Einer von hundert

Tagebuch aus dem Berliner Winter

2016:April // Einer von hundert

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04-2016

7. November, Preis der Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof
Ein schneller Gang durch die Nominierten: Slavs and Tatars machen aufgeblähte, politisch korrekte, diskursfähige, blinkende Durchschaubarkunst. Florian Heckel entwickelt eine hochambitionierte Soundinstallation, die aber leider an ihrem Überbau scheitert – ebenso wie der Text im Flyer. „Es ist eine Begegnung mit der synthetischen Immaterialie in einer mit stringenter Nüchternheit durchgeführten verräumlichten Komposition oder inszenierten Verräumlichung.“ Ah ja.
Bei Christian Falsnaes muss ich rausgehen. Ich wollte weder die Frage beantworten, wie ich mich gerade fühle, noch Anweisungen folgen. Die Fragen, die mich beschäftigt haben: „Warum machen denn die anderen hier jetzt alle total unkritisch mit? Warum habe ich dabei ein ungutes Gefühl?“ blieben dabei unbeantwortet.
Der Hammer ist die Performance von Anne Imhof. Es ist immer gut, wenn man wo reinkommt und die Atmosphäre fühlt sich konzentriert an. Slickes Objekt-Design aus mit einer unbestimmten Flüssigkeit gefüllten Betonbecken und überdimensionalen an ein Urinal erinnernde Metallplatten, das durch rumliegende Handtücher, Coladosen, Zigaretten und benutzte Einweghandschuhe gebrochen wird. Und von einer Schildkröte und 4 Performern durchlaufen und benutzt wird. Diese stehen mal unbestimmt herum, mal interagieren sie miteinander oder mit den Objekten. Gesprochen wird nicht, die Gesichter bleiben ausdrucklos. Dennoch passiert etwas, es gibt Anschlussmöglichkeiten, einige Posen kommen einem aus der Kunstgeschichte bekannt vor, bei anderen muss man an die Kennenlernrituale von Großststädtern denken. Gleichzeitig bringt die Schildkröte einen Hauch Anarchie und Unplanbarkeit in Spiel.

10. November, zu Hause
Die neue Ausgabe des Magazins der Kulturstiftung des Bundes flattert in meinen Briefkasten. Die sieht ja erst mal hübsch aus, die neue Ausgabe, aber was will die? Warum gibt es so wenig Text? Warum erfahre ich nicht, wer die Ausgabe gemacht hat? Was hat das alles mit Kostas Murkudis zu tun, dessen Name als Titel das Magazin adelt? Wie kann es sein, dass die einen Selbstvermarktungskünstler, auf dessen Webseite vor allem halbnackte Frauen zu sehen sind, eine ganze Ausgabe designen lassen und das Ganze dann auch noch als besonders „dynamisch“ verkaufen?

28. November, Galerie Exile
Was für eine Wiederentdeckung! Endlich eine Einzelausstellung von Verena Pfisterer, in der Zeichnungen und Installationen sowie Werke aus den 1970ern mit solchen aus den 2000er geschickt kombiniert werden. Zur Finissage gibt es ein Gespräch, bei dem der nüchterne Blick ihres Sohnes Boris mit den fundierten Informationen der Kuratorin Silke Nowak eine gute Kombination abgeben.

2. Januar, im Büro
Hier jetzt gleich zum neuen Jahr etwas zu unserem nächsten Thema, Ausstellung, kommt ja im März raus, die Ausgabe: Wozu, frag ich mich, soll man sonst Kunst machen, außer zum Ausstellen? Ok, verkaufen, aber verkaufen kann ich auch Schuhe, die ich selber nähe oder abgehobelte Tische und wo landet die Kunst denn dann? Ich war gerade auf der Seite ­„Larrys List“ und das ist so eine Art Porträtseite über Sammler, ein bisschen wie die von „Freunde von Freunden“, nur eingegrenzter. Eine Ansammlung von weltweiter Reichengeschmacklosigkeit. Die Sammlerwohnungen sind noch spießiger als jegliches schwäbische Eigenheim. Wie sich da Kunstwerke völlig zusammenhangslos zusammenballen. Und dann sieht man es überall – dieses leere amerikanische Kapitalismuslächeln. Sorry, aber ich glaube, ich stecke gerade in einer Winterdepression.

14. Februar. Eröffnung von Secret Surface, KunstWerke
Schon wieder so eine Gruppenausstellung in den KunstWerken, die sich eines großes Metathemas annimmt und daran scheitert. Oder bin ich nur überfordert von den vielen mir unbekannten Namen und Gesichtern? Und zu alt für die viele hippe Medienkunst? Aber viele Arbeiten sind einfach nicht gut, weil sie aus Angst vor Minderwertigkeit mit Referenzen nur so um sich schlagen und glauben, durch den Gebrauch von multimedialen Arrangements das Hippsein nur so überstülpen zu können. Und mit dem Raum wurde auch nicht gearbeitet. Arg.

17. Februar, 8 Uhr, Schädels
Joachim macht mich drauf aufmerksam, dass Ringier die Monopol abstößt. „Holger Liebs ist auch schon entlassen.“ Die faz hat eine kleine Meldung, die Süddeutsche bringt einen ganzen Artikel. Die Cicero-Redakteure übernehmen Cicero selbst und müssen Monopol mitnehmen, dafür kriegen sie eine Mitgift, die fürs Erste reichen wird. Aber klar ist, was sie als erstes dichtmachen, wenn’s nicht läuft. Das wäre ja so als wenn Frankfurt und Hannover den gleichen Trainer im Abstiegskampf bekämen … und Holger Liebs ist wieder frei im Karussell, gibt nur keinen freien Posten zur Zeit. Schade, dass heute Florian Illies nicht da ist. Wir hätten ihn gerne gefragt.

28. Februar, im Bett
Frage mich vor dem Einschlafen, warum eigentlich Ellen Blumenstein nicht gedankt wird, oder warum sie nicht erwähnt wird, in all den Artikeln zum neuen holländischen Leiter der KunstWerke. Normalerweise kriegt man da doch noch ein paar Zeilen und die Frage, wohin sie danach geht, wird auch nicht beantwortet … hat sie doch auch ganz gut gemacht, ihren Job.

30. März, im Büro
Dieses Gruppenbild von DIS – ich kann’s nicht mehr sehen. Seit wann ist es schick, so doof an der Kamera vorbeizuschauen, vorbeizustarren. Am besten mit halb geöffnetem Mund. So replikantenmäßig, soll wohl irgendwie futuristischer aussehen, posthumaner. Bei der Brioni-Doppelanzeige schaut der Art-Basel-Miami-Leiter Matthew Slotover genauso leicht debil nach halboben. Dort sitzt dann auf der anderen Seite Daniel Buchholz und der schaut nicht zurück, auch nicht zum Leser, nein, wieder halb nach schräg oben. Was ist da?

3. April, 20 Uhr, zu Hause bei Lektüre von Mousse #52
Die Art Brussels wirbt dieses Jahr in Anzeigen mit dem Slogan „From Discovery to Rediscovery“. In der Pressemitteilung der Messe liest sich das dann so: „REDISCOVERY will be a new section at Art Brussels 2016, playing a significant role in the development of the fair’s existing ‘discovery’ profile. The section will be dedicated to art from a period between 1917 and 1987, presenting artists that have been under-represented, under-estimated, or overlooked.“
Nicht nur Kuratoren und Kuratorinnen, die damit die Kunstgeschichte umschreiben wollen, und international agierende Spitzengalerien haben dieses Segment ja schon seit Längerem für sich entdeckt. Oft ist es dabei erstaunenswert, in welch gutem, manchmal gar strahlenden Zustand die zur Schau gestellten wiederentdeckten Werke sind. Wer wohl dafür zuständig ist? Und woher kommen plötzlich all diese Werke?
DIS, Foto: Sabine Reitmaier
Brioni Anzeigen, Fotos: Collier Schorr