Handlungsoptimismus

2015:November // Seraphine Meya

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11-2015

Zahllose Menschen sind auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Zerstörung. Europa baut Zäune, um die Menschen davon abzuhalten, in Sicherheit zu gelangen. Anstatt folgerichtig Verantwortung für die eigenen politischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte zu übernehmen, fühlen sich die Europäer und Deutschen, wenn sie dann doch helfen, heldenhaft. Der Wohlstand, der uns so großmütig helfen lässt, ist auf einem globalen Ungleichgewicht gewachsen. Dieses Verteilungsproblem ernährt uns beispielsweise mit den delikaten Atlantik­fischen, die irgendwann einmal Überlebensgrundlage der afrikanischen Fischer waren. Dieses Verteilungsproblem lässt uns Waffen in Länder exportieren, deren Kriegsflüchtlinge uns dann ganz „überraschend“ auf die gut genährte Pelle rücken. Zynismus ist hier fehl am Platz und die Frage nach der Dringlichkeit des eigenen Tuns sollte nicht erst auftauchen, wenn Menschen hilfesuchend unmittelbar vor der eigenen Tür auftauchen. Baustellen gibt es auf der Welt genug. Unser Handeln ist das Mittel, Einfluss zu nehmen. Handeln kann heißen, aktiv zu helfen und im Flüchtlingsheim Kinder zu betreuen. Handeln kann auch heißen, die Augen nicht vor der Realität zu verschließen, versuchen zu verstehen und das Verstandene weiterzuvermitteln. Auch das kann Kunstkritik bedeuten. Sie ist eine intellektuelle Metaebene über dem Geschehen der Kunstwelt. Kunstkritik kann der Moment sein, in dem Gesellschaft, Geschichte, Kunst und Politik zu einem schlüssigen Ganzen verschmelzen. Der Moment, der die allgegenwärtige Transdisziplinarität der Kunst in den Diskurs einschreibt. Doch manchmal abstrahiert die Kritik das Geschehen in weit entfernte Sphären. Ein fiktives Beispiel dieser Sphären könnte so lauten: Während einer großen Demonstration auf einem öffentlichen Platz gegen Einschränkungen der Grundrechte debattieren Kritiker in einem Konferenzsaal über die richtige Ausdrucksform von Radikalität. Die Diskussion driftet manchmal so weit ab, dass die Verbindung zur Realität und dazu, warum man über Radikalität diskutiert, nicht mehr erkennbar ist. Es werden Philosophen und ihre Theorien gewälzt und man lässt sich auf Detailfehlern gedanklich davon tragen.
Natürlich stecken Menschen hinter Kritikern. Menschen haben Fehler und Menschen haben Egos. Die Egos spielen Menschen manchmal einen Streich, wenn sie besonders nach Zuwendung dürsten. In einer Kritik geht es dann plötzlich nicht mehr um eine sinnvolle Analyse der Realität, sondern um Gefühle und Meinungen der Autorin oder des Autors und deren unerschöpfliches Wissen, das eine Bühne braucht.
Der Raum der Kunst ist grundsätzlich einer, in dem Meinungen nicht nur frei, sondern auch absurd und utopisch sein dürfen. Künstlerische Äußerungen in jeder Form dürfen die ästhetischen und inhaltlichen Erwartungen herausfordern und irritieren. Sie dürfen gesellschaftliche und politische Konventionen brechen und laut und unpassend sein. Eine Freiheit, die uns hierzulande manchmal so selbstverständlich erscheint, dass wir, statt sie ernst zu nehmen, beginnen mit bürokratischen Formalien zu zerlegen, was denn nun rechtmäßig Kunst sei und was nicht. Dabei ist der Freiheit nie zu viel oder zu wenig, vielmehr ist der bewusste Umgang mit vorhandener Freiheit wichtig, damit sie uns nicht weggenommen werden kann. Diskussionen im Kunstkontext enden sonst in detailreichen, bürokratisch anmutenden Kleinstkämpfen und sind weit entfernt von dem, was im hier und jetzt relevant erscheint. Natürlich ist die Frage: was ist denn schon relevant im Angesicht einer humanistischen Katastrophe? Eigentlich sollten wir alle bei den Flüchtlingsheimen sein und helfen, statt Texte zu s­chreiben oder zu lesen, Kunst zu machen oder zu rezipieren. Die Freiheit, die wir haben, uns auszudrücken und zu äußern ist deshalb auch eine Verantwortung. Eine Verantwortung, für die eigenen Überzeugungen und Ideale aufzustehen und stehenzubleiben. Die Realität wahrzunehmen, auch wenn sie grausam ist – sie zu analysieren und danach zu handeln. Kunstkritik bedeutet heute mehr denn je, sich dafür einzusetzen, die Freiheit, die uns viel zu selbstverständlich erscheint, einzufordern und auszuweiten.
Collage: Andreas Koch