Onkomoderne

We resist

2015:November // Christina Zück

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11-2015

Das Erdmännchen bettet sich auf zwei überdimensionale hautfarbene Ohrstöpsel. Die Figur auf der bettkastengroßen Plexiglasvitrine bleibt dabei merkwürdig steif, es scheint ihr nicht zu gelingen, weich nachzugeben und den Körper den als Kissen dienenden Stöpseln anzupassen. Sie sind auch viel zu groß, um sie in irgendwelche Ohren einzuführen. Erdmännchen verkriechen sich in unterirdische Gänge, aber hier in der Galerie BQ liegt eines exponiert im Getümmel des Galerienrundgangs zur Eröffnung der Berlin Art Week, um es herum stehen Menschen mit bunten Schlabberparkas, zu großen Rucksäcken, Basecaps und Dauerlächeln im Gesicht, die sich superinteressant miteinander unterhalten. Das Erdmännchen blickt auf eine in Mondsichelform gebogene Neonröhre im Inneren der Vitrine. Ich habe sofort Mitgefühl für die traurige und sehr lustige Skulptur. Ein ganz ernsthaftes Begehren richtet sich auf ein industriell produziertes Innerlichkeitsschema, dargestellt durch das es rosa anleuchtende Mondsichel-Symbol. Ähnliche scheiternde Objektbeziehungen kehren in den anderen Arbeiten Friedrich Kunaths wieder. In einer Landschaftsmalerei, einem sonnenuntergangsfarbenen Spraypaint-Szenario mit Bergen, Felsschluchten und reißendem Fluss, steht ein Comic-Baum mit Gesicht und hält einen Telefonhörer in den Raum: „It’s Friedrich“. Ob da das eigene Über-Ich am Telefon ist oder das der bildmächtigen Vorväter? Um einen mit weißem Teppich ausgelegten Raum zu betreten, muss man die Schuhe ausziehen, Körperfragmente aus Gips liegen herum wie von Monumentalskulpturen heruntergefallen, Malereien rotieren und eine weitere Kitschlandschaft erscheint in den Umrissen des Wortes RELAX. Die Konflikte zwischen kommerzieller Wunschproduktion, authentischer Sehnsucht und der eigenen Überforderung setzt Kunath in humorvolle bis hysterische Malereien und Objekte um, die sich als Opfer eines übersteigerten Therapiediskurses immer wieder selbst umzirkeln. Ich freue mich, in Kunaths Arbeiten Elemente zu erkennen, zu denen ich mich mit meinem im Verhältnis zu den anwachsenden Informationen immer kleiner werdenden Wissenshintergrund in Beziehung setzen kann. Wie bei Caspar David Friedrich, den Kunath als popkulturellen Überkünstler dauernd zitiert, lassen die Arbeiten etwas aufscheinen, das größer ist: Eine Unendlichkeit, die heute nicht mehr als göttlich kodiert ist, sondern als Maschine aus Diskursen, Produktionsketten, Bürokratien, Technologien, Algorithmen – in einer HKW-Konferenz nannten sie es Technosphäre –, die uns Menschen einbindet und uns Gefühle der Machtlosigkeit einflößt. Verwirrende Kunst zu machen ist eine Form des Widerstands. Bei mir hatte sich inzwischen auch ein Widerstand dagegen entwickelt, die seltsamen Werke in aktuellen Ausstellungen mit Interesse zu betrachten, die theoriegebeutelten Texte zu lesen und dem, was spontan als Bullshit erscheint, immer wieder eine Chance zu geben – es zum Beispiel als Entkopplung von Zeichen und Referent zu sehen. Es ist aufreibend, den auf uns einprasselnden Kräften Gegenkräfte entgegenzusetzen, doch genauso zermürbend ist es, gut gelaunt und akzelerationistisch im Flow der Zeichen und Technologien mitzurauschen. Ein typischer Doublebind.

Zwei Häuser weiter in der Galerie Nagel Draxler gelangt man hinter dem Büroraum ins Treppenhaus und dann in eine leerstehende Wohnung mit gelblich verblichenen Tapeten und ochsenblutfarbenen Dielen. „Hier am Rosa-Luxemburg-Platz so eine Wohnung! Wie früher in den Neunzigern.“ Die Leute sind ganz beeindruckt. „Die ist schon weg, mach dir keine Hoffnungen.“ Hans-Jörg Mayer steht umringt von Bekannten in seiner Ausstellung „Ocean Spray“. In den Räumen gehängt sind Bilder einer nackten Frau mit dunklen kurzen Haaren, die hinter expressiv hingejizzten gelben und blauen Farbschlieren fast verschwindet. Jiz Lee ist eine genderqueere – sich nicht als Frau identifizierende – Pornodarstellerin, die innerhalb der Industrie die Kontrolle und die Rechte über ihre Produktionen behält. Chat und ich bewundern die zickzackförmig gemalte Beinbehaarung der Aktfigur, und Hans-Jörg erzählt, dass er in Comics die Körperhaare oft so dargestellt gesehen hat, und dass er das schon immer mal zeichnen wollte. „Bist du jetzt auch Feminist geworden?” fragt Chat. Sex und Gewalt seien Themen, die immer wieder in seinen Arbeiten vorkommen. Zusammen betrachten wir seinen Katalog mit verspielteren und erzählerischeren Malereien von androgynen Frauen, die entfernt an Balthus erinnern. „Hans-Jörg, du sollst doch auf dich achten, vor drei Tagen war erst die OP!“ ruft ihm eine Freundin zu, und er schaut auf den schnapsglasgroßen Plastikbecher, in dem die Galerie Weißwein an die Besucher ausschenkt, „ist doch nur ein kleiner Schluck.“ Hans-Jörg trägt eine alte bunte Trainingsjacke und ein offenstehendes ungebügeltes Hemd, wie man das Mitte der Neunziger trug, als Bewohner mit Wohnungsberechtigungsschein dieser von der Wohnbaugesellschaft noch nicht an die Eigentümer restituierten Häuser, im Stil elegant auf der Kippe zwischen Hipster und Sozialfall balancierend. Ein Widerstand sein. Dastehen wie ein Gender-Sternchen im Fließtext. Sei es der eigene Körper, die Leinwandoberfläche oder die eigene Innerlichkeit, alles verwandelt sich mit oder ohne eigenes Zutun in ein Produkt. Das Revoltieren wird zum Dauerzustand, passiv-aggressiv, traurig, gefährdet, schillernd, mit besten Wünschen an den Kapitalismus, dass er auf dem Glibber ausrutschen möge.

Auf der Weydinger Straße stehen die Leute in Gruppen zusammen, reden, trinken Bier, es ist abends noch warm Mitte September. „Schau mal die Litfasssäule“, sagt Chat. „Merkel köpfen“ hat jemand mit Filzstift auf ein Filmplakat von „45 Years“ neben das Gesicht von Charlotte Rampling geschmiert. Abscheulich. Wir kratzen mit den Fingernägeln an den Rändern des Plakats, es klebt zu fest. „Hast du einen Filzstift zum Übermalen?“ „Nur einen Kuli.“ Durchstreichen sieht zu harmlos aus. Uns fällt nichts ein. Christoph Schlingensief hatte 1996 im Prater der Volksbühne „Tötet Helmut Kohl“ aufgeführt, aber das war Ironie. Eine Gruppe Bekannter kommt gerade aus der Volksbühne, wo sie die Installation „Rebel Dabble Babble“ von Paul und Damon McCarthy gesehen haben. Sie sind begeistert. „Die nehmen unsere Gegenwartskultur auseinander“ sagt Oliver, „aber ich würde euch nicht raten, da reinzugehen, das ist wirklich zu hart, mit Porno und sich Bekacken. Frauen werden die ganze Zeit gequält, da kommt ihr schlecht drauf. Na, sexistisch meinen die das nicht, eher als Kritik am Kapitalismus, so sieht jetzt mal die Kultur aus. Männer wollen das genauso sehen, darauf fahren die im Internet ab.“ Wir gehen alle in den Hinterhof vom Spike-Projektraum, wo Würstchen gegrillt werden und um 22 Uhr die Polizei kommt, weil die Anwohner Ruhe haben wollen.

Die Installation in der Volksbühne besuche ich ein paar Tage später. McCarthy und sein Sohn haben mit Hollywoodproduktionsmitteln ein Remake des Films „Rebel Without a Cause“ gedreht, das die Beziehungen des Regisseurs Nicholas Ray zu seinen Schauspielern Natalie Wood und James Dean während des Drehs in den Fokus rückt. Der gesamte Raum ist von großen Leinwänden umzirkelt, auf denen verschiedene Szenen aus dem Film zu sehen sind, die mehr wie Performancevideos erscheinen. Im Zentrum des entstuhlten Zuschauerraums steht ein kleiner Bungalow, Nachbau aus dem Château Marmont in L.A., und das Bühnenbild aus „Rebel Without a Cause“ mit Wohnzimmerinterieur und Treppe, in dem McCarthy seine Szenen filmte. Es dreht sich langsam mit der großen Bühne und bewegt mit einem Projektor ein zusätzliches Bild über die Leinwände. Durch die Fenster des kleinen Hauses sieht man ein Sofa gegenüber einem Projektor, der explizite Pornoszenen mit der Haupdarstellerin Elyse Poppers an die Wand wirft. Auf dem Couchtisch liegen in Plastik verpackte Kleidungsstücke, wie nach einem Verbrechen oder einem Online-Shopping. Das Haus, Symbol für das menschliche Innere, Schutzraum, Habitat der Kleinfamilie, die bei Wilhelm Reich bekanntlich als die Keimzelle des autoritären Charakters galt, nimmt hier die Form eines schäbigen Luxushotelbungalows an, in der ein Hollywoodfilmteam ödipale und missbrauchende Familienstrukturen entwickelt. Die Installation lässt die von der Hollywood- und Pornoindustrie produzierten Bilder ganz konkret in den privaten Raum eindringen, der wiederum genau das Material liefert, aus dem sie sich generieren. Die Betrachter, wir, die zivilisierten, kritisch denkenden und politisch auf der richtigen Seite stehenden Volksbühnengänger, werden mit den Feedbackschleifen und Phantasmen des Abjekten begossen. Ich muss irgendwann lachen. In die Wände des Bungalows sind Löcher gesägt, man kann hindurchschauen, POV, und auf der Leinwand sieht man, wie sie gesägt werden, wie Männer mit großen Nasen Videokameras halten und in die Löcher hineinfilmen. Unter Fußböden kriechen sie herum, wie bei Vito Acconci, ziehen sich die Stühle weg, wie bei Bruce Nauman, FUCK YOU FUCK YOU FUCK. In einer anderen Szene liegt die Hauptdarstellerin mit dem jungen Helden im Bett und glaubt an die romantische Liebe. In einer Badewanne mit brauner Sauce, die aus dem alten Mann, dem Vater, herausläuft, wird sie beschmutzt, wie bei den Wiener Aktionisten. Irgendetwas Gewalttätiges passiert in der Treppe, von der Paul McCarthy in einem Interview als „the staircase of trauma“ spricht. Man hält es nicht länger als eine halbe Stunde aus. Im Interview mit Tom Eccles auf YouTube erzählt McCarthy, dass er entschieden hat, die Produktionsmittel der Filmindustrie zu nutzen und sich den daraus folgenden Zwängen und dem Zeitdruck zu unterwerfen, um mit seiner Arbeit in einem viel größeren Maßstab Dinge zu verändern, also ins System hineinzugehen, um innerhalb des Systems den Widerstand gegen das System nach vorne zu treiben. Er bringt in „Rebel Dabble Babble“ die verschiedenen Ebenen der kulturell produzierten und vom konditionierten Publikum begehrten Gewalt zusammen – Hollywood, Internetpornografie, Performancekunst, Videokunst, das Castorfsche Schreitheater – in einem begehbaren Bild. Zusammenhänge eröffnen sich, die vorher nicht so klar und ernüchternd zu erkennen waren. Aber auch Zweifel: Generiert das Überschreiten von Grenzen nicht noch mehr Wünsche nach dem Überschreiten von noch mehr Grenzen? Noch mehr Hassmonster, die jetzt ihre verschimmelten Fantasien in die Wirklichkeit umsetzen und Menschen köpfen? Mehr Close-ups von Penetrationen in Galerien und Museen? Ich wünsche mir so sehr, und es klingt wie eine romantische Fantasie, dass der Drache, der immer mehr Gewalt produziert, sein letztes Röcheln ausstößt, erledigt, egal wie, zum Beispiel geschwächt durch manischen, ihn selbst imitierenden Widerstand. Man würde mitrennen, dabei schneller rennen als das gegnerische System, und Widerstand leisten, ohne dass es so aussieht. Also das System auch täuschen, während man im Gonzo-Stil die Kamera ganz dicht drauf hält. Kann das gutgehen? Wir gehen nach nebenan in die Bar 3, um das alles nochmal zu diskutieren.

Fotos: Christina Zück