Björn Dahlem

Berlinische Galerie

2015:November // A.E.q.

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11-2015



Mare lunaris: Einmal Milchstraße hin und zurück

Oh Spacetime, child that you are of time/And of innocent emptiness of space/You are both stage and actor/In the great drama/ Of all that was and is
And ever shall be
John Archibald Wheeler (1991)


Nicht mehr und nicht weniger als unsere Galaxie, unser Sonnensystem hat der in München geborene Künstler Björn Dahlem für eine ortsspezifische Installation in der Berlinischen Galerie als thematische Vorlage gewählt. Sozusagen das große Ganze und das Nichts. Allerdings beschäftigt sich Dahlem, der aus einer Physikerfamilie stammt, schon seit geraumer Zeit mit der Astronomie und den verwandten Wissenschaften, der Quantenphysik und klassischen Physik. Was also bietet das Universum für einen Bildhauer an inhaltlichen Anknüpfungspunkten? Möglicherweise einen unendlich großen „playground“, um auszuprobieren, wie man Materie im Raum anordnen kann?
Zumindest bietet der Ausstellungsraum im Eingangsbereich für sein Vorhaben geradezu Idealmaße in Höhe und Breite an: Im hinteren Bereich thront auf hohen Stelzen eine Raumkapsel, in der per Bildschirm eine Traumsequenz übertragen wird, und der vordere Bereich des Raumes wird durch einen hölzernen weißen Milchstraßen-Parcours dominiert, auf dem sich diverse Skulpturen ansiedeln, die alle irgendwas mit dem Weltraum zu tun haben. Manches davon kennt man bereits, manches ist neu.
Das Terrain der Installation bietet dem Betrachter die Wahl zwischen verschiedensten Perspektiven – und das auf diversen Ebenen: entweder ebenerdig neben oder entlang der Milchstraße, aus der etwas höher gelegenen Raumkapsel, in die man per Leiter gelangt, fast wie in ein Baumhaus, oder von der Galerie im ersten Stockwerk, von der man das Ganze regelrecht observieren kann, sozusagen aus der Vogelperspektive, wie ein Satellit ohne fliegen zu können. Für eine noch höhere Dimension müsste man Physiker sein oder bei der NASA arbeiten: Eine spannende Vorstellung, unsere Galaxie von Außen betrachten zu können, quasi als Feldstudie und ohne Astronaut zu sein, was die wenigsten Besucher der Ausstellung wohl sind. Also braucht man ein Modell als vermittelnden „Näherungswert“, um das unfassbare Universum in eine ansatzweise fassbare Form zu bringen, oder Künstler, die eben solche disziplinären Schnittstellen in ihren Arbeiten aufgreifen. Der Weg zum Konkreten erfordert ja den Umweg über die Abstraktion, wobei das hier vielleicht genau umgekehrt ist.

Teilnehmende Beobachtung im Mondmeer
oder wo ist der Messfehler?

Neil Armstrong tat 1969 einen kleinen Schritt als er den Mond betrat, der dann ein größerer für die Menschheit sein sollte. Er landete nicht nur auf dem Mond, sondern zeitgleich in einem Meer, dem mare tranquilitatis, dem Meer der Ruhe. Seitdem und auch schon vorher tüftelt die Menschheit an der Vision, Leben auf anderen Planeten zu finden oder unsere Spezies dort mal anzusiedeln oder auch in andere Galaxien zu reisen. Auch Dahlem beschäftigt sich mit den sogenannten Schwarzen Löchern, hinter deren Ereignishorizont andere Welten liegen sollen, in denen unendlich viel Materie und Information verschwindet, aber kein Licht mehr rauskommt und das obwohl dort so viel Sonnenmasse vorhanden ist. Und genau so ein schwarzes Loch könnte man bei einer scheibenartigen schwarzen Membranskulptur vermuten. Tatsächlich ist hier auch ein Schwarzschild dargestellt, benannt nach dem Physiker Karl Schwarzschild. An der Wand, also etwas außerhalb des Sonnensystems, hat sich so etwas wie eine antennenartige Skulptur verirrt. Ob ich damit Signale empfangen oder mit dem Künstler höchstpersönlich in Kontakt treten kann oder gar mit extraterrestrischen Wesen? Der Buchstabe „P“ an der Skulptur ist ein Hinweis auf die Skulpturenserie „Partikel“ des Künstlers: Kleinste Elemente, die physikalisch nur indirekt messbar sind. Die schmale Säule im Mittelpunkt der Milchstraße, auf der ein monstranzartiger goldener Baum montiert ist, erinnert mich irgendwie an die Nelson Säule auf dem Trafalger Square, obwohl da eigentlich gar keine Ähnlichkeit besteht. Hier ist es wohl im übertragenen Sinne die Erhabenheit eines liturgischen Schaugefäßes, einer Monstranz. Weniger Flohmarkt-Tortenplatten, die man sonst von Dahlem gewohnt war, lassen die Skulpturen weitaus verspielter und luftiger wirken, als hätte Alexander Calder oder Tinguely Pate gestanden. Charakteristisch in Dahlems Arbeiten sind die Sockelstrukturen, auf denen die einzelnen Skulpturen montiert sind und die sich aus verschiedensten Polyedern zusammensetzen, die laut Platon die Grundstrukturen der vier Elemente bilden. Laut aktuellem Ausstellungskatalog hat Dahlem in seiner Installation Referenzen zu barocken Wunderkammern aufzeigen wollen, Kuriositätenkabinette, in denen einerseits der universale Zusammenhang der Dinge vereint war, aber auch sakrale Exponate; eine Art mésalliance unterschiedlichster Gegenstände, bevor diese Artefakte und Naturalia in den unterschiedlichsten thematischen Sammlungen aufgeteilt wurden. ­Kuriositätenkabinette sind die Vorläufer der modernen Museumskultur und zu beobachten ist dieser im Grunde konservative backlash innerhalb der gesamten Museums- oder Sammlerkultur, man denke nur an die Sammlung Olbricht.
Die Frage wäre also, ob man das Universum als Kuriositätenkabinett darstellen kann oder sollte? Allerlei Staunenswertes und Interessantes gibt es hier zwar allemal, aber wozu der Rückgriff auf diese Sammlertradition?
Nun gilt hier wohl Heisenbergs Bemerkung, dass sich die Wirklichkeit mit dem Betrachter verändert oder erst durch ihn entsteht. Zumindest ist diese Aussage für Dahlems Arbeit maßgeblich, wie er in einem absolut lesenswerten Gespräch zu seiner Ausstellung The End of it all im Braunschweiger Salve Hospes 2012 mit dem Physiker Jochen Litterst aufzeigt. Man könnte fast sagen, dass Dahlem in der Tradition von Aby Warburg steht, der 1928 diverse Gespräche mit Albert Einstein und Cassirer führte. Warburg, der sich intensiv mit der Ikonologie beschäftigte, suchte beständig den Brückenschlag zwischen den verschiedensten Disziplinen. In seinem Mnemosyne Bilderatlas taucht u.a. auch Keplers Modell des Sonnensystems auf, der die angenommene barocke symmetrische Kreisbahn des Mars gegen die moderne, weil asymmetrische elliptische Umlaufbahn „austauschte“ und somit das moderne Denken einleitete.
Die Frage ist ja immer, aus welcher Perspektive wir die Dinge betrachten, und hier kommen die Dimensionen von Ort und Zeit ins Spiel. Den Ort kann man als Betrachter in der Ausstellung wechseln, aber mit der Zeit wird es schon komplizierter, denn sie läuft nach unserem subjektivem Empfinden immer linear vorwärts, wobei das auch nicht so ganz stimmt, wenn man an Tizians Bild die „Allegorie der Zeit“ denkt, an die Zeitzonen auf der Welt oder an das, was Physiker oder Mathematiker sich vorstellen, indem sie einfach die Vorzeichen einer Gleichung umkehren. Auf dem Mond waren wir schon, aber bisher hat es jedenfalls noch niemand „real“ geschafft, in der Zeit rückwärts zu reisen. Was aber den entscheidenden Unterschied zwischen der Unfassbarkeit des real existierenden Universums und der Installation macht, ist die sprichwörtliche Fassbarkeit, das Haptische des Ganzen. Ich kann die Skulpturen anfassen oder auf der Milchstraße hin- und herlaufen.
Dann käme zu der Frage, was verändert sich also möglicherweise im Universum, wenn wir es beobachten oder abbilden noch die Preisfrage hinzu, was passiert, wenn wir es anfassen? Ein Sonnenbrand oder sogar ein Kälteschock? Hier geht wahrscheinlich die Alarmanlage an und ich bekomme Hausverbot. Eine wahrhaft spielerische Analyse des Universums, die wir am mare serenitatis stehend, dem Meer der Heiterkeit, beobachten können.

Anordnung von Materie im Raum
Dahlems Interesse für die Astronomie, Physik oder Quantenphysik und dessen bildhauerische Umsetzung ist daher nicht als erschöpfendes Erklärungsmodell derselben zu verstehen, sondern verweist neben zahlreichen ironischen Ansätzen vielmehr auf die inhärenten Grenzen, sowohl innerhalb der Naturwissenschaften als auch im Bereich der Bildhauerei. Sie sind irgendwie „Materie im Raum“. Das wäre sozusagen eine Erkenntnis; es ist sowieso schon alles da, egal ob wir es beobachten oder nicht. Das hatte schon Einstein gesagt und Dahlem weiß das wohl auch bereits.
Seine Skizzen für die Skulpturen sind ähnlich zu verstehen; es sind keine wissenschaftlich korrekten Zeichnungen oder Illustrationen, sondern Ideensammlungen, in denen sich Termini der Quantenphysik, Physik und Astronomie wiederfinden und nebenbei die poetische Einschlagkraft der oben genannten Wissenschaftsbereiche offenbaren, was einem als Außenstehender zunächst gar nicht geläufig ist: Da wäre als eines der Mondmeere das mare tranquilitatis zu erwähnen, das mare crisium hatte ja bereits schon Arno Schmidt inspiriert, dann Spiralarme, von denen unsere Milchstraße vier umgeben, die M-Zeit, die eine spukhafte Fernwirkung erzielt, die Abflachung und Bulge von Spiralgalaxien oder der Teilchen-Welle-Dualismus usw.
Konzentriert man sich beim Betrachten auf die Formensprache und Materialwahl der Installation, dann fällt einem bei Dahlem immer wieder der Kontrast zwischen geometrisch­abstrakt und barockgeschwungen auf. Die Milchstraße und die Raumkapsel sind aus geometrischen Formen zusammengefügt, die Skulpturen weisen eher barocke, bzw. geschwungene runde Formen auf. Dahlem verwendet ganz bewusst nur einfache Materialien wie Sperrholz, Leichtmetall oder Flohmarktfundstücke, sowie Chemielaborutensilien. Das unterstreicht den Work-in-progress-Charakter des ganzen Unterfangens.

Fazit: Alter (Bruder) Jakob schläfst du noch?
Und der Mond hat noch soviel mehr Meere anzubieten: An welchem Mondmeer die Raumkapsel gelandet ist, verrät uns Dahlem aber nicht. Es könnte tatsächlich das Meer der Ruhe sein, wenn man eine Verbindung zwischen der Raumkapsel, der Traumsequenz, dem Gott der Träume, Morpheus und dem Schlafmohn oder Freud ziehen will und eine Arbeit von Dahlem aus dem Jahre 2008 als Referenz hinzuzieht.
Sind wir womöglich durch die Sonne gezwungene rotierende Körper, die elliptische Kurven am Rande eines nicht vorstellbaren Universums ziehen?
Schauen wir doch mal in die Raumkapsel und gönnen uns eine Pause, essen ein ekelhaft süßes Milky Way oder einen Marsriegel und denken über das Keplersche Marsproblem, Russells Teekanne oder die kleine feine Ausstellung nach, die mit Sicherheit auf die universellen Fragen unserer Existenz verweist und sagen mit Robert Koch: „Diese Frage ist zu gut, um sie mit einer Antwort zu verderben.“A.E. q:

P.S.: Ich gehe anschließend, mit Brigitte Reimann gesprochen, Richtung (Franziska) Linkerhand in die Architektur Ausstellung „Radikal Modern“. Das ist dann doch greifbarer für mich, weil auf der Erde.

Björn Dahlem „Mare Lunaris“, Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin, 29.5.–24.8.2015