Rückblick

Eine kurze Geschichte der „von hundert“ anhand ihrer Release-Partys

2017:März // Andreas Koch

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03-2017

2008
In düsterer Jahresendzeitstimmung 2016 surfe ich Montagvormittag im Netz, anstatt irgendetwas Sinnvolles zu arbeiten, denn mir fällt nichts Sinnvolles ein. Auf „waahr.de“ stoße ich auf Joachim Lottmanns neue Kolumne, in der er böse von rechten, österreichischen FPÖ-Jubiläumsfeiern im Wiener Parlamentsgebäude berichtet. Zehn Jahre Parteivorsitz von H.C. Strache wird da gefeiert und mir graust’s noch mehr. Ich selbst denke an das eigene Jubiläum, zehn Jahre „von hundert“, und mir fällt es schwer, jetzt im Dezember ein geeignetes Format zu finden, für ein Fest vielleicht, oder ein Spezial-Heft.
Beim weiteren Rumklicken dann ein Blog-Text von ­Lottmann aus der „taz“ von Januar 2008, der mich direkt in die Anfangszeit des Hefts zurückbeamt. Ich zitiere den Anfang:
„Abends dann mal wieder Vernissagen bei Bettina Semmer und Zipp. Im Auto diesmal die Reichen und die Ganz Reichen. Kein Wartburg, sondern der tolle Q7 von Armin Böhm, dem erfolgreichen romantischen Maler, und gesteuert von Gesine, der attraktiven Freundin von ihm, ‚Monopol‘-Edelfeder und Kunstszene-Liebling. Tim Eitel dabei und all die anderen aus der Ecke. Und Cornelius Tittel! Später sollte Florian Illies noch aufgepickt werden. Da hatte ich wenig zu melden. Mein Vorschlag, erstmal bei Semmer in der Großen Hamburger Straße reinzuschauen, blieb ungehört. Oder doch nicht? Plötzlich fuhr der schwere Luxusbolide genau durch die Hamburger Straße, auf Semmers Galerie zu! Super, rief ich, doch noch geschafft, da wird sich die Betzi aber geehrt fühlen, von soviel Prominenz. Aber Gesine fuhr dran vorbei“, und er schrieb weiter etwas später
„Danach dann wieder das furchtbare Rotwein-Gesaufe, in einem gehobenen Künstler-Restaurant namens ‚Odessa‘. Ich sagte alle zehn Minuten, dass ich nicht bleiben wolle, da ich diese after-opening-drinkings noch nie ertragen konnte. Das wurde natürlich gar nicht gehört. Ich dachte, wenn es mir gelänge, die Semmerin in diesen erlauchten Kreis zu lotsen (wieder waren alle Gurus an unserem Tisch, drängten sich in Richtung Böhm wie die Ferkelchen an die Muttersau), würde sie vielleicht erste Kontakte mit den Mächtigen und Meinungsmachern des Betriebs bekommen.“
Während Joachim Lottmann mit Armin Böhm und Anhang im SUV durch Mitte schipperte, schrieb ich meinen Künstler-Antigentrifizierungs-Aufruf – einen Appell an die neue Klasse der reichen Künstler, ihr Geld doch sinnvoller zu verteilen, als es bloß in Immobilien zu stecken. Ich modifizierte dafür sogar ein Plakat von Klaus Staeck: „Deutsche Künstler – von hundert will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“. ­Katharina Grosse findet den Text bestimmt immer noch nicht sonderlich lustig.
Die „von hundert“ steckte 2008 schon in ihrer ersten Krise. Mein Mitgründer Kito Nedo sprang ab, das Projekt war ihm wohl nicht ganz geheuer. Sein ganzes Netzwerk an Autoren war mit einem Mal weg, darunter Doreen Mende, ­Dominikus Müller, Timo Feldhaus oder Estelle Blaschke. Während die Februarausgabe 2008 noch 36 Seiten und 25 Beiträge umfasste, sackte der Umfang auf nur noch 20 Beiträge und 28 Seiten im Sommer ab. Der Tiefpunkt war die Release an einem Sonntag im Juli im Mysliwska, Kreuzberg. Es kamen gefühlte sieben Menschen.
Nachdem wir am 22. Februar auf der Release im Prassnik noch an die 50 Hefte absetzen konnten (zum Beispiel die 79/100 an Holm Friebe, der an dem Abend dort bestimmt mit dem Tschick-Autor Wolfgang Herrndorf und Kathrin ­Passig herumsaß, hinten an dem langen erhöhten Tisch, kannte ich damals aber alle nicht) und ich mich vor der Tür laut mit Kito stritt, der mir dort seinen endgültigen Ausstieg verkündete, saß ich fünf Monate später mit dessen Redaktionsnachfolgerin Melanie Franke und mit Barbara Buchmaier, die bald zum Team dazustoßen würde, im Mysliwska. Ein Gewitter zog über Mitte auf. Im Fernsehen lief ein Tatort mit dem Titel „Ausweglos“, ein Leipziger, mit Wuttke und Thomalla. Am Schluss hatten wir neun Hefte verkauft. Nach so einem Abend würde nie wieder jemand kommen, dachte ich, vor allem keiner jemals wieder einen Text schreiben. Nach nur sechs Ausgaben wäre schon Schluss.
Aber wir machten weiter und es folgte die zweitgrässlichste Release im oben benannten „Neuen Odessa“. Ich kannte ja noch gut das alte „Odessa“, und das war so ziemlich das Gegenteil vom neuen, das damals noch nicht ganz so schlimm war wie heute, aber schon ziemlich schlimm. Ein lauter, verkokster Abschleppschuppen und wir entschieden uns, die Release dort zu machen, weil ich weder Joachim Lottmanns Blog in der „taz“ las noch überhaupt wusste, wie sich der Laden von innen anfühlte. Aber ich dachte, weil wir jetzt das Rafael-Horzon-Interview hatten – das jetzt nicht speziell war, sondern genauso semi-gaga wie alle Horzon-Interviews –, jedenfalls dachte ich, wir müssten das in Sichtweite aller seiner Läden machen, als kleine Referenz zum Heft. Rafael Horzon konnte natürlich nicht kommen. Prominentester Käufer war als zwölfter und letzter Douglas Gordon, der die Nummer 40/100 erwarb. Er kann immer noch kaum Deutsch.
Unsere Release wurde überspült von einer Welle uns unbekannter Leute, die auch nicht wegen uns kamen und wir saßen verloren vor unserem „von-hundert“-Plakat mit einem tollen Portrait von Douglas. Er hatte das andere Interview im Heft. Hans-Jürgen Hafner, der erstmalig bei uns schrieb, über Gedi Sibony, leistete uns an diesem Abend Beistand. Inhaltlich ging es jedenfalls wieder langsam, langsam bergauf. Neue Autoren schienen interessiert zu sein. Die Celebrity-Nummer lief jedoch nicht. Wir waren keine Muttersau und niemand drängte sich an uns.

2011
Zweieinhalb Jahre später sah das mit der Muttersau zwar nicht anders aus, aber wir saßen dieses Mal mitten auf der „Based-in-Berlin“-Ausstellung, und zwar bezahlt. Wir bekamen aus dem großen Millionentopf für die Ausstellung immerhin fünfhundert Euro ab und zwar dafür, dass wir an einer der sogenannten Magazin-Nights teilnahmen. Dafür hatten wir eine brandneue Ausgabe dabei, inklusive eines „Based-in Berlin-Spezials“.
Natürlich steckte das Spezial voller Kritik, aber es war klar, dass unser Heft nicht gleich bei der Release gelesen würde. Sie würden uns wieder raus lassen. Im Nachhinein fühlt sich das ein bisschen wie ein Lausbubenstreich an und so saßen wir damals auch da, Barbara und ich, mit einem verschmitzten Lächeln und wir verkauften ordentlich Hefte.
Melanie Franke war zwischenzeitlich wieder ausgestiegen und hatte in drei Jahren konstruktiver Zusammenarbeit geholfen, die „von hundert“-Krise zu überwinden. Die Hefte hatten jetzt immer weit über 40 Seiten. Wir etablierten in der Mitte jeweils ein Sonderthema, beginnend mit einem „Kunstkritik-Spezial“ und einer nervenaufreibenden Debatte im L40. Auch sonst sorgten wir an manchen Stellen für Aufsehen. Im Sommer 2009 zum Beispiel veröffentlichten wir einen Text, der die Geschichte des Galerienfaltblatts „Index“ und dessen mittlerweile stark gewachsenen Machtfaktor im Berliner Kunstbetrieb beschrieb. Googelt man den Namen Kirsa Geiser, findet man schnell den Text, obwohl er schon acht Jahre alt ist. Soviel zur Nachhaltigkeit der „von hundert“.
„Von hundert“ als Rächer der Entrechteten zu bezeichnen, ist natürlich trotzdem falsch. Nur einmal gelang uns noch ein ähnlicher Medien-Scoop, als wir uns über die Abschaffung des „Art Forums“ beklagten, durch eine von uns so genannte Berliner-Kunstmafia, die von nun an alle Fäden in ihren Händen halten würde. Dieser Text erschien in eben jener „Based-in-Berlin“-Ausgabe aus dem Sommer 2011 und bezeichnenderweise hatte dieser Text sehr viel mehr Resonanz als das ganze dem Hauptstadt-Event gewidmete Spezial. Es meldeten sich immerhin die „art“ und die „monopol“, wobei letztere ihr angekündigtes Round-Table-Gespräch, bei dem sie uns dabeihaben wollten, nie stattfinden ließen.


2016
Lass uns Freunde bleiben. Barbara und ich sitzen fünf Jahre nach „Based in Berlin“ nach wie vor hinter einem zusammen­gebastelten Tisch, die Ausgabe gestapelt, bereit zum Verkauf. Dieses Mal ein Berlin-Biennale-Spezial und eigentlich erst das zweite Mal, dass es eine Ausstellung schaffte, ein ganzes Thema zu sein. Dazwischen lag die „Ich“-, die „Netzwerk“- und „Erfolg“-Trilogie, dann kam ein „Ähnlichkeit“-, „Lehre“-, „Ökologie“- und „Mode-Spezial“, gefolgt von einer Triple-A-Trilogie, Arbeit, Alter, Angst, schließlich ein zweites „Kunstkritik-Spezial“ und eins über das Format „Ausstellung“. Jetzt also die 9. Berlin Biennale und die knüpft ja tatsächlich an die „Based-in-Berlin“-Ausstellung an. Damals war der gesamte Richtungswechsel noch nicht so klar zu erkennen. Wir nagten noch an unserem Nuller-Jahre-Knochen, eine Dekade, die wir früh mit ihrem kunstkonservativen Backlash versuchten zu klassifizieren und zu kritisieren. Die Post-Internet-Kunst ging uns 2011 noch ziemlich durch die Lappen, wir stürzten uns stark auf die Finanzierung der Based-in-Berlin-Ausstellung.
Wobei Christine Woditschka zum ersten Mal mit Barbara Buchmaier zusammen für uns einen Text schrieb – eine Zusammenarbeit, die 2014 zum Preis für Kunstkritik der AdKV führte. Und die hier einen echten Based-in-Berlin-Beat entwickelten, der stilistisch weit in die damalige Zukunft hineingriff:

„Bare in Berlin, Bagatelle in Berlin, Battle in Berlin, Apricot Magic (Nina Beier) verdeckt leider immer noch zu sympathisch das Piece von David Adamo. Wo gehobelt wird, fallen Späne, eine feine Sache. Ballet in Berlin, Batik in Berlin, Beau in Berlin, Brilliant in Berlin, Brille in Berlin, Bearded in Berlin, Che Barba! Hush Hush, Du alter Ego, Bluff in Berlin, kurze Beine in Berlin, Bourgeois in Berlin, „That’s How Every Empire Falls“ (Maria Loboda), Hochmut kommt vor dem Fall, aber das wissen wir bereits. „Parasagittal Brain“ (Yngve Holen): Boiled in Berlin, stimmt schon, Wasserkocher sind ein echtes Designproblem, Spoiled in Berlin, Broke in Berlin, Blackout in Berlin, Blessed in Berlin, da macht Kitty Krauss vorsichtshalber die Schotten dicht, leider aber dann doch nicht ganz! Immer Busy in Berlin, Biesi in Berlin, Pc in Berlin, Buzzing around a pot of jam in Berlin, Bored in Berlin, Boykott in Berlin, Bockwurst in Berlin, Ballast in Berlin, Palast in Berlin, Erased in Berlin, forgotten Bartender in Berlin, blasiert in Berlin, Bläschen in Berlin, Tönchen in Berlin: „Melody Malady“ (Simon Dybbroe Møller). Bye bye Berlin, „Include me out”, Gerry Bibby, da gehen wir mit.“

Ein anderer Blick auf die damalige Ausstellung war der von Peter K. Koch „Das hat leider insgesamt dazu geführt, dass die allerwenigsten Arbeiten eine echte Präsenz entfalten konnten und alles in allem wirkte das wie ein stinknormaler Jahresrundgang an einer deutschen Kunsthochschule. Das hatte durchaus auch was Entspanntes. War aber vielleicht für die große programmatische Ausrichtung doch etwas zu entspannt, fast schläfrig. Viel Brüchiges, Gebasteltes, Fragmentiertes, Beiläufiges, Verhuschtes, Wackliges. Bloß nicht festlegen. Immer im Ungefähren bleiben.“
Dass dieses Im-Ungefähren-Bleiben dann gerade die große neue Ausrichtung werden könnte, war uns damals noch nicht klar. Und auch da knabbern wir noch dran. Warum eigentlich? Warum ist das schon der zweite größere Richtungswechsel in der bildenden Kunst innerhalb der letzten zehn- bis fünfzehn Jahre und die „von hundert“ kritisiert weiter? Tatsächlich sahen wir uns nie als ein eine Bewegung flankierendes Medium und wurden des Öfteren selbst dafür kritisiert, auch die vermeintlich Guten aufs Korn zu nehmen. Auch wären wir zu negativistisch, fast depressiv. Vielleicht führt uns die von uns so postulierte Unabhängigkeit immer auch ein bisschen in die Einsamkeit.
Die neunte Berlin Biennale war jedenfalls schon ein paar Tage vorbei, als wir den vielleicht zweitumfangreichsten Report über diese Ausstellung druckten, 28 Seiten Spezial und nochmal ein paar mehr von unseren Starkolumnistinnen Christina Zück und Elke Bohn (den umfangreichsten liefert ja naturgemäß immer das „Kunstforum“). Überhaupt gehören die KW nach unserer 10-Jahre-Jubiläumszählung zu den von uns am häufigsten besprochenen Ausstellungsorten. Zählt man die Biennalen dazu sind sie recht einsam auf Platz eins (44 Texte inklusive Berlin Biennale und Karteikartenbesprechungen von Esther Ernst). Trotzdem wurden wir nicht zum 25. Geburtstag eingeladen. Jetzt, beim Surfen durch das Internet, die KW-Party ist bei „Artforum“ dokumentiert, schauen grinsend Stoschek, Boros und Co aus dem Monitor heraus, der neue Kurator liegt verkleidet im Arm von Hito Steyerl. Bestimmt hätten wir auch nur unser freches Maul drüber zerrissen, da hätte alles Post-Gender-Party-Performative nichts geholfen.
Unsere No-Budget-Finanzierung, unser Kein-Wachstum-Kon­zept, unsere Weigerung, ein typisches Fanzine zu sein, also eben keine Fans zu sein, und unsere Haltung, lieber über Kunst zu schreiben, statt Kunst zu sein (natürlich alles mit Ausnahmen) sind perfekte Voraussetzungen dafür, kritisch zu bleiben und subversiv. Dass das dann für viele tendenziell eher „unsexy“ daherkommt, damit müssen wir leben. Kapitalismus ist halt geiler. Wie schrieb ich noch in 2010: „Wir sind ein Latten-U-Boot, das mit Holztorpedos schießt, die jedoch lustvoll zerbersten und noch lange an der Oberfläche schwimmen.“
(in Zusammenarbeit mit Barbara Buchmaier)



Hans Martin Sewcz „Als Merkel noch Baby war“, 2005, Werbung von „Welt kompakt“ am Alexanderplatz nach den Bundestagswahlen
Barbara Buchmaier und Andreas Koch auf der „Based in Berlin“, Juli, 2011, Fotograf unbekannt