Genius Loci

Kunstverein Neukölln, t27

2016:April // Johannes Wilms

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04-2016

Die Geister des Ausstellungsraumes

I don’t know if this is art. I know that it’s a blue Scotch tape, width 19mm, length unknown.
Edward Krasiński (1925 Łuck–2004 Warszawa)



Die Ausstellungen trugen Titel wie: Am Limit, Bikini, en face, fotokonkret, graphitomorphe, interferenz, Lucide, Melos, Nord + + + Nord + + + Nord + + + + Süd, On Lines, s/w, {tempomat}, Vermessungen, zyklisch und andere mehr.

Die Ausstellenden waren Künstler/innen wie: Helen Acosta, Alice Baillaud, Ervil Jovković, René Moritz, Isolde Ott, De­borah S. Phillips, Gabriele Regiert, Mi Rang Park, Tuğba Şimşek, Gabija Vidrinskaite, Ulrich Vogl, Akiko Wakayama, Simone Zaugg – und viele andere auch.

Der Kunstraum t27 – Showroom des Kunstverein Neukölln – war wie eine Chiffre für Auseinandersetzungen, Begegnungen, Findungen, Gespräche, Hypothesen, Illustrationen, Metaphern, Untersuchungen, Zufälle – und dabei immer dem egalitären, dem demokratischen Moment der alphabetischen Ordnung verpflichtet, wenn es darum ging, die Ausstellenden zu annoncieren. Ein internationales Soziotop im Epizentrum von Neukölln, gegenüber von nicht weniger als gleich drei Kirchhöfen, in der Thomasstraße.
Die Kündigung kam dann wie aus heiterem Himmel. Wenn auch, wie die meisten insgeheim wissen, dieser Himmel nicht heiter ist. Wer’s biblisch mag, sieht Heuschrecken über ihn ziehen; Romantiker/innen sehen den schwarzen Horizont der absoluten Spekulation auf Grund und Boden, soziologisch ist der Vorgang beschrieben mit dem inzwischen zum allgemeinen Sprachgebrauch gewordenen Begriff der „Gentrifizierung“. (1)

Jedenfalls hat passenderweise jemand an das Schaufenster des kunstraums t27 einen Sticker mit dem Hinweis geklebt, dies sei ein Produkt der Senatsverwaltung für Segregation.

Von Trennung weniger als vom Zusammenführen, von einer ungeheuren Summe künstlerischer Arbeit kündet indes die letzte Ausstellung des Kunstvereins Neukölln, mit dem dieser seinen Abschied von den nunmehr alten Räumen in der Thomasstraße 27, feiert.

Soweit der Text, den ich am 24. Oktober vergangenen Jahres, kurz vor seiner Schließung im Kunstraum vorgetragen hatte. Er war Teil einer Lesung, zu der ich von besagtem Kunstverein eingeladen worden war. Und so las ich nun, wie das Publikum MITTEN IN DER ARBEIT PLAZIERT, einige meiner Beiträge für „von hundert“ und „mikro.fm“ sowie, es bot sich an, ein wenig Lyrik (zwei kurze bemerkungen zum materie geist problem / besuch im paradies).

Apropos Materie – Geist. Apropos Denkmuster und Zusammenführen. Einem Ansatz Rene Moritz’ folgend, hatten mit Karl Menzen, Martin Steffens und Susann Kramer weitere Vorstandsmitglieder des Kunstvereins zunächst die Hängungen von etwa 50 der insgesamt über 120 Ausstellungen minutiös recherchiert (2). Es galt, Ausstellung für Ausstellung, zu rekonstruieren, wo im im Verlauf der 10-jährigen Geschichte des etwa 50 qm großen Ausstellungsraums t27 die jeweiligen Bilder oder Objekte angebracht oder aufgestellt waren.

Welche Bilder entstehen, wenn mehrere Ausstellungseinrichtungen, die jeweils denselben Raum benutzen, übereinander gelegt, sie sozusagen überblendet oder miteinander überlagert werden? Welche Muster ergeben sich? Welche Gestalt nimmt – wie der Titel der Ausstellung – ein genius loci (3) an. Wie, wiederum, gestalten sich die Koordinaten? Mit welcher Arithmetik? Welche patterns eines space offenbaren sich, wenn die Sequenzen seiner Nutzung, sozusagen, stillgestellt werden?

Vermittels verschiedener Dokumentationen – des Kunstvereins und der austellenden Künstler/innen – wurden die konkreten Positionen der Kunstwerke ermittelt, die diese jeweils in ihren Ausstellungen eingenommen hatten.

Dabei wurden jeder der zu dokumentierenden Ausstellungen spezifische Farbbänder zugeordnet. Selbstklebende Tapes und Folien mit verschiedenen Farben, Mustern, Breiten und Texturen. Sie markierten die äußeren Formen, die Gestalt der jeweils ausgestellten künstlerischen Arbeiten. So entstanden, retrospektiv, Austellung für Ausstellung, Zentimeter um Zentimeter, Zonen der Verdichtung ebenso wie einer kaum begreiflichen Dimension von Raum. Eines zuweilen in Achsen, Zentren und Augenhöhen schwebenden Raumes.

Mochte die tänzerische Präzision der Tapes auf dem Boden des Ausstellungsraums auch an robocup-games des Jahres 2143 erinnern, genius loci macht die Leere sichtbar, die mit dem Auszug des Neuköllner Kunstvereins entsteht, d.h. nicht bloß in einer willkürlichen Behauptung, sondern: sichtbar im Sinne einer sinnfälligen Fassbarkeit.

Ein Wieder-holen des Abwesenden. Bilder, die über eine längere Zeit an immer derselben Stelle irgendeiner Wand hingen, Gemälde, Fotografien, Erinnerungen – und nun in ihren Spuren fortleben, in den zurückgebliebenen Umrissen die Leere, die entstand, nachdem diese Bilder verschwunden waren. Diese Leere ist größer oder wenigstens eine andere als die Leere der entfernten Bilder.

Die Leere als Landschaft. War in jeder einzelnen Ausstellung schon, idealerweise, das Verhältnis von Objekt und des es umgebenden Raumzusammenhangs dargestellt, so vervielfachte sich in der Abschlussausstellung dieses Verhältnis zu einer Landschaft gleichmäßig sich überlagernder Ebenen, und eröffnete, sozusagen, einen Meta-Daten-Raum, der mit dem Titel der Arbeit: genius loci – genau bezeichnet war.

Sei es, dass „genius loci“, implizit, die Komplexe einer kollektiven Wahrnehmung oder kollaborativen Ästhetik ebenso thematisierte, wie die Stellung der Künste zueinander. Der Sinnfälligkeit der konkreten Arbeit entsprach die Fülle kunsthistorischer wie zeitgenössischer Bezüge. Edward Krasińskis blaues Band (4) oder Morton Feldmans „Why Patterns?“ wären derer nur zwei.

Wenn nur wenigen Ausstellungen gelingt, den Ausstellungs- in einen Reflexionsraum zu verwandeln, so gelang „genius loci“ zudem die Wirklichkeit von Erinnerung. Dieses Erinnern entspricht einigermaßen genau dem Lateinischen monuere. Und: Insofern war mit „genius loci“ eine tatsächlich monumentale Ausstellung geglückt. 

http://culture.pl/en/artist/edward-krasinski
http://www.kunstverein-neukoelln.de/ Hier auch Informationen zu den aktuellen Ausstellungen des Vereins in den neuen Räumen des Showrooms Mainzer Straße 42.

„Genius Loci – Rekonstruktion eines Raumes“, kunstraum t27, Kunstverein Neukölln e.V., Thomasstraße 27, 12053 Berlin
3.–25.10. 2015


(1) Noch vor knapp 10 Jahren war der Bundesanwaltschaft und dem BKA das Wort „gentrifizieren“ solcherart suspekt, dass sie den Berliner Wissenschaftler Andrej Holm und seine Familie erst monatelang total überwachen, dann, pünktlich zum Morgengrauen, durch ein Sondereinsatz­kommando verhaften, per Hubschrauber mit ver­bundenen Augen nach Karlsruhe verbringen und erst Wochen später und nach internationalen Protesten wieder frei ließen. – Kapital und Staat, dazu braucht es keine marxistische Orthodoxie, erscheinen hier als zwei Seiten derselben Medaille.
(2) Es gäbe nicht einen Urheber der Abschlussausstellung; Attributionen (wer was gemacht hat) gäbe es schon, „aber nicht die eine Person“, erklärte Rene Moritz, halb schmunzelnd, halb ernst auf der Vernissage.
(3) genius loci, wörtlich „lokaler (Schutz-)geist“, Geist oder Aura eines (konkreten) Raumes. Historisch stellt genius loci zunächst religiös einen losen Begriff aus den Penatenkulten des antiken Rom vor. Säkular fungiert er als ein Begriff der Architekturtheorie, welcher mit dem bürokratisch anmutenden „Ortsbezug“ nur schlecht zu übersetzen wäre.
(4) Krasińskis blaues Band, dessen Dialektik er 1997 im Gespräch mit Adam Szymczyk so formulierte: “... when I fixed them with the strip ... I exposed the wall, unmasked walls.” Edward Krasiński in: Edward Krasiński, Fundacja Galerii Foksal, Warschau 1997, S. 69
Ausstellungsansicht „Genius Loci“, Foto: Kunstverein Neukölln e.V.