Letzte Generation

Kommentare zur Blockade einer Kreuzung durch die Letzte Generation (15.5.2023)

2023:November // Chat

Startseite > 11-2023 > Letzte Generation

11-2023


ein weißer SUV fährt Simon beinah auf die Füße; drinnen ein Vater, der seinen 15-jährigen Sohn zur Schule fährt; nicht der Fahrer-Vater tickt aus, sondern der Sohn, „Aber ich muss in die Schule, ich muss in die Schule“, schreit er; wegen des angekündigten Bahnstreiks (der dann doch nicht stattfand) sitze er jetzt im Auto und müsse nach Lichtenberg; als Entschuldigung für die Lehrer biete ich ihm einen Flyer von LG (Mach mit!) an, doch er winkt ab; der Vater streckt die Hand aus, will ihn nehmen

dahinter ein britischer Wagen, der Fahrer sitzt rechts, möchte nichts erklärt haben, denn er wisse bereits alles; regt sich sehr auf und schimpft mit englischem Akzent, die Methode der Letzten Generation sei falsch

eine Berufstätige im Kleinwagen nimmt einen Flyer entgegen; ja, sie sei fast jeden Tag von den Blockaden betroffen und trotzdem finde sie die LG gut, lächelt, bleibt ruhig und wünscht viel Erfolg

auf dem Gehweg ein groß gewachsener Mann, erwähnt leise, beschämt fast, er habe schon Geld verloren deswegen; er habe eine Catering-Firma und konnte einen Termin nicht einhalten, weil er mit dem Essen im Stau stand – Kunde verloren

ein durchtrainierter und Deutsch sprechender Argentinier in Outdoor-Mode, selbst vegan seit Jahren und angeblich Anarchist, plädiert für die Rettung des Klimas durch den umweltbewussten Konsum; die Klimaschutz-Maßnahmen der jetzigen Regierung bezeichnet er als Öko-Diktatur

ein Deutsch sprechender Franzose, dem man das jahrelange Rauchen ansieht, beansprucht für sich, schon sein ganzes Leben klimaneutral zu sein, Umweltschutz sei seit seiner Jugend wichtig für ihn gewesen, trotzdem lehne er die Letzte Generation ab, weil sie es nicht schaffe, die Masse hinter sich zu bringen, sondern im Gegenteil, zu verärgern; bei den derzeitigen Protesten in Frankreich hielten alle zusammen gegen die Regierung; „Ja, die Gallier können kämpfen“

ein junger Waldbesetzer aus der Wuhlheide mit antifaschistischem Background kritisiert, dass die Proteste der LG die Falschen träfen, man müsse sich vor den Toren von Rheinmetall oder RWE ankleben, um deren Betrieb zu stören; „Ihr kriegt zwar Aufmerksamkeit, aber was bringt das?“

ein Mann in beigem Gewand mit arabischen Wurzeln findet es überhaupt nicht gut, was die LG macht, weil dadurch so viele Leute zu spät zur Arbeit kommen; „In den großen Medien wird jetzt nur noch positiv über die Letzte Generation berichtet“, meint er und versteht das nicht; er sei Freelancer, arbeite in der Werbung; stundenlang bleibt er fasziniert an der Kreuzung stehen und macht ab und zu ein Bild mit seiner antiquierten analogen Kamera

eine ältere Dame in Pink möchte uns vom Fahrrad aus unbedingt wissen lassen, dass sie die Blockierenden sehr mutig findet und bedauert die Hetze in den sozialen Medien, „Ihr seid toll, ich wünsche euch viel Erfolg.“

eine sehr alte, sehr magere Verkäuferin einer Obdachlosen-Zeitung erklärt mit slawischem Akzent ihre Solidarität mit der LG und bittet um einen Stapel Flyer, die sie in einem anderen Stadtteil für uns verteilen möchte; „Die baltische See ist ganz verseucht von dem militärischen Material aus dem 2. Weltkrieg, das dort am Meeresboden liegt.“

ein Mittelalter-Romantiker auf einem historischen Schweizer Rad steht voll hinter LG und nutzt die Gelegenheit gleich mal, um Werbung zu machen für seinen Fahrradhandel; steckt mir eine Karte zu; das Rad müsste ich allerdings selber in der Schweiz abholen …

zwei junge Spanier, die hier leben, interessieren sich für die Blockade; als sie verstehen, worum es geht, bestätigen sie den Wasser-Notstand, der schon dazu geführt hat, dass Spanien Flusswasser zurückhält, damit es nicht weiter nach Portugal fließt

eine junge Frau mit Lastenfahrrad auf der Verkehrsinsel will erst nicht reden, ihr Blick trifft mich mit Verachtung: „Mein Vater ist im Rettungswagen gestorben, weil der wegen einer LG-Blockade im Stau stand.“ Sie sei auf einer Art Umweltschule (ESBZ) gewesen, dann bei Fridays for future und arbeitet nun in der Maske beim Fernsehen; sie wisse, man komme an alle (mächtigen) Menschen ran, wenn man will, dafür brauche es keine Straßenblockaden; lehnt LG ab, weil der Protest Unschuldige treffe

ein waschechter Schwurbler, groß, schmal, die wenigen langen Haare mit dem Gummi zusammengefasst: „Das ist alles gelogen, die Klima-Krise gibt es nicht; hat sich nicht das Klima immer schon verändert? Wenn die Temperatur um ein paar Grade steigt, macht das nichts. Die Klima-Krise ist ein Komplott der Industrie, die machen Geld mit neuer grüner Technologie. Alles wird teurer, das Volk muss zahlen und ihr seid alle total verblendet!“ Als ich ihm eine Verschwörungstheorie vorwerfe, hält er mir vor, woher ich denn wissen wolle, dass meine Meinung nicht auf einer Verschwörung beruhe
gleich im Anschluss steuert ein Mountainbiker auf Anton und Christian zu, die an der Ecke mit dem Banner der Letzten Generation stehen, ein Choleriker offenbar, die Aufregung treibt seinen Blutdruck in die Höhe: „Es ist eh zu spät, da kann man eh nichts mehr machen, das hat alles gar keinen Sinn; ja, ich bin ohnmächtig, aber die Letzte Generation ist eine Sekte, ihr werdet doch alle dafür bezahlt; ihr wisst nicht, ob das richtig ist, was ihr tut; ihr glaubt – deswegen ist das eine Religion.“

Simon, der da stundenlang mit seiner Betonhand ausharrt, gibt sitzend und klebend ein Interview für die Nachrichtenagentur reuters, ausgeliefert der Spucke eines Fußgängers, aber auch den Bekehrungsversuchen einer ganz Engagierten, die ewig auf ihn einspricht: nicht der Klimawandel sei das Problem, sondern das Bevölkerungswachstum in Afrika; wir beobachten vom Straßenrand, wie sie immer wieder die Argumente an den Fingern aufzählt, später beugt sich eine andere im Gehen und ergattert schnell mit ihm ein Selfie

ein Vater in den Vierzigern sucht vorsichtig, aber bewusst das Gespräch; am Ende stellt er sich vor, er baue Bühnen auf bei radio eins … seine 13-jährige Tochter sei bei FFF, er stehe 100%ig hinter den Zielen, lehne aber die Protestform ab; zwischen ihm und mir entwickelt sich eine differenzierte Diskussion über Wege, wie man politisch was erreichen kann

ein Hipster in sündhaft teurer Kleidung – irgendein malvenfarbener Mantel und Brille von mykita – auf einem sündhaft teuren E-Bike zeigt mit dem Finger auf mich, die Sünderin: „Die Jacke, alles, was Sie anhaben, kommt aus China“, er schreit fast, ich korrigiere ihn, doch er setzt seine Anklage fort: „Sie wissen genau, was ich meine … Sie (die LG) haben recht, aber Sie sind am Ende! 87% der Bevölkerung lehnen das ab. Das ist Bürgerkrieg. Das ist Gewalt. Terror. Es wird Tote geben!“

eine weitere Verkehrsteilnehmerin mit 5.000-Euro-Lastenfahrrad, spitze Nase, blasser Teint, möchte sich äußern an der Ampel: „ich arbeite im Bereich Wirtschaft und neue grüne Technologien, da können wir viel ausrichten und bewirken, diese Blockaden dagegen bringen gar nichts, sie spalten nur die Gesellschaft“, dann muss sie schnell weiter

die Polizei hat sich Zeit gelassen mit unserer Blockade, zunächst wurden andere der insgesamt 17 in der Stadt an diesem Morgen aufgelöst; unter der U2 auf der Treppe stehen die Schaulustigen, als die Polizei mit dem schweren Gerät anrückt, um Simon aus dem Asphalt zu fräsen; „Hier das Programmheft zum Theater, der Text zum Bild bitteschön“;
einer reagiert ablehnend, „Sie wollen mich in ein Gespräch verwickeln, aber ich will das nicht“; dann beginnt er das Gespräch: das Klima sei nicht das Problem, sondern das System; er sei aus dem Osten, habe schon in den 80ern im Prenzlauer Berg gewohnt; wie sich alles verändert habe zum Schlechten; mittlerweile seien die Menschen ferngesteuerte Atome, die nur an sich dächten, es gebe keine Solidarität mehr; man müsse versuchen sich zu entziehen; als ich bekenne, keinen Computer und kein Internet zu haben, gewinne ich seine Sympathie; Tränen stehen ihm in den Augen, verbindend streckt er mir die Hand entgegen, „Hallo, ich bin Roman und du?“

Nicht wörtlich zitiert sind unzählige kurz hingeworfene Bemerkungen, die Lob und Zuspruch ausdrücken wollen und selbst Liebeserklärungen an die Letzte Generation.