Tino Sehgal

Martin-Gropius-Bau

2015:November // Anna-Lena Wenzel

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11-2015

Die Präsenz der Körper

Eine institutionelle Einzelausstellung im Kunsttempel des Martin-Gropius-Baus von einem Künstler, der stets bemüht war, sich kritisch zum Kunstbetrieb zu verhalten? Eine Werkschau mit Arbeiten, die man doch alle so oder so ähnlich schon mal gesehen hat?
Meine Skepsis gegenüber der Ausstellung ist groß, aber sie bekommt schon beim Kauf der Karten einen Riss. Sofort wird klar, dass hier irgendwas anders ist: der Verkäufer kann (und soll auch) keine Auskünfte zur Ausstellung erteilen. Er sagt das mit einem gewissen vorwurfsvollen und zugleich entschuldigenden Unterton, aber es wird doch deutlich, dass er das ein bisschen merkwürdig findet, dass ein Künstler darauf verzichtet, jegliche Information, inklusive Fotos und Katalog, zur Verfügung zu stellen. Ob intendiert oder nicht: indem er den Kartenverkäufer seiner eigentlichen Funktion beraubt, macht ihn Sehgal bereits zum Teil seiner Ausstellung.
Diese besteht aus fünf Performances, die im Erdgeschoss auf verschiedene Räume verteilt sind, wobei „Der Kuss“ in der Mitte der großen Halle aufgeführt wird. Geht man von Raum zu Raum, in denen jeweils unterschiedlich viele Performer agieren (von einer Person (ein Kind) bis zu einer ganzen Gruppe), drängt sich der Eindruck auf, dass die Zurückhaltung von Informationen im antagonistischen Verhältnis zur Präsenz der Körper steht. Denn das ist es, worum es geht: Präsenz. Und wie diese Präsenz der Körper es vermag, eine ganze Reihe von Fragen zu provozieren. Zum Beispiel die, wie die Performer diese Präsenz herstellen in den verschiedenen Räumen und Konstellationen. Und sich dabei gegen die Erhabenheit des Ortes behaupten. Oder die Überlegung, was diese Präsenz mit den Besuchern macht, wie sie die Bewegungen und das Verhalten der Besucher im Raum beeinflusst, wie sich die Besucher zu den Performern und ihren interaktiven Angeboten verhalten und was es für einen Unterschied macht, ob ein, zwei oder eine ganze Gruppe von Performern auftritt. Was für eine Wirkung hat das Zusammenspiel ihrer Körper auf die Besucher? Fühlen sie sich ausgeschlossen oder werden sie dazu animiert mitzumachen?
Ich beobachte, wie unterschiedlich ich mich selbst in den Räumen zu den Performern verhalte – mal stelle ich mich an den Rand, mal gehe ich nah dran, um möglichst gut zu verstehen, was gesagt wird. Mal bin ich nur Zuschauer, mal werde ich angeguckt und kommuniziere mit den „Körpern“.
Eine Herausforderung ist dabei der Ort – mit seinen großformatigen und geschichtsträchtigen Sälen, gegen die sich die Performer behaupten müssen. Dabei helfen ihnen ihre Stimmkörper, die sie gemeinsam zu A-cappella-Musik formen, auch auf akustischer Ebene präsent zu sein.
Bei so viel Präsenz rückt die inhaltliche Ebene etwas in den Hintergrund, doch Sehgals Kunst wird nicht umsonst als „Diskurskunst“ bezeichnet – in drei Performances wird gesprochen, befinden sich die Performer in einem Austausch miteinander oder wird der/die Besucher/in direkt angesprochen. Verhandelt werden Themen wie die Arbeitsbedingungen im Kunstfeld oder das Verhältnis von Kunst und Technologie. Gerade die Sprech-Performances oszillieren geschickt zwischen vorgegebenem Script und Improvisation, es entsteht eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen der authentischen Person und dem Performer, vor allem wenn man den hier involvierten Intendanten der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, erkennt und weiß, dass es sich bei dieser Person nicht um einen professionellen Performer handelt. Wie viel der Bewegungen und des Gesagten ist vorgegeben? Wie viel Persönliches bringen die Performer ein? Was ist geschauspielert und wo wird das Eigene so performt oder in eine künstliche Form gebracht, dass es etwas Artifizielles bekommt?
Der Vorteil dieser Überblicksausstellung ist, dass sie eine Vergleichbarkeit der einzelnen Performances herstellt und dadurch für die feinen Unterschiede sensibilisiert. Verloren geht dabei jedoch der Überraschungsmoment, den man erfährt, wenn man mit einer der Performances im Rahmen einer Gruppenausstellung konfrontiert wird und vorher nicht weiß, um was für eine Arbeit es sich handelt. Es fehlen zudem die konkret institutions-reflexiven Arbeiten und die Performances, die mit der Rolle des Aufsichtspersonals spielen.
Als ich mir im Rahmen des Reenactments von Allan Kaprows „Fluids“ die Performance von Alexandra Pirici anschaue, die am 18.9. auf dem Potsdamer Platz stattfindet, bin ich überrascht: Die Art und Weise der Präsenz der Körper ist dieselbe wie bei Sehgal, nur ist der museale Raum gegen den öffentlichen ausgetauscht: Eine Gruppe von 70 Personen hat sich zu einem Block zusammengestellt, der die Dimensionen von Kaprows Eisblock hat. Von 12 bis 20 Uhr stehen die Personen zusammen, um am Ende, ähnlich dem schmelzenden Eisblock, zu Boden zu gehen. Wie Sehgals Performer singen auch diese und verleihen sich damit auf akustischer Ebene Gehör. Die klotzartige Form und das gemeinsame Singen verleihen der Gruppe Präsenz. Die Umstehenden bleiben auf Abstand. Der Unterschied zu einer Demonstration mit Transparenten und Parolen ist sofort ersichtlich, doch verändert auch diese Gruppe die Gestalt und die Bewegungen auf dem Platz.
In ihrer Reduktion auf die Körper sind sich die Arbeiten sehr ähnlich, wenngleich Piricis Performance durch die Tatsache, dass es sich um ein Reenactment handelt, noch eine andere Konnotation anhaftet.
Die Gegenüberstellung macht deutlich, dass Sehgals Stärke vor allem in jenen Arbeiten liegt, in die er kunstsystemische und -referenzielle Bezüge einbaut, und dass es ihm gelingt, durch minimale Gesten wie wiederkehrende Bewegungsabläufe, den Einsatz von Stimmen oder die Arbeit mit Kindern und Laien, die Vorstellungen von dem, was eine Performance ist, ins Wanken zu bringen.

Tino Sehgal, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10117 Berlin, 28.6–8.8. 2015

Alexandra Pirici, „Fluids“, Performance, Potsdamer Platz, 18.9.2015, im Rahmen der Ausstellung „Fluids. A Happening by Allan Kaprow, 1967/2015“, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin 15.–19.9. 2015
Nationalgalerie, „Fluids. A Happening by Allan Kaprow“, 1967/2015, Version von Alexandra Pirici, 2015, Courtesy Allan Kaprow Estate und Hauser & Wirth, Foto: Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Thomas Bruns
Collage: Andreas Koch