Die post-dramatische Klasse

Teil 2

2023:November // Shannee Marks

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11-2023


Ähnlich dem Gralskönig Amfortas in Wagners Parsifal leiden beide, Peter Atanassow und Hans-Dieter Schütt, in ihrer ‚Gralsburg‘ Gefängnis-Theater „aufBruch“ noch an der unheilbaren Wunde – DDR. So gilt vermutlich Schütts verschlüsselte Charakterisierung des „aufBruch“-­Regisseurs Atanassow auch für ihn selbst: „Was diesen Regisseur interessiert: deutsches Erbe, deutsche Ursünde, deutscher Zuchtkomplex. Die Aufführungen sagen ‚Erbe‘, aber es klingt wie ‚Scherbe‘. Theater als scharfkantiges Spiegelstück – (…) Spiegelsplitter, die auf Pulsadern warten. Heimat (…) als ein Ort, wo Menschen büßen müssen. (…) Bis heute.“ (aufBruch – Das Berliner Gefängnis-Theater – Ein Porträt, hrsg. Hans-Dieter Schütt, Alexander Verlag, Berlin 2022, S. 110)

Als Ausgleich genießen die Angehörigen der untergegangenen ostdeutschen Hegemonie den ‚Vorteil‘, das Privileg, beide Systeme von innen her zu kennen. Die Westdeutschen sind ärmer an dieser Erfahrung – vielleicht deshalb abgestumpfter und einfallsloser. Die beißende, kaustische Schärfe des Ostdeutschen, wie die von Castorf, ist für sie unerreichbar. Ewig.


Theater als anti-kolonialer Krieg oder Fremdenlegion?
„(…) wie oft schon die Gestalt des ‚großen‘ Verbrechers, mögen auch seine Zwecke abstoßend gewesen sein, die heimliche Bewunderung des Volkes erregt hat. Das kann nicht um seiner Tat, sondern nur um der Gewalt willen, von der sie zeugt, möglich sein. In diesem Fall tritt also wirklich die Gewalt, welche das heutige Recht in allen Bezirken des Handelns dem einzelnen zu nehmen sucht, bedrohlich auf und erregt noch im Unterliegen die Sympathie der Menge gegen das Recht.“ (Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, 1921)

Die Aufführung des aufBruch-Gefängnis-Theaters Romulus der Große in einem zerpflückten, zerrupften Dschungel-Camp in der Jungfernheide (blasse Erinnerung an Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!/‚I’m a Celebrity get me out of here‘) wirkte fragil, fahrig und zerstreut. Der Chor versprach sich oft. Die Exerzierplatz-Stimmung, Atanassows ‚Markenzeichen‘, wirkte hier aufgesetzt, fügte sich schlecht in Dürrenmatts Farce. Ganz im Gegensatz zu ihrem bombastischen martialischen Auftreten bei der Aufführung von Grabbes Die Hermannsschlacht in der JVA Tegel waren sie hier Zivilisten unter anderen Zuschauer-Zivilisten. Die Gefängnis-Anstalt und die einschüchternde polizeiliche ‚rite de passage‘, die man als Zuschauer durchmachen muss, gibt den Produktionsmitgliedern offensichtlichen Halt und quasi amtliche Bedeutung. Das spürt man. Sie gehören schon zu dem Regime des Gefängnisses – ihre déformation professionelle – ihr unvermeidbares ‚going native‘. Bei der gemischten Aufführung mit Schauspielern, ehemaligen Häftlingen, Freigängern und Laien – fällt die strenge polizeiliche Kontrolle aus. Ich war froh, diese beliebigen Koordinaten, den Spielort in der Wildnis gefunden zu haben, als Komfort-süchtiger West-Mensch – das Ganze ohne den vorhergesagten Überfall von Zecken, wogegen man sich schützen sollte – heil überlebt zu haben. Die Ankündigungen von beiden aufBruch-Aufführungen hatten in sich etwas Mahnendes, Forderndes – viele Vorschriften. Sogar in der Wildnis, im Fall von Regen dürfte man auf keinen Fall einen Regenschirm aufspannen, für Regenschutz-Kleidung hat man selbst zu sorgen. Tagelang bin ich erfolglos herumgegangen auf der Suche nach solcher Kleidung – bis ich in Woolworths eine „Mülltüte mit Ärmeln“, laut der Beschreibung der Verkäuferin, gefunden habe. Darauf habe ich aus Eitelkeit verzichtet. Lieber nass werden. Das Schicksal war mir gnädig. Der Regen blieb aus. Anti-Zecken-Spray habe ich gekauft, aber wegen der aufgeführten bedrohlichen Nebenwirkungen dann doch gelassen.

Einige Wochen vorher hatte ich schon die Hauptvorstellung der Saison im Gefängnis gesehen – Die Hermannsschlacht von Grabbe. Ich war dadurch einigermaßen vorbereitet auf die unverhoffte Gelegenheit, nach der Vorstellung von Romulus der Große mit dem Regisseur Peter Atanassow am allgemeinen Biertisch-Gespräch im Kulturbiergarten teilzunehmen. Hausmannskost konnte man aus einer nahstehenden hell erleuchteten Holzbaracke holen – die Preise waren niedrig (fast Ost-Preise). Der Regisseur aß irgendein deftiges Fleischgericht, vielleicht mit Bratkartoffeln.
Die schummrige, nach Zitrusfrüchten duftende Laube mit gestampfter Erde unter den Füßen hatte etwas vom ‚wilden Osten‘ und Italo-Western. Ich folgte der Empfehlung der Wirtin mit Raucherstimme und aß ein leckeres hausgemachtes saftiges Stück gedeckten Apfelkuchen zu einer Tasse sehr heißem unverfälschtem Kaffee. Der Boden atmete eine Keller-Feuchtigkeit aus – aber jenseits des spärlichen Lichts des Biergartens lauert „wie der Traum eines Raubtieres“ (Christian Dietrich Grabbe, Die Hermannsschlacht, aus dem Programmheft, Juni 2022) die unermessliche gähnende Dunkelheit der Jungfernheide mit ihrer ‚backstory’ von Scheiterhaufen und Duellen. Es fehlten nur die Schakale. Peter Atanassow, der Regisseur, ist ein großer Mann mit breitem Rücken und leicht wankendem Gang, trägt einen großen braunen Hut mit breiter Krempe wie John Wayne in The Searchers – sieht wie ein Sheriff oder ein Kopfgeldjäger aus. Er passt in diese Wildnis hinein. Er ist der Dompteur, der in das Löwen-Käfig-Gefängnis steigt – und die Statur und die Miene hat, um mit dem unbändigen, weltverneinenden ‚Verbrecher‘-Geist tanzen zu können.

Wie er mir nach der Romulus-Vorstellung erzählte, hat der Westen ihn nie verführen können, es wäre nur ein Tapetenwechsel – auch dort gäbe es Mängel, Frustration und Verhinderungen –, das hätte er bei Verwandten-Besuchen wahrnehmen können. Er hatte selbst ein Berufssoldat werden wollen – in der DDR. Zur Zeit der Wende war er Soldat in der NVA. Er hat sich damals gefragt, warum sie sich nicht wehren – gemeint ist die DDR-Regierung, der Staat. Lager für die zu inhaftierenden Rebellen waren schon vorbereitet – seine Einheit hatte ein solches Lager bereits zugeteilt bekommen. Er selbst war persönlich bereit, auf Demonstranten zu schießen, falls er den Befehl erteilt bekäme. Es kam nie dazu, weil die Sowjetunion ihre Unterstützung dem Regime entzogen hatte. Die stehende Rede in der DDR „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, hatte damit ausgedient.

Atanassows Theater-Rekruten wirken wie Fremdenlegionäre. Viele sind auch Ausländer. In einem anderen Leben hätten sie gut in die Legion hineingepasst. Man denke an Claire Denis’ Beau Travail. Stattdessen sind die Häftlinge Theater-Legionäre geworden. Atanassow rekrutiert sie für seine Ex-DDR-Freiheits-Kampfzone ‚Männerphantasien‘ (Theweleit). Wie echte Fremdenlegionäre dürfen sie für die Probe und Spielzeit ihre Identität hinter sich lassen, Decknamen annehmen – gemeinsam auf dem Schlachtfeld der Kunst –, Siegeskränze und Kunst-Eroberungen feiern.
In den Häftlingen (die romantisiert verklärt „Gefangene“ genannt werden) hat Atanassow eine formbare Theater-Masse, eine Theater-Miliz, seine dramatisch begabte Wehrsportgruppe entdeckt. Ihre ‚zweite Existenz‘ als bestrafte ‚Verbrecher‘ verleiht ihnen eine aufständische Glorie – im Aufstand gegen dieselbe West-Macht, die die DDR zunichte gemacht und zu Fall gebracht hatte.

aufBruch scheint wie die Verlängerung der Kultur-Kampfzone Ex-DDR in das Berliner Theater hinein. „Jetzt verlagert sich der Krieg ins Innere des Landes, ein Teil der Männer erhält die Bezeichnung Polizei, der Rest Kriminelle.“ (DJ Stalingrad, Exodus, Programmheft Die Hermannsschlacht, ibid.)
aufBruch treibt eine Art theatralischen ‚Partisanenkampf‘ – so wie ihn Carl Schmitt konzipiert hat. Es ist nicht überraschend, im Programmheft zu Die HermannsschlachtCarl Schmitt zitiert zu finden: „Der Stoff dieser Schlacht“, so Carl Schmitt, ist die „größte Partisanendichtung aller Zeiten.“ (Ausschnitt von Karin Grübmeyer, Extremist der Freiheit im Programmheft, ibid.) Grabbes Die Hermannsschlacht (geschrieben 1835–36) galt auch als des Führers Lieblingsstück – seine feierliche Uraufführung fand erst im Dritten Reich statt.
In vielen Probenfotos verschiedener Produktionen sieht man die aufBruch-Schauspieler in Kampfanzügen, in quasi militärischen Formationen. Die Chor-Form gibt unentwegt Anlass dazu. Einar Schleef ist der Ahn und das Vorbild für aufBruch. Seine Wiederbelebung des griechischen Chors war eine besondere Charakteristik seines Theaters – von manchem Kritiker wie auch von Peter Zadek als eine faschistische Ästhetik eingeschätzt. Wenn sich der Chor in Die Hermannsschlacht mit gespreizten Beinen vor dem Publikum frontal aufreiht, erinnern sie weniger an Guerilleros als an eine Kette bewaffneter Polizisten in Schutzmontur bei einer Demonstration. Angesichts der Umgebung des Gefängnisses – von Justizbeamten, naturgemäß dicht bevölkert – ist diese Angleichung nicht verwunderlich. Die Anstalt trägt dazu ihre eigene Ästhetik der Choreographie bei.

Der Einlass in die JVA Tegel ist schon Teil des Dramas, der Prolog in der Hölle. Man tritt förmlich in polizeilichen Gewahrsam für die Dauer des Aufenthalts. Nichts darf man mit hinein nehmen – nicht einmal Wasser. Eine besondere Erlaubnis bekam ich für ein Heft und einen Bleistift – als Journalistin. Ich musste wie alle Besucher meinen Ausweis abgeben – dafür bekommt man eine Besucherkarte –, die man später für den Ausweis wieder umtauscht. Ich habe andauernd die Karte in meiner Hosentasche berührt – aus Angst, mein Ausgangs-Billett verlieren zu können. Eine Beamtin hat mich noch gründlicher als am Flughafen abgetastet und körperlich durchsucht. Das Publikum wurde in Gruppen zum Spielplatz durch einen stillgelegten Trakt geführt. Der Trakt war als menschenunwürdig geschlossen worden, die gelben Türen der Zellen sind sehr niedrig. Auf dem Weg sahen wir blühende Beete – mit Lavendel, Rosen, Ziergräsern und Strauch-Veronika-Büschen. Die Arbeit der Inhaftierten. Die Anpflanzung war schöner als die, die man in der trockenen Hochsommerzeit in der Stadt sieht. Eine Häftlingsoase wie ein englischer Park. Die Häftlinge wässern mehrmals am Tag. Sonst lange Gänge oder Fluchten, „Stollen“ (wie beim Bergwerk) genannt, Innenhöfe, Karrees, endlos sich wiederholend. Als meine Gruppe noch im Eingang wartete, hörte ich lautes Brüllen – ich habe befürchtet, dass das Stück schon angefangen hatte. Ich fragte die Beamtin, ob wir den Anfang verpassen werden, ich hörte eben schon Schreie, „Das klang nach Theater“. Sie: „Nein, das ist Alltagstheater. Sie brüllen immer, aus dem Fenster, von Zelle zu Zelle oder einfach so.“ Sie wunderte sich darüber, dass die Häftlinge nicht mehr brüllten wegen der vielen Fremden, die durchlaufen.
Ich denke an Bressons Un condamné à mort s’est échappé. Im Knast soll man nicht die Stille des Klosters erwarten.

Die Szene am Spielplatz war afrikanisch, auch die Sonne – so wie in Ernst Jüngers Afrikanische Spiele – ein gottverlassener Kasernenhof irgendwo in der Wüste unter einer mörderischen, stechenden Sonne. Alle Fenster sind mit Eisengittern zugesperrt, die rote Farbe bröckelt von dem Backsteingemäuer auf die fest gestampfte gelbe Erde, aber die Rekruten stehen stramm oder bewegen sich rhythmisch im Takt – kein ‚anarchoides‘ Herumlungern auf der Bühne wie bei Castorf. Im aufBruch wissen alle Akteure zu jeder Sekunde was sie tun sollen. Ein anderer großer Unterschied:  im aufBruch brüllt der Block – in Castorfs Theater brüllt das Individuum.

Der erste Auftritt ist ungewöhnlich singulär – ein Solo. Der Sprecher war auch der schönste und größte Darsteller. Ein edler Wilder, ein Bantu-Prinz, hoch und schlank gewachsen, seine Haut hat die Farbe von Ebenholz, wie ein Panther in Gefangenschaft. Er trägt einen hohen Kragen aus breiten schwarzen Federn und spricht leidenschaftlich vom Befreiungskampf des Kongos aus Aimé Césaires Saison im Kongo. Das Konzept der Regie – die Hermannsschlacht sei ein sehr früher anti-kolonialer Krieg. Die Belgier waren die Römer von Afrika. Die Hermannsschlacht ist ein Prototyp des Kriegerepos als germanischer ‚Partisanenkrieg‘. Die Germanen sind leicht erregbar, in ihrer lächerlichen Tierkleidung sind sie nicht besser als das Vieh. Bedrohen sich ständig gegenseitig. „So ist es bei allen Freiheitskämpfen, sie vereinen sich unter einem Führer, danach fallen sie auseinander – erledigen den Führer – oder der Kampf bleibt stecken“, meint der Regisseur.
Diese Neigung, die deutsche Geschichte in die Dritte Welt auszuquartieren, entspricht der Denkweise der deutschen ‚nationalen Revolution“ seit den Tagen des Freikorps und des Nationalbolschewismus.
Nach dem Stück stehen viele ältere, weißhaarige, bleiche, gebeugte Rentner-Typen in seiner Nähe, plaudern mit dem schönen Wilden. Er ist wie ein großer gnädiger Baum und spendet ihnen gerne Schatten.


„Jeder Zentimeter ein Schlachtfeld“ heißt Hans Dieter Schütts Kapitel über Peter Atanassow in aufBruch – Das Berliner Gefängnis-Theater – Ein Porträt. „Viel hat sich ereignet in Tausenden Jahren, so wenig hat sich getan. Beständig bleibt: die Opulenz der Ruinen, das Schillern der Fäulnis, die Hochkultur der Zoten. Und immer wieder Militär.“ (ibid. S. 110)

Welches Schlachtfeld und um welche Schlacht es geht, bleibt ungesagt. Man kann wiederum nur raten. Hat Atanassow – wie Napoleon es nannte – den coup d’œil militaire?
Auf Grund des DDR-treuen Habitus und Weltbilds der künstlerischen Leitung des aufBruch Theaters liegt die Vermutung nahe, dass, in Die Hermannsschlacht zum Beispiel die Germanen und deren ‚Partisanenkampf‘ auch als die DDR-Autochthonen zu sehen und zu interpretieren sind. Die Römer sind die westdeutschen dekadenten Kolonisatoren. In Romulus der Große geht es wieder um römische Verlierer und germanische Sieger. Diesmal geben die Römer fast ohne Kampf auf, der Kaiser kümmert sich nur um seine Hühnerzucht – der Wille zur Macht und die Staatskoffer sind ihnen ausgegangen. Ist das wiederum eine Metapher für die politische Klasse der DDR und ihre ihnen treuen Legionen, die sich gegen ihre existentielle Auslöschung nicht gewehrt haben? Ist dies das Ur-Trauma und der Motor des aufBruch-Gefängnis-Theaters? Die ‚gebrochene Hegemonie‘ der DDR ständig wie in Groundhog Day weiter zu ‚spielen‘? Um zu sehen, ob es irgendwann doch anders ausginge? Schimmert für sie in jeder Niederlage des tausendjährigen Welttheaters, die von aufBruch inszeniert wird, die Ur-Niederlage unverändert wie ein Wasserzeichen durch? Die ‚stille‘ erstickte Niederlage der DDR? Aber nur im Gleichnis.




Buchcover: aufBruch – Das Berliner Gefängnis-Theater – Ein Porträt, hrsg. Hans-Dieter Schütt, Alexander Verlag, Berlin 2022
Gefängnistheater aufBruch, Die Hermannschlacht, 2022, Foto: Thomas Aurin
Gefängnistheater aufBruch, Romulus der Große, 2022, Foto: Thomas Aurin