L’Homme Trouvaille

The Collector Collected

2023:November // Shannee Marks

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11-2023




1. Der Tod muss zirkulieren
Der Sammler, wie der Arzt oder die Prostituierte, ist eine Figur, die aus der Antike kommt und kaum verändert bis zum heutigen Tag überlebt hat. Virginia Woolfs Charakter ‚Orlando‘ hätte in jedem seiner Jahrhunderte ein Sammler sein können – egal wie oft sie/er das Geschlecht gewechselt hat. An diese unermessliche Altertümlichkeit des Sammlerphänotyps, einem lebenden Fossil ähnlich, haftet etwas von Grab und Sarkophag. Das fahle Licht, das darauf leuchtet, kommt von oben. Die Ägypter haben Ursammlungen von alltäglichen Gebrauchsgegenständen, ganze Schatztruhen überfüllt von aus Gold, Elfenbein und Juwelen beschaffenen Schmuckstücken, dem pharaonischen Grab Tutanchamuns für sein ewiges pharaonisches Nachleben beigefügt. So bleibt der Pharao auch im Tod der größte Sammler.

Christian Boros beschreibt (im ZeitPodcast „Alles gesagt“, 2022) seine erste Besichtigung des Berliner Luftschutz­bun­kers, in den er später mit seiner Sammlung und Familie einziehen wird, als eine Art coup de foudre. Mit fast naturwüchsigem Sammlerinstinkt suchte er in der Bunkerarchitektur die archaische Präsenz des Todes.
Für Boros existiert eine Sammlung erst, wenn der Raum dafür geschaffen wird –, dass seine Trutzburg das eigentliche Gesamtkunstwerk sei. Der sich auftürmende Kunst-Bunker auf dem leeren Platz Ecke Albrecht-/Reinhardtstraße wirkt wie eine Nekropolis für sich.
Der Bunker ist archäologisch mit Tumuli, Pyramiden und Aztekenarchitektur verwandt. So wie Ernst Jünger über seine Erkundung eines verlassenen Bunkers am Atlantikwall schreibt: „So befand ich mich, als wäre ich in einer Pyramide oder in den Tiefen von Katakomben, (…) Die Form dieser Konstruktionen erinnert an die Architektur der Azteken, und zwar nicht nur oberflächlich: Was dort war, die Sonne, ist hier der Intellekt und beide stehen in Kontakt mit Blut, mit den Kräften des Todes.“ (zitiert in Paul Virilio, Bunker Archaeology, New York 1994, S. 35)
In älteren medizinischen Werken, laut einem Zitat in Benjamins Passagen-Werk im Abschnitt „Der Sammler“, war das Sammeln mit abnehmender Vitalität assoziiert: „Gier und Alter, bemerkt Gui Patin, sind immer ein gutes Verhältnis. Das Bedürfnis, sich anzusammeln, ist einer der Vorboten des Todes, sowohl bei Einzelpersonen als auch bei Gesellschaften. Es tritt im akuten Zustand in präparalytischen Phasen auf. Es gibt auch die Sammelwut, in der Neurologie den ‚Sammelismus‘. Von der Haarnadelsammlung bis zum Karton mit der Aufschrift: Kleine Schnurstücke, die für nichts zu gebrauchen sind.“ (Les 7 péchés capitaux, Paris 1929, S. 26/27, Paul Morand: L’avarice)
Auch die französische Volksweisheit verbindet das ‚Sammeln‘ mit Sterben: Prousts Haushälterin Céleste Albaret berichtete, dass er am Tag seines Todes anfing, auf untypische Weise sein Bettzeug hochzuziehen und seine über das Bett zerstreuten Papiere zu sammeln. Ihr fiel danach ein, was sie einst in ihrem Dorf gehört hatte – dass ‚sterbende Männer Dinge sammeln‘.
Vielleicht stehen solche morbiden Ahnungen hinter der merkwürdigen Installation von Elmgreen und Dragset The Dead Collector, die sie im Nordischen Pavillon 2009 anlässlich der Biennale von Venedig schufen. Der Pavillon wurde in eine exquisite verglaste Junggesellenbude verwandelt. Der schon abgelebte Bachelor-Collector schwebte bäuchlings in einem hollywoodesken Schwimmbad, so wie der tragische Ghostwriter am Ende von Sunset Boulevard. Seit Duchamps Le Grand Verre oder Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar wurde der Junggeselle zu einer archetypischen Kunstfigur mit vielerlei Leben geformt.
Die Wohnung des Berliner Sammlers und App-Ent­wicklers Ivo Wessel im Taut-Haus, Kreuzberg ist nicht besonders für den Sammler geeignet. Es gibt wenig Wände. Zum Michaelkirchplatz hin gibt es nur Fenster mit Blick auf das unergründliche, trübe Engelbecken, gelistet als ‚stehendes Wasser zweiter Ordnung‘. Das weitläufige Foyer des Gebäudes strahlt einen düster noirischen Gangland-Glamour der 1920er-Jahre aus. Neben der schwarzen Steintreppe befindet sich in der Mitte der Halle ein Aufzug mit verspiegelten Türen, aus denen jede Minute Unterweltfiguren und Edel-Mafiosi in Trenchcoats und Fedoras und lodernden Waffen ausbrechen könnten.
In Ivo Wessels büroartiger ‚Hopper‘-Wohnung steht vor den Fenstern eine Reihe von Monitoren im älteren Format 4:3, ein Modell aus den 90er-Jahren. Wenn sie nicht leuchten, zum Beispiel mit den pionierhaften Videoarbeiten von Klaus vom Bruch, verschlucken sie still das Licht. Sie sind graue Eminenzen, abgelebte Still-Leben der Technik. Andere Bildschirme sind zeitgemäßer, Verhältnis 16:9. Seine Räume stellen eine Mikrogeschichte der Videotechnik dar. Das große Hauptzimmer ist durch Trennwände geteilt, so entstehen Wände für Bücherregale und Gemälde (aber nur die der konkreten Malerei) und die schmale Küche. In seinem privaten Literatur-Pantheon hat Ivo Wessel Altare für Proust, Oscar Wilde, James Joyce, ­Georges Perec und Karl Krauss, Eckhard Henscheid u. a. errichtet.
Ein großes rundes, von Eisen umrandetes Glas, hängt von der Decke. Wie ein überdimensioniertes Vergrößerungsglas. Zur goldenen Stunde strahlt die Sonne durch die vielen Fenster. Dann freut er sich, sagt er, nicht wegen des Eindringens des weichen goldenen Lichts als solchem, sondern weil das Kunstwerk-Glas nur dann zum Leben erweckt wird und auf eine besondere Weise leuchtet. Es gibt wohl eine Hierarchie, ein Klassensystem oder Rang und Ordnung zwischen den Kunstwerken. Manche Werke scheinen permanent in der Wohnung installiert zu sein – so wie einige skulpturale Arbeiten von Via Lewandowsky, mit dem Ivo Wessel eng befreundet ist.
Wie zum Beispiel ein verknoteter, schlaff herunterhängender, phallischer Baseballschläger, an dem ich mich schon beim ersten Besuch übergesehen hatte, neben einem spießigen rotierenden künstlichen Blumenstrauß in Wessels Lieblingsfarbe gelb.
In jeder Nische und Ecke befinden sich Monitore, Leinwände, Objekte, Neonstreifen oder gerahmte Photographien und zahllose Bücher. Wessel besitzt kein Komfortmöbel wie eine Couch. „Ich bin kein Sofamensch.“ Sein einziger Sitzkomfort ist der aus der Kinderstube hinübergerettete cognacfarbige Arne-Jacobsen-Ledersessel mit geschwungenen ausladenden Lehnen. In diesem ‚Peter Pan‘-, ‚Suche nach der verlorenen Zeit‘-Sessel hat er seit seinem Knabenalter Bücher gelesen. Im Gegensatz zu seinem Drang, viele Exemplare eines Buches zu besitzen, hat er nur ein Lieblingsmesser. Sein blauer Lieblings-Kaschmirpullover hat große Mottenlöcher, was, laut Wessel, nur seine Qualität beweist. Die dichte eklektische Anhäufung (Petersburger Hängung) von Kunstwerken wirkt manchmal beklemmend, klaus­trophobisch, erstickend. Andere Malerei als die Konkrete, sagt Wessel, interessiere ihn nicht.
Die überpräsente technische Apparatur verbreitet einen melancholischen Dunst der abgestandenen entropischen Produktion, Denkmal einer toten Ökonomie. Die eher dunklen Räume nach hinten wirken wie karge Maschinenräume für ein Fließband von Phantomen. Hier in dem Sammlungslazarett lötet er die ausgefransten, aufgelösten Teile eines Kunstwerks.
Ich schaue, wie er, am Ende des „Open House“, ein Originalmanuskript von Herbert Achternbusch mit ‚bubble wrap‘ wieder zudeckt, das sonst durch die Sonnenstrahlen gefährdet wäre. Mir wurde deutlich, dass das Leben mitten in seinem Kunstinterieur viel Anpassung seines Dekors und seiner Person voraussetzt. Eine gewisse Wohndisziplin und ein Wartungsregime muss er einhalten.
In dieser spartanischen Umgebung wirkt IW fast selbst wie die einsame Figur in Julian Rosefeldts 4-Kanal-Installation The Shift, die abwechselnd als Sicherheitsagent, Hausmeister, Abwasserarbeiter und Wissenschaftler durch eine gigantische hermetische Landschaft von silber-chrom glänzenden, sporadisch blinkenden Kontrollräumen einer veralteten Technik patrouilliert. Diesen Eindruck, der ‚Schichtarbeiter‘ seiner Sammlung zu sein, verstärkt sich bei mir, als Ivo Wessel mir sagt, dass ein Leitfaden seines Sammelns der künstlerische Umgang mit Technik sei.
Oder ist seine von der Sammlung besetzte Wohnung sein eigenes Multikanal-‚Cinema Paradiso‘? Beiläufig erwähnt er, dass ein befreundeter Künstler solipsistisch sei, was vielleicht eine autokritische Übertragung ist. Ist Solipsismus eine déformation professionnelle des Sammlers?
In einem Seitenzimmer sind vier schmale Monitorsäulen dauerhaft eingerichtet, die 4-Kanal-Arbeit von Julian Rosefeldt: Hommage à Max Beckmann (Centre Pompidou, 2002), bestehend aus Stationen dessen Lebens, dargestellt durch verschwommene, gefundene, gräuliche Archiv-Filmstreifen aus dem Ersten Weltkrieg und den ‚roaring twenties‘: Nahaufnahmen eines Bomben-Abwurfs aus einem Flugzeug vermischen sich mit topless Kunstreiterinnen und Artistinnen auf einem Karussell und Massenszenen vor der Freiheitsstatue in New York, dem gespenstischen ‚Tanz’ von Soldaten im Schnee, ihrem Laufen im Feld, im Schützengraben – ein Anflug von Godards ­Histoire du Cinema gemischt mit Steve Reichs ‚Hindenburg‘-Video über die Zeppelin-Explosion in Lakehurst, New Jersey.
Bei Ivo Wessels Open House während der Art Week können die Besucher überall in seiner Wohnung frei umherschlendern. Sie besuchen ohne Scheu sein Schlafzimmer.
Es ist eine sehr großzügige Geste, wildfremde Menschen überall in seine Wohnung, nicht nur kunstneugierige, auch voyeuristische Blicke werfen zu lassen. Überall stehen seine leicht zugänglichen, überladenen Bücherregale mit ihren kostbaren verführerischen Reihen. Eine Intimität entsteht zwischen Sammler und Besucher, die an die Symbiosen von Sophie Calles Sleepers erinnert, als sie Menschen zu sich eingeladen hat, um in ihrem Bett zu schlafen, während sie die Schlafenden beobachtete, überwachte und bewirtete.
Eine ehemalige Schülerin von Klaus vom Bruch und ihr Freund, ein Oberstleutnant der Bundeswehr im Generalstabsdienst, bilden den Hof um den Künstler Klaus vom Bruch. Der Offizier ist ein Ghostwriter für verschiedene Minister, wie er mir erzählt, und ist Leiter der Doktrinentwicklung der Bundeswehr. Die Regie übernehmend sagt er mir gleich aus welchem Winkel ich die Szene mit Klaus vom Bruch und seiner Freundin fotografieren soll.
Video-Arbeiten von vom Bruch gehören schon lange zu Ivo Wessels Sammlung. Seine Videos, collagiert aus dem amerikanischen und europäischen Fernsehen der 1970er-Jahre, flackern auf zahlreichen kleinformatigen Monitoren unterhalb der Fenster. Auszüge aus kitschiger Werbung, Filmen und politischen Affären wie der Schleyer-Entführung wirken gleichzeitig fad, hinfällig und traumhaft irreal. Immer wieder vermengt sich das Gesicht des ‚jungen Künstlers‘ vom Bruch zwischen den Streifen. Sein Gesicht hält die Zeit fest.
Vom Bruch hat früh die Methode der künstlerischen Appropriation hemmungslos angewandt. Am Anfang hatte er sich alles aus dem Fernsehen und den Archiven geholt, später aus dem Internet.
Ich habe ihn gefragt, ob er sich je Sorgen wegen Copyrightverstößen gemacht hat. Von ihm wie von Julian Rosefeldt, der am folgenden Tag bei Ivo Wessels Open House zugegen war, habe ich erfahren können, alle Formen des Diebstahls aka Appropriation, ob von Text oder Bild oder Performance, sind erlaubt. Sogar erwünscht. Es hört sich wie eine vorauseilende Immunität an. Dahinter lauert eine künstlerische Sparökonomie des Recyclings und der Lust am ‚Spamgeist‘.
Mit Klaus vom Bruch teilt Ivo Wessel die Liebe zum Proust-Lesen und zum Löten. Mit dem Lötkolben repariert Wessel sorgfältig die mechanischen Teile mancher brüchigen Kunstwerke. Julian Rosefeldt ist nicht nur in seiner Sammlung, er ist auch sein Freund, den Wessel vor lange Zeit bei Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm über die damalige Berliner Kunstszene kennenlernte. Wessel spielte den Sammler, Julian Rosefeldt den Künstler. Rosefeldt über Ivo Wessel: „Er ist mein zweites Gedächtnis.“ Die Schülerin von vom Bruch, Veronika Dräxler, schenkt mir ihren Katalog Traces of Life/How to Kill (Hunt), ein Projekt und eine Ausstellung über die Jagd auf Birkenhähne in einem schneebedeckten Polar-Finnland. Ihr Freund, der Oberstleutnant, ist ein ausgewiesener Jäger, der sich gerne auf der Jagd traditionell in Loden kleidet. Er ist ihr Jagdkonsultant für das Projekt. Sie erinnert mich an den Mythos des thebischen Heldens Actaeon. Er wurde Opfer des fatalen Zorns Artemis’: sie verwandelte ihn in einen Hirsch, da­raufhin haben ihn seine eigenen Hunde wie Wölfe in Stücke zerrissen.
Die zierliche feingliedrige Künstlerin scheint ein Doppelwesen zu sein – Artemis und Actaeon zugleich. Als wäre sie schon mythologisch gezeichnet – auf der ganzen Länge ihrer Nase zieht sich exakt durch die Mitte eine mysteriöse dunkle Linie – wie ein von Artemis hinterlassener Schmiss. Sie hat die Statur einer Fechterin.



2. Die Sammlung als Einbahnstraße und Oublietten
„Der Sammler ist das A und O, der Künstler ist austauschbar.“ (Klaus vom Bruch – überhört bei Ivo Wessels Open House 16. September 2023)

Je länger ich mit Ivo Wessel über seine Sammlung geredet habe, desto auffälliger wurde seine reflexartige Bescheidenheit. Er ging so weit, fast zu leugnen, dass seine ‚Exponaten-Assemblage‘ als Kunstsammlung gelten soll. „Es sind nur meine privaten Obsessionen.“ Er habe kein Konzept, die ‚Sammlung‘ bestehe nur aus jenen Werken, die ihm schlicht und ohne Spekulation gefallen haben. Spürbar wird seine Vorsicht, sich nicht mit Titanen wie Christian Boros und Erika Hoffmann in Berlin oder Harald Falckenberg und seinesgleichen auch nur im Geringsten zu vergleichen. Keinen Respekt zollt er der Kunst-Savvy, deren geheimnisumwitterte Preisbildungen wie in einem Staat im Staat fiat-art-money ‚druckt‘. Wie Andreas Koch und Peter K. Koch in ihrem Nachruf auf die Berliner Kunstmesse Art Forum ­schreiben: „Die Macht liegt in der Hand von einigen Wenigen, und die haben nichts anderes im Sinn, als diejenigen aus dem Markt zu drängen, die ihrer Meinung nach dort nichts (mehr) zu suchen haben.“ („Provinz in Berlin“ (2011) in: Andreas Koch, Kunst und Kritik, Gesammelte Werke 2006–2020, Berlin 2020, S. 99)
Ivo Wessel denke gar nicht daran, einen Gerhard Richter oder Picasso oder Eliasson begehren, geschweige denn kaufen zu wollen, er bleibt innerhalb seiner Verhältnisse. Dennoch muss der Kauf von Kunst ihn über seine ‚Schmerzgrenze‘ zwingen: no pain, no gain. Er muss sich verschulden, aber dieser Exzess ist ein Teil des religiösen Rituals. Für den typischen Sammler gibt es immer ein Mehr, nie ein Weniger. Er ist gefangen im „système du pléonectique“ (Mehdi Belhaj Kacem) oder im ‚Mehr-haben‘-Müssen. Es entsteht eine Art Flagellation des Bankkontos, nur durch den Geldschmerz empfindet er sich noch als wahrer Sammler. Diese Einstellung scheint er mit Boros zu teilen, der fast mit denselben Worten seine stets „übermäßigen“ Ausgaben als ein notwendiges Übel des Sammelns beschreibt (in: „Alles gesagt“). Nur die Größe ihrer jeweiligen Konten ist anders.
Im Fall Ivo Wessels fließt das Geld nur einmal in nur eine Richtung – wie auf einer Einbahnstraße. Das Sammeln im Unterschied zum Kaufen ist antizyklisch im kapitalistischen Sinn. What goes in, doesn’t come out. Weil er ein Werk nie wiederverkauft. Seine Sammlung regrediert auf einer archaischen Form des Besitzes – dem Hort. Der Sammler folgt der Logik des Hortens. Das Wesen des kapitalistischen Zyklus wird negiert: der Umsatz oder die Zirkulation, anders gesagt die Verwertung. Mit solchen Krämerseelen-Sachen will er nichts zu tun haben. Nach dem Kauf tritt das erworbene Kunstwerk endgültig aus dem Kunstmarkt hinaus und ins Reich des Tabus hinein – wie in fensterlose quasi-sakrale Oublietten. Ivo Wessels Identifikation mit seiner Sammlung ist ‚biomorph total‘. Die Sammlung c’est moi. Im Deleuze-Jargon könnte man sagen, seine Sammlung ist sein ‚corps sans organs‘ (organloser Körper). Er verdeutlicht diese Gleichsetzung von Ich-Körper und Kunstsammlung in einem Interview im Katalog seiner Ausstellung in der Weserburg Bremen. „Ich konnte bei Sammlern nie verstehen, wenn sie einen Kunstkauf als gute Gelegenheit bezeichneten oder auf eine Empfehlung hin erwarben. Das kann natürlich auch eine Position sein, ist aber fast ein wenig erbärmlich und ist nicht Sammeln, sondern Kaufen. Ich möchte mir das Ganze aneignen. Für mich ist es auch natürlich, nichts zu tauschen oder zu verkaufen. Laut Proust ist man als Leser eines Buches auch immer der Leser seiner selbst. Ich würde nur ungern einen Teil von mir weggeben. Die Arbeiten sind ja aus persönlichen Gründen angeschafft worden. Auch wenn ich die Gründe irgendwann nicht mehr kenne oder nicht mehr plausibel fände, ich würde sie immer noch respektieren.” (in: Katalog Junge Sammlungen 03, „Der Raum zwischen den Personen kann die Decke tragen“, Weserburg, Bremen 2015, S. 20)
Was heißt es, ,sich das Ganze aneignen‘ zu wollen, wenn der überwiegende Teil der Sammlung, mangels für die Öffentlichkeit zugänglicher physischer ‚Projekträume‘, im Verborgenen bleiben muss? Die einzigen ‚Lebenszeichen‘ der Sammlung sind als ‚Steckbrief‘-ähnliche Thumbnails auf der von Wessel erst neulich entwickelten Kunstplattform Archie’s Nose zu besichtigen.
Auch wenn der Berliner Lokalsammler Ivo Wessel mitten im zeitgenössischen Techno-Leben steckt, ein ‚au fait‘-Software-Entwickler ist und mit den besten Absichten Kunst seiner Generation und Erfahrungswelt beflissen sammelt, scheint auch er dem urgeschichtlichen, unvordenklichen plutonischen Sog des Horts nicht widerstehen zu können.
Ivo Wessel, Foto: Shannee Marks
Julian Rosefeldt The Shift, 4-Kanal-Video-Installation, 2008, Foto: Shannee Marks