Julia Voss

Hinter weißen Wänden

2015:November // Rebecca Hoffmann

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11-2015

Kunstkritik in megakapitalistischen Zeiten

In dem kleinen Begleitheft zu Jeff Koons’ Ausstellung „A Retrospective“ im Centre Pompidou wird der Leser im Galopp durch die Kunstgeschichte geschickt: Paläolithische Kunst, klassische Skulptur, Gustav Courbet, Marcel Duchamp, Robert Smithson, Dan Flavin ... Die Bezüge, die sich zu den Arbeiten von Koons finden lassen, sind zahlreich. Was in den kurzen Texten zu den Werkgruppen nicht behandelt wird, ist für das Format des Kunstpressetextes selbstverständlich, und dennoch exemplarisch: Es finden sich keine Informationen darüber, wie Koons zu einem der teuersten zeitgenössischen Künstler mit zahlreichen institutionellen Einzelschauen (Retrospektiven im Whitney Museum, New York 2014, und Centre Pompidou, Paris 2015) werden konnte. An dieser Leerstelle setzt das Buch von Julia Voss „Hinter weißen Wänden / Behind the White Cube“ an. Voss, stellvertretende Leiterin des Feuilletons der FAZ, will zeigen, warum bei der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst unbedingt auch das Netzwerk hinter dem erfolgreichen Künstler oder der Künstlerin zu betrachten ist: „Einige Kunstwerke werden heute ebenso professionell und profitabel kalkuliert wie das neueste Luxusauto. Trotzdem ist es ist noch immer üblich, über Kunst zu schreiben, als handele es sich um eine bedrohte Art.“ (S. 129)
Sammler, Galeristen und Netzwerker arbeiten an dem Aufbau gewinnträchtiger Marken mit, die Baselitz, Koons oder Hirst berühmt machten. Georg Baselitz, der sich bei all seinem Erfolg immer noch als outlaw der Kunstwelt geriere, habe von Beginn an einflussreiche Förderer hinter sich gehabt, und selbst der Skandal um die Galerieausstellung 1963 in Berlin, die ihm öffentlichkeitswirksame Schlagzeilen einbrachte, weil die Staatsanwaltschaft anrückte und Arbeiten beschlagnahmte, sei durch Freunde eingefädelt worden. Das, was Voss in ihrem Buch formuliert, ist keine grundsätzliche Kritik an der Praxis des Netzwerkens. Es geht Voss um die Finanzgewaltigkeit der neuen Kunstkreise und ihren Einfluss. In den Netzwerken kumuliere sich eine Macht, wie sie in der Geschichte noch nicht da gewesen sei. Die neuen Sammler sind nicht nur milliardenschwer, sie vereinen auch alle Zweige des Kunstbetriebs auf sich. Sie gründen Museen und stiften Kunstpreise.
Ein Drittel der 200 reichsten Kunstsammler, so zitiert Voss den Kunstsoziologen Ulf Wuggenig, seien heute Investmentbanker oder -manager. Und in der Folge diene die Kunst, die sie fördern, nicht nur der Repräsentation, sondern es werde kalkuliert und vor allem spekuliert. In Auktionen werden, teils durch vorher vereinbarte Preisgarantien, große Namen noch größer gemacht, damit der nächste vorläufige Verkaufsrekord ausgerufen und der Künstlername durch das Netz bis in den letzten Winkel der Welt getrieben werden kann. Die Großsammlergeneration, die diese Großkünstler hervorbringt, hat auch eine neue ästhetische Dimension. Die „Flip Art“-Künstler der Spekulationssammler produzierten „vorwiegend großformatig, auffällig und zahlreich, außerdem abstrakt“ (S.78) mit kunstgeschichtlichen Anspielungen: Gigantismus als „Epochenstil einer Finanzelite“ (S.129).
Während die finanzielle und ästhetische Dimension weitestgehend für das System Kunstmarkt relevant ist, betrifft die gesellschaftliche Dimension alle: Selbst die großen staatlichen, vom Steuerzahler mit unterhaltenen Museen suchen sich immer öfter Sponsoren, die sich in der Regel mit berühmten Namen in der Ausstellung einfacher finden lassen. Zudem sind die öffentlichen Häuser, schreibt Voss, „zunehmend darauf angewiesen, vorfinanzierte Ausstellungen aus Privatmuseen zu übernehmen, um Kosten zu sparen. Diese Entwicklung erinnert an die 1990er Jahre, als der mittelständische Einzelhandel in den Innenstädten den Filialen der großen Ketten weichen musste. Eine Sammlung von Gegenwartskunst kann heute dieselbe Tristesse verbreiten wie der Duty-Free-Bereich eines internationalen Flughafens, in dem sich die immer gleichen Luxusboutiquen aneinanderreihen.“ (S.127)
Was bleibt zu tun? Die Kunstgeschichte solle bei einem zeitgenössischen Künstler nicht nur formale Fragen beachten, sondern, wie sie es bei der Untersuchung eines Renaissancemalers tue, auch über die Netzwerke schreiben, die den Künstler fördern, meint Voss.
Der Vorschlag aber verkennt die Zeitlichkeit. Die Kunstgeschichte leistet einen anderen Dienst als die zeitgenössische Kunstkritik. Der distanzierte Blick ist im Austausch mit den Künstlern und Besuchen im Atelier, überhaupt in der Zeitgenossenschaft, schwer zu halten und er lässt sich nicht leicht differenziert abbilden. Hinzu kommt, dass ein Auftragstext, wie der eingangs erwähnte, nicht der Ort ist, an dem ein Künstler oder eine Künstlerin zerrissen wird.
Dass Kunsthistoriker bezahlte Kritiken schreiben, ist legitim, zumal ordentlich vergütete Stellen, wo sich Unabhängigkeit wahren ließe, rar sind. Das räumt auch Voss ein und fordert, dass zumindest diejenigen, die in den vermeintlich unabhängigen Positionen (Zeitungen, Museen) beschäftigt sind, nicht auch noch an der Wertsteigerung der Spekulationskünstler mitschreiben. Ebenso wenig, ließe sich ergänzen, sollte es kunsthistorische Seminare zu den am Markt sehr erfolgreichen Künstlerinnen und Künstlern geben, die über die neuen Machtgefüge hinweggehen oder den Werdegang der Künstler ausblenden.
Wer die Arbeit von Julia Voss in der FAZ verfolgt, dem ist vieles aus „Hinter weißenWänden“ bekannt. Dennoch lohnt die Lektüre. „Hinter weißen Wänden“ erinnert daran, dass Kunstgeschichte mit Macht und Einfluss geschrieben wird, und mahnt, weniger sehnsüchtig dahin zu schauen, wo es am hellsten zu glitzern scheint.

Julia Voss: Hinter weißen Wänden I Behind the White Cube, Merve Verlag, Berlin 2015