Stine Omar&Max Boss und Charlie Roberts

Galerie koal

2016:April // Hanna Fiegenbaum

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04-2016


Eine Stimme aus dem Off wendet sich fragend an die jungenhafte Mersad (Stine Omar). Diese hält im Gehen kurz inne, richtet den Blick gen Himmel und antwortet. Im nächsten Moment setzt sie ihren Weg fort, durch vorstädtische Straßen, an weitläufigen Wohnsiedlungen vorbei und durch andere urbane Peripherien. Gelegentlich wird Mersad auf ihren Spaziergängen durch die Stadt von einem riesenhaften schwarzen Hund begleitet. Das schmale, lange Mädchen mit den kurzen Haaren trägt Pullover in Übergrößen oder bauchfreies Top, mal lange Hosen und mal kurze. Auf einem weitläufigen Industrieparkplatz tanzt sie darin, einmal am Straßenrand. Beide Szenen der Episode sind in Zeitlupe eingespielt. Deren Bildgestaltung entspricht dabei ihrem Gegenstand: die Inszenierung bewegt sich zwischen Parkplatzmelancholie und der Intimität privater Videoaufnahmen.
Mersad wirkt zumeist verhalten, wenn sie auf dem Bildschirm in Erscheinung tritt. Selbst spricht sie eher selten. Erst von einer leicht lispelnden Erzählstimme wird ihren Tätigkeiten mehr oder weniger Sinn verliehen. Die Stimme (Vaginal ­Davis und Anika) schildert all das, was man von Mersad nicht sieht: ihre Selbstgespräche, was sie denkt, was sie bewegt. Das sind zumeist alltägliche Angelegenheiten oder aber große Fragen wie die nach der eigenen Identität. Da Mersad zumeist allein oder mit Hund im Bild zu sehen ist, leistet die Erzählerin die narrative Einordnung ihrer Tätigkeiten in ein größeres Ganzes. Ein richtiges Ziel scheint das Mädchen auf ihrem Weg nämlich nicht zu haben, jedoch, wie man erfährt, eine durch höhere Mächte zugewiesene Bestimmung. So interferiert die Stimme aus dem Off in Mersads Handlungsabläufe, indem sie Mersad auf ihren Spaziergängen im post-industriellen Nirgendwo mit Fragen überfällt. Zudem gelingt es dieser allwissenden Erzählerin, Mersads Bewegungen im Bild auf die ihres Partners, Max (Max Boss) zu beziehen.
Auch Max tritt vor allem ins Bild, während er unterwegs ist. Durch Zimmer, Parkhäuser, Treppenhäuser, Flure. Manchmal hängt er auf Parkplätzen und in Shopping Malls rum. Man sieht Max mit seinem Smartphone oder wie er für Mersad im Internet Shorts bestellt. Er hat dunkle kurze Haare und trägt ein weißes T-Shirt. Ausgenommen, wenn er mit einer blonden Propagandistin (Britta Thie) in einer einem Werbespot nachempfundenen Szene China-Nudeln isst. Dann trägt Max auch mal ein glitzerndes Kostüm. Max’ mimischer und gestischer Ausdruck verrät, ähnlich dem Mersads, ausdrücklich wenig. Die Erzählerin muss also auch hier dafür sorgen, dass der Zuschauer versteht, was Max umtreibt. Das ist vor allem sein Verhältnis zu Mersad. Aber es sind auch Fragen nach der eigenen Vergangenheit und Identität. Auf diese versucht einmal, aufgekratzt und rabiat, ein sportlicher Fremder (Lars Eidinger) eine Antwort zu geben. Als Max ihm auf einem großen Industrieparkplatz über den Weg läuft, will er bei Max aber vor allem ungewöhnliche Pillen loswerden.
Die drei Folgen der Video-Serie „Sadness is an Evil Gas Inside of Me“ der Berliner Künstler Stine Omar und Max Boss, die auch als die Band „Easter“ bekannt sind, waren vom 4. November bis 5. Dezember 2015 in der Galerie koal auf der Leipziger Straße in Berlin zu sehen. In der Serie spielen die Künstler die beiden Flaneure Mersad und Max. Die Suche nach der eigenen Identität sowie das Verhältnis der Protagonisten bilden den groben Bezugs-Rahmen, aus dem die Teilhandlungen der Serie ihre Bedeutung beziehen. Die Ruhelosigkeit der Suchenden spiegelt sich in eingespielten Film-Szenen: Insekten krabbeln am Straßenrand umher, Fische schwingen in ihrem Aquarien-Gefängnis ihre Flossen. Die Bewegungen der Darsteller zerstreuen sich in einem Raum, zu dem Mersad und Max sich zunächst als Fremde verhalten. Dieser hält ihnen wenige Orte bereit, sofern sie nicht temporär angeeignet werden, wie etwa der Parkplatz für ein Gespräch oder ein Hinterhof als Tanzfläche. Durch die Handlungen sowie die Erzählung bilden sich allmählich genauere Bestimmungen der Hauptprotagonisten der Serie und dessen, was sie beschäftigt, heraus. Dennoch wirken beide im Verlauf der drei präsentierten Episoden ein wenig ratlos darüber, was mit sich und dem, was sie umgibt, eigentlich anzufangen sei. Dieser Ratlosigkeit wissen Boss und Omar aber nicht nur in den entsprechenden Bildern, sondern auch in sehr schönen und prägnanten sowie teils lustigen Einzeilern Ausdruck zu verleihen. Von der Erzählerstimme aus dem Off werden diese mit quietschiger Stimme stellvertretend verkündet.
Durch jene halbironische Intonation der Erzählung sowie der Gedanken von Mersad und Max verhalten sich in den drei Videoarbeiten von Boss und Omar verschiedene Grundstimmungen unentschieden gegen sich selbst. Die Figuren stehen zunächst in einem unaufgeregten Alltag, an dem sie den Betrachter teilhaben lassen. Diese Unaufgeregtheit wird auf den Streifzügen durch die Stadt nun schon mehr zur Melancholie. In dieser Melancholie nehmen die Protagonisten der Serie sich jedoch gar nicht nur ernst. Schlussendlich finden sie sich in ihrer melancholischen Schlichtheit nämlich auch ein bisschen witzig.
Sicherlich sind es zunächst die post-industriellen Umgebungen, die sommerliche Parkplatzmelancholie, der Online-Konsum und die Gender-Verschiebungen, die die Figuren durchlaufen, die der Videoarbeit der Berliner Künstler die zeitgenössische Bildsprache und -inhalte verleihen. Darüber hinaus aber sind es auch diese verschiedenen Einstellungen von betonter Indifferenz, Melancholie und Humor, in denen sich die Charaktere unentschieden selbst reflektieren, die die gezeigten Episoden der Serie so zeitgemäß wirken lassen. In der Verhaltenheit ihres Ausdrucks verwehren sich die Darsteller zum Teil der Interpretierbarkeit durch den Betrachter. Zugleich versucht die Videoarbeit diese Interpretation in der Figur der (unsichtbaren) Erzählerin und der Erzählung selbst vorwegzunehmen. Deren halbironische Inszenierung verunsichert jedoch darüber, für wie glaubwürdig man das Erzählte nehmen darf.
Der Betrachter der drei Episoden von „Sadness is an Evil Gas Inside of Me“ steht nach dieser Subtraktion, die Ironie und Spärlichkeit von den expressiven Mitteln zur Deutung noch übrig lassen, ebenso unentschieden über das Gesehene da, wie die Protagonisten sich unentschieden zu ihrer Umgebung und sich selbst verhalten. Es bleibt dem Zuschauer dann nur einzusehen, dass der Prozess der Suche konstitutiver Teil des Gesehenen ist und er sich dieses nicht durch Referenz auf zwei, drei einschlägige Kategorien allgemein verständlich machen kann. Anders gesagt, die reflektierende Unentschiedenheit der dargestellten Charaktere in der Videoarbeit kann der Betrachter klarerweise nicht für diese auflösen. Er steht vor demselben Rätsel wie diese Figuren selbst, wenn es sich ihm auch in anderer Weise stellt. Während die Figuren ihre eigene Identität befragen und in der Videoarbeit hierfür ein bild­liches und sprachliches Verständnis herzustellen gesucht wird, begleitet der Betrachter sie dabei nur. Die zurück genommene Expressivität der Darsteller lässt jedoch wenigstens darauf schließen: dass die Protagonisten unter Rückgriff auf, etwa, normalisierte Gender-Klischees zumindest nicht verstanden werden sollen. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Videoarbeiten von Boss und Omar zur Verteidigung der Individualität.
In dieser Grundeinstellung der (nicht nur Selbst-)Reflexion sowie dem Bestehen auf der individuellen Geschichte besteht denn auch die Nähe der Videoarbeiten von Boss und Omar zu der mit der Kunsthalle Schirn produzierten Online-Serie „Transatlantics“ der Berliner Künstlerin Britta Thie.
Die die Videoarbeiten der beiden Berliner Künstler begleitende Serie von Gouache-Malereien von Charlie Roberts agiert die Grundstimmung der Filmepisoden betreffend entschiedener. Die kleinformatigen Bilder des in Norwegen lebenden US-Amerikaners bringen vor allem die unaufgeregte Alltäglichkeit sowie die gegenseitige Vertrautheit der Protagonisten aus der Serie auf den Punkt. Eine Malerei stellt Mersad auf ihrem nächtlichen Spaziergang vor einer leuchtenden Metropole dar. Eine andere zeigt Max, wie er einem anderen Darsteller die Haare rasiert. Es stellt sich der Eindruck der Vertrautheit der Charaktere in der einzelnen Malerei im Vergleich zur Video-Serie stärker her, da die Figuren aus ihrer Gemeinsamkeit im Gemälde sozusagen nicht mehr weglaufen können. Die Transitbewegungen aus den Videos werden in den Malereien buchstäblich still gestellt und kommen zur Ruhe. Dazu nutzt Roberts eine expressionistische Bildsprache: stark konturierte Figuren, Umrisse und Schatten, die in Farbflächen klar voneinander isoliert sind.
Zuletzt ist der Eindruck der Vertrautheit auch der Interaktion von Gemälden und Videos geschuldet: der Betrachter ist ja mit den Darstellern und deren Geschichte aus den Filmarbeiten schon bekannt, welche er als Figuren nun in den Gemälden wiederfindet. So wirken die Bilder wie die Familienphotos zu einer Fernsehserie. Die Motive der kleinformatigen Malereien sind also den Videos zwar entlehnt. Die gemalten Film-Szenen werden durch die Transformation im anderen Medium jedoch stärker in Richtung der dargestellten Alltäglichkeit und Privatheit interpretiert.

Stine Omar & Max Boss und Charlie Roberts „Sadness is an Evil Gas Inside of Me“, Galerie koal, Leipziger Straße 47 / Jerusalemer Straße, 10117 Berlin, 4.11.–5.12. 2015
Ausstellungsansicht Galerie koal
Charlie Roberts „Untitled“, 2015, Courtesy Galerie koal