Klammer, denn vor 12 Jahren eröffnete er mit Gornys 1945 entstandenen Bildern des zerstörten Berlins unter dem Titel „Hommage à Berlin“. Ob das aktuelle Berlin sein kulturelles Engagement auch ausreichend wertschätzte oder nicht, bleibt offen. Aber hier könnte ein Grund für seine Schließung sein und damit ist er nicht alleine. Kultur ist wie die Liebe, solange man sie selbstlos gibt, kein Problem … auf längere Distanz braucht man dann doch mehr zurück.


26.10.2023 Steinstraße 12
Nochmal ein Ende – eben auf der Pressekonferenz zur letzten Ausstellung der Collection Regard, treffe ich Bernhard Schulz, Kritiker des Tagesspiegels, aber auch im Lindinger-und-Schmid-Komplex als Vielschreiber tätig. Immerhin 100 Texte schrieb er jährlich für deren Informationsdienst KUNST. Doch den gibt es seit Oktober nicht mehr. Nachdem Karlheinz Schmid und Gabriele Lindinger schon im Juli die Kunstzeitung einstellten, folgt jetzt auch der Informationsdienst, der nur für Abonnenten zugänglich war (296,– im Jahr und 26 Seiten 2-wöchentlich).
Ein bisschen zwischen Kunstboulevard, seriöser Information und noch ernsthafterer Kunstkritik (also fast wie die von hundert) reproduzierten beide Medien eine Unmenge an Texten über Kunst, 306 Kunstzeitungen und 788 Informationsdienste. Jetzt nicht mehr, ein großer Verlust. Mein Appell an den jetzt 70-jährigen Herausgeber Schmid: Macht das Archiv öffentlich, es geht jetzt nicht mehr ums Geld, ihr habt für die jüngere Kunstgeschichte einen großen Schatz geschaffen, der online gehen muss.

29.10.2023 Luxus-Bar
Drei Uhr früh, aber gleich wird uns eine Stunde geschenkt. Wie so oft treffe ich Frank Nitsche, der mir sein Atelierleid klagt. Und die Geschichte passt zum zweiten Faden, der sich durch dieses Heft zieht (Bannat, Wilms, Stange), Kollektiv versus Individuum. Frank hat das Atelier seines besten Freundes Havekost nach dessen frühzeitigem Tod bezogen. Das Studio ist Teil des Flutgraben-Komplexes, betrieben von einem Verein. Der Verein fördert seit einiger Zeit eher Gruppen und Initiativen, weniger Einzelkünstler, so steht auf der Website flutgraben.org gleich an prominenter Stelle: „Viele der im Flutgraben arbeitenden Akteur*innen haben sich zu Gruppen und Initiativen zusammengeschlossen und werden bei Ihren Projekten vom Verein unterstützt.“
Jetzt wollen sie, die Akteur*innen, Franks Studio zu einem kollektiven Arbeitsplatz umwidmen und Frank hinauswerfen, da er nicht regulär eingezogen sei. Sie drohen mit Räumungsklagen. Frank wehrt sich und mir stellen sich viele Fragen.
Vorallem, nach welchen Systemen und Kriterien kamen all die anderen 50 zu ihren Studios? Ich bin mir sicher, dass bei fast allen eine persönliche Verbindung half. Manche sind seit den Anfangstagen dabei und hatten das Glück zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, und haben genau wie Frank jetzt den Ort besetzt. Jetzt, von ehemals Besetzern zu quasi-Besitzern geworden (die meisten setzten sich natürlich, genau wie Frank, später ins gemachte Nest), mit einer scheinbar linken Agenda, agieren sie ähnlich wie andere Immobilien-Besitzer, nämlich mit Macht für ihre eigenen Interessen, die hier scheinbar auf der richtigeren, kollektiveren Seite angesiedelt sind. Was kann da ein schwuler, alter, weißer Maler aus dem Osten gegen anstinken?
Albrecht Dürer „Rhinocerus“, 1515
Oliver von Koerner von Gustorf, Foto: Privat