Zu wenig Kritik?

2015:November // Anna-Lena Wenzel

Startseite > 11-2015 > Zu wenig Kritik?

11-2015

„Die Gesellschaft erfindet unaufhörlich eine neue Sprache
und erfindet gleichzeitig eine neue Kritik.“
Roland Barthes1

Immer wieder wird der Untergang der Kunstkritik beschworen, wird darüber lamentiert, dass die neue Generation nicht kritisch genug ist, sich nicht mehr traut, Verrisse zu schreiben.2 Mich nervt diese pauschale Kritik, denn es gibt durchaus kritische Organe, entstehen neue (Online-)Formate. Aber es wird anders argumentiert als damals, es gibt eine neue Sprache. Die Zeiten der vereinfachenden Polarisierungen und Polemisierungen sind vorbei. Deswegen sind diese Texte nicht unkritischer. Sie wählen nur eine andere Form.
Tatsächlich wäre aber eine Diskussion darüber, was eine gute Kunstkritik ausmacht, sinnvoll. Dazu gehört, wie Hanno Rauterberg fordert, als Kritiker die Kriterien offen zu legen und die eigenen Maßstäbe herauszuarbeiten, um zu zeigen, dass sich über Kunst und Geschmack sehr wohl streiten lässt.3 Das bedeutet, es kann nicht (mehr) darum gehen, eine Art Wahrheitsanspruch zu vertreten, sondern die eigene Position transparent und nachvollziehbar zu argumentieren.
Susan Sontag nimmt diesen Gedanken in ihrem Buch Against Interpretation vorweg. Sie schreibt, dass jede Interpretation reaktionär sei, wenn sie das Kunstwerk auf seine Bedeutung reduziere, denn dadurch würde die Kunst gezähmt und zum konformen, handhabbaren Konsumgut transformiert werden.4
Kunstkritik solle dagegen, so forderte Helmut Draxler 2013 richtig, „nicht mehr ausschließlich an einer Beschreibung und Einordnung einzelner Kunstwerke ansetzen. Vielmehr muss sie eine Reflexion der Bedingungen und Verhältnisse des Kunstfeldes leisten, die sich seit den 1980er Jahren dramatisch verändert haben und die zumindest darüber mitbestimmen, was überhaupt und unter welchen Umständen als Kunst gelten kann. […] Kunstkritik scheint zunehmend gefragt, solche Ansprüche zu reflektieren und in Zusammenhang mit ihren konkreten Produktions- und institutionellen Erscheinungsweisen zu setzen. Dies setzt jedoch ein historisches Modell des Verstehens zeitgenössischer Kunst jenseits der modernistischen oder avantgardistischen Narrative voraus, das die einzelnen Praktiken oder Phänomene in ihren Logiken, Zielsetzungen und Zusammenhängen zu erfassen erlaubt.“5
Wenn dagegen die Berichterstattung über Kunst im Feuilleton der Zeitungen auf den Kunstmarkt und große Museums­ausstellungen beschränkt bleibt, wird ein sehr einseitiges Bild gezeichnet. Kunst tritt lediglich als irrationales Luxus- bzw. Anlageobjekt in Erscheinung oder findet als Großausstellung in einem der bekannten Kunsttempel der Welt Erwähnung. In Erinnerung bleiben die Rekordpreise, die auf Auktionen erzielt werden oder die immer gleichen kanonisierten Künstlernamen. Zu oft verbleiben die Kritiken in einer Beschreibung der Werke und bei einem Abgleich mit kunsthistorischen Referenzen. Ausstellungsformate, wie temporäre Veranstaltungen (Performances und Festivals) sowie kleinere Veranstaltungsorte wie Projekträume, Zwischennutzungen oder interdisziplinär angelegte Kunsträume werden kaum erwähnt. Alles, was nicht in das klassische Ausstellungsformat fällt wie Kunstvermittlung, Begleitprogramme, Ausstellungstexte und Pressemitteilungen wird kaum beleuchtet, ebenso wie die Art der kuratorischen Inszenierung, der Hängung oder der Umgang mit dem Raum. Es fehlt an Hintergrundberichterstattung zu Fragen, wie Ausstellungen überhaupt zu Stande kommen, wer sie finanziert und wer daran verdient. Aber auch, wie sich die Produktionsverhältnisse und Arbeitsweisen für Künstler gestalten. Statt die Sichtbarkeit und damit auch die gesellschaftliche Wirkung von Kunst auf ihre Präsentation in Ausstellungs- und Aktionshäusern zu beschränken, sollten zudem stärker ihre Wechselbeziehungen zur Gesellschaft in den Blick genommen werden.


1 Roland Barthes: Körnung der Stimme, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, S. 49
2 Z.B. Hanno Rauterberg: Die Feigheit der Kritiker ruiniert die Kunst, zit. n. http://www.zeit.de/2004/05/Kunstkritik
3 Vgl. Hanno Rauterberg: Und das ist Kunst? Eine Qualitätsprüfung, Fischer, Frankfurt a. M. 2007, S. 75
4 Vgl. Susan Sontag: Kunst und Antikunst, Hanser Verlag, München 1980
5 http://kunstraum.leuphana.de/projekte/draxler.html