Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Winter

2017:März // Einer von hundert

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03-2017


6. November in der Berlinischen Galerie
Eine Ausstellung über den Einfluss ethnologischer Objekte auf Dada-Künstler. Das heißt dann Dialog. Aber was schon damals kein Dialog war, weil die ethnologischen Objekte nicht sprechen und reagieren konnten, kann auch heute nicht funktionieren. Die Ausstellung stellt Kunstwerke und Objekte nebeneinander und macht so die einseitigen Einflüsse evident. Diese werden vor allem dann interessant, wenn sie in den damaligen zeitgenössischen Kontext eingebunden wurden, wie bei den Collagen von Hannah Höch, aber manche Kunstwerke bleiben bei der bloßen Reproduktion stehen – und setzen auf den Schockeffekt des „Primitiven“. Was mich ärgert: dass auch in diesem Kontext die Sammlungsgeschichte dieser Objekte nicht aufgearbeitet wird, dass es lediglich im sogenannten „Raum für Dialog und Experiment“ ein paar Texte gibt und Führungen, die sich dem Thema annehmen. Das hätte aber mitten in die Ausstellung gehört!

7. Dezember im Büro
Kennt eigentlich jemand das Bauprojekt „Urbane Mitte“ (www.urbane-mitte.de)? Am Gleisdreieck sollen sieben mittelhohe Hochhäuser entstehen, fast alles Büros, etwas Kultur, Hotel, ein paar Wohnungen. Eine Art südliche Fortsetzung des Potsdamer Platzes am Rande des ehemaligen Golf­abschlagplatzes und jetzigen Gleisparks. Irgendwie redet da niemand drüber. Zum Beispiel warum soviele Büros und keine Wohnungen? Klar, wegen Lärm, aber Hotel und Luxuswohnungen gehen schon. Alles wurde vorbildlich gemacht. Werkstätten mit Bürgerbeteiligung, ausgiebige Wettbewerbsrunden, aber bitte nicht an die große Glocke hängen. Es geht schließlich um weit über 500 Millionen Euro. Meinem Exgaleristen, der für die kulturelle Bespielung verantwortlich ist, glänzen schon die Augen. Mögliche kritische Stimmen wie Andrej Holm wurden nicht zuletzt von immobilienwertschöpfungsfreundlichen Medien wie dem Tagesspiegel abgeräumt. Und die – Zitat – „Prenzlauer Berg Neo-PC-Linke“, also wir, haben endlich ein neues Thema. Es folgt in der nächsten Ausgabe ein umfassendes Portrait unter dem Titel „Der lange Weg aus der Schlegelstraße – Kunst und Immobilien, ein kleines Gentrifizierungs-abc“. In dieser Ausgabe empfehle ich als Prelude von Johannes Wilms den Nachruf auf das Stattbad Wedding.

14. Januar in der Deutschen Bank Kunsthalle
In der Ausstellung „You can’t please it“ von Bhupen Khakar in der Deutsche Bank KunstHalle: Ein indischer Maler mit einem ganz eigenen Stil, indem die ganze westliche und indische Kunstgeschichte enthalten ist. Ein Künstler, der nun besonders in Indien und England zu spätem Ruhm kommt, während er zu Lebzeiten sein Geld als Wirtschaftsprüfer verdiente. Kuratiert hat die Ausstellung übrigens Chris Dercon. Ob es da irgendwelche Verbindungen gibt?

15. Januar in der Galerie im Turm
Thomas Bratzke war mir vorher eher als Künstler im öffentlichen Raum aufgefallen. Und plötzlich macht er eine Rechercheausstellung mit Materialsammlung, Dokumentationsfilm inklusive Interviews und eigenen Schriftproben, in denen er der Schrifterziehung in der DDR nachgeht. Vor dem Hintergrund, dass er als „Writer“ auch mit Sprache arbeitet, finde ich interessant, die Anfänge dieses Schreibens nachvollziehen zu können – und wie er die ideologische Seite der Schrifterziehung in der DDR veranschaulicht.


9. Februar am Friedrichshain

Gestern abend beim Abendessen nach einer Eröffnung erklärte mir das Galeristenpaar sein Urlaubsziel. Eine Kreuzfahrt in Asien mit TUI, genau wie Zigtausend andere Touristen. Eigentlich der CO2-Maximalschaden, den eine Einzelperson in so kurzer Zeit erreichen kann (9 Tonnen pro Kopf pro 7 Tage). Interkontinentalflug, plus sinnloses Ölverfeuern auf dem Meer, plus Massen an All-Inclusive-Essen, weil es sonst doch irgendwie langweilig wird. Im Prinzip habe ich keine Hoffnung mehr. Das sind sonst nette, vernünftige Leute.
(Zur Erinnerung: der Durchschnittsaustoß eines Deutschen beträgt pro Jahr 10 Tonnen, Tendenz steigend, um den Schaden einzudämmen, sollte jeder runter auf 2 Tonnen).

10. Februar, später Zuhause
Darüber reden bringt auch nichts, deshalb habe ich erst gar nicht angefangen. Der normale Reflex, du spielst doch auch Golf. Oder, du bist doch nur aus gesundheitlichen Gründen vegan … Dieses sofortige Verlagern des schlechten Gewissens auf den Mahner, um sein eigenes Tun weiter machen zu können. Dabei hat das gar nichts mit mir zu tun. Ich könnte selber nach Singapur fliegen und sagen, dass das Scheiße ist, weil es eben so ist. Genauso wie es egal ist, ob ein Raucher oder ein Nichtraucher jemanden darauf hinweist, dass es vielleicht besser ist, mit dem Rauchen aufzuhören. Lasst uns bitte, bitte gemeinsam aufhören, die Welt über alle Maßen zu zerstören, es gibt noch Kinder …

11. Februar, im Atelier
Ich sehe Bilder, die aus Dresden kommen. Man sieht darauf drei hochkant aufgestellte Busse vor der Frauenkirche, ein temporäres Kunstwerk von Manaf Halbouni, einem jungen deutsch-syrischen Künstler, der an der dortigen Hochschule studiert. Ein wichtiges Kunstwerk, politisch, provokant, aber auch versöhnlich, inspiriert von Fotos aus Aleppo, wo die verbliebenden Bewohner ebensolche aufgestellten Busse als Schutz vor Heckenschützen genutzt haben. Natürlich ruft das die ortsansässigen Nazis auf den Plan, die laut von Schande sprechen. Sie sind leider nur zu dumm, zu begreifen, dass nur sie selbst die Schande sind und das Andere, neben ihnen, eben nur drei hochkant aufgestellte Busse sind.

23. Februar, gerade von einer Eröffnung nach Hause gekommen
Lese grade auf „artforum.com“, dass die zweisprachige Kunst­­zeitschrift „Parkett“ (dt./engl.) im Sommer mit dem „­Double- Volume 100/101“ eingestellt wird.
„One of the major factors behind this decision is the radical change in reading behavior brought by the digital age.“ Auf der Website sollen aber alle Artikel zugänglch werden. Nicht schlecht. Für alle, die sich erinnern wollen: Seit 1984 gibt es „Parkett“; die biannual erscheinenden Bände wurden immer zusammen mit Künstler/innen entwickelt; dazu gab es Editionen. Chefredakteurin: Bice Curiger.

26. Februar, im Due Forni
Beim Pizza-Essen lese ich bestürzt im Tagesspiegel, dass die wichtigsten Kulturedakteure bei der Berliner Zeitung aussteigen, darunter Anke Westphal, Carmen Böker und vor allem, der meiner Meinung nach, beste Musikschreiber der Stadt, Jens Balzer. Da war ich doch erst vor kurzem noch bei einem Konzert im Berghain und konnte am nächsten Tag im Feuilleton­aufmacher von Balzer nachlesen, wie geil das eigentlich war. Dringend Abo kündigen, so macht sich die gedruckte Presse selbst kaputt.
Ortner und Ortner, Entwurf für Gleisdreieck – Urbane Mitte, 1. Preis, www.urbane-mitte.de