THE THING NYC

Crossing-Over von Kunst- und Mediengeschichte zu Zeiten des frühen Internets

2014:Dez // Susanne Gerber

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12-2014

Crossing-Over ist ein Begriff aus der Genetik und beschreibt einen chromosomalen Vorgang, der zu neuen Kombinationen von Erbgut führt. Hier wird der Begriff für ein kulturelles Phänomen verwendet. In den frühen Zeiten des Internets kreuzen sich die Wege von Kunst- und Mediengeschichte so, dass beide Bereiche Eigenschaften des anderen mit sich weitertragen. Aber schauen wir uns das doch einmal genauer an.

In den Jahren nach 1990 taucht in der Kunst das Phänomen der Netzkunst auf und begleitet kritisch den Aufstieg und Fall der New Economy, etwa ein Jahrzehnt später ist die Netzkunst jedoch wieder verschwunden. Die Bemühungen und Erfolge der Künstler führten trotz anfänglich beachtlicher Erfolge in der Kunstwelt in gewisser Weise auch wieder aus der Kunst und über die Kunst hinaus. In einem Interview aus dieser Zeit antwortet Wolfgang Staehle, Künstler und Gründer von THE THING NYC, auf die Frage „Woraus besteht ein künstlerisches Projekt im Internet?“: „Wie im echten Leben sollten künstlerische Projekte die Bedingungen widerspiegeln, unter denen sie entstehen. Eigenschaften des Netzwerkes sind Immaterialität, Unmittelbarkeit der Übertragung und weltweiter Zugriff. Das sind interessante Faktoren für künstlerische Eingriffe.“ Die künstlerische Arbeit in Auseinandersetzung mit dem Internet führte nicht dazu, dass utopische Potenzial der Kunst wiederzugewinnen, sondern ihre ­soziale, ästhetische und konzeptuelle Herangehensweise verwies auf die zukünftige, Grenzen überschreitende Rolle der digitalen Kommunikation und damit direkt in die gesellschaftliche Wirklichkeit des Lebens.
Doch folgen wir zuerst einmal Peter Weibel, dem Mathematiker, Künstler, Theoretiker und langjährigen Leiter des ZKM Karlsruhe. In seinen Ausführungen zur Mediengeschichte ver­wendet er, wie zum Beispiel in seinem Beitrag auf der diesjährigen „re:publica“ den Begriff „Infosphäre“ für die Gesamtheit medienbasierter, menschlicher und auch maschineller Kommunikation. Weibel betrachtet die Entwicklung dieser Infosphäre in Gegenwart und Zukunft als die logische und notwendige Konsequenz der Entstehung der Erdatmosphäre und der Evolution der Lebewesen. Was ist die Infosphäre? Peter Sloterdijk spricht in seiner „Sphären“-Triologie Ende der 90er-Jahre von „Blasen“, „Globen“, „Schäumen“. Die antike Lehre der Sphärik beschreibt einen schalenartigen, allumfassenden, beziehungsreich sich verknüpfenden Kosmos. Die Infosphäre also das überschäumende Universum der Kommunikation mit dem Spezialfall der technisch vermittelten, extrakorporalen Kommunikation der Menschheit, den Weibel wiederum als „Exo-Evolution“ bezeichnet. Die Geschichte der Religionen, der Wissenschaften, der Künste und der Medien kann als das Voranschreiten der „Exo-Evolution“ betrachtet werden. Das jüngste Kapitel der Geschichte der Infosphäre ist die Geschichte des Internets. Das weltweite Netz, der Anbruch eines neuen Zeit-Alters wird zwar aus dem Schoße des Militärs geboren, entwickelte sich in seinen frühen Jahren aber zum Träger einer neuen Freiheits- und Gleichheitsidee mit folgendem Credo: „Wir wollen keine Könige, Präsidenten und Wahlen. Wir glauben an einen groben Konsens und an ablauffähigen Code.“ Das Ergebnis war, dass eine Gemeinschaft von Netzwerkforschern entstand, die fest daran glaubte, dass unter Forschern Zusammenarbeit mächtiger sei als Konkurrenz. Sozial bildeten sie im aufkommenden World Wide Web einen öffentlicher Raum, in dem jeder frei schreiben und lesen konnte, zum Beispiel in der Form von „Multi User Dungeons“ (MUDs). Sie erlaubten es mehreren Spielern, gemeinsam durch rein textbasierte Räume zu ziehen, Drachen zu töten, Puzzle zu lösen und miteinander zu plaudern. Als Spielumgebungen entstanden, fanden MUDs später auch für Bildungs- und Diskussionszwecke Verwendung. 1988 kam mit dem „Internet Relay Chat“ (IRC) ein weiteres synchrones Kommunikationsformat hinzu. Parallel zum Internet kamen lokale Diskussionsforen, „Bulletin Board Systems“ (BBS) auf, zunächst als allein stehende PCs mit einer oder mehreren Einwahlverbindungen. Mit Hilfe von Telefonleitungen wurden dann auch diese Kleinrechner vernetzt. 1985 gründet Stewart Brand das legendäre „BBS Whole Earth ‘Lectronic Link“ (The WELL) in San Francisco. Kommerzielle Online-Dienste wie „CompuServe“ und „AOL“ folgten. Auch diese separaten Netze richteten Ende der 1980er-Jahre Gateways zum Internet ein, über die sie seither E-Mail und News austauschen können. Um auch Menschen außerhalb der Universitäten den Zugang zum Internet zu ermöglichen, entstanden eine Reihe von sogenannten Freenets. Ein Wendepunkt lässt sich am Übergang von den 1980er- zu den 1990er-Jahren ausmachen, in denen ein anschwellender Strom von Werbebotschaften, Spam, im Netz einsetzte. Ab 1990 wurden gezielte Anstrengungen unternommen, kommerzielle und nicht-kommerzielle Informationsdiensteanbieter ins Netz zu holen. Der erste kommerzielle Internetprovider „World“ ging 1990 an den Start. Und genau das war die Situation in der Wolfgang Staehle 1991 „THE THING“ gründete, das erste und eines der wichtigsten Künstlernetzwerke, das in den neuen Kommunikations-, Distributions- und Produktionsraum der Datennetze tritt und ein Forum für dezentralen, globalen Informationsaustausch, Diskussionen und künstlerische Projekte im Bereich der Netzkunst bietet. Das Projekt entsteht in New York, hat aber bald Tochtergründungen in Köln, Berlin, Wien, London und Stockholm. Staehle: „Diese Entwicklung wird größte Veränderungen mit sich bringen: jegliche Art von Transaktion wird viel schneller vor sich gehen und die soziale, politische und ökonomische Welt verändern, die militärische Entwicklung wird sich beschleunigen, eventuell werden Maschinen sogar die Entscheidungen übernehmen – wir wussten, dass sich alles verändern würde.“ Mitte der 1990er-Jahre dann begann das Internet immer schneller zu wachsen – und war spätestens zu diesem Zeitpunkt auch schon immer größeren Teilen der (nicht-akademischen) Bevölkerung ein Begriff. Die Geschwindigkeit der Modems stieg und das Internet gewann infolgedessen immer mehr an Popularität. Dadurch wurde es auch wirtschaftlich immer interessanter und viele größere Unternehmen begannen, auf Homepages ihre Produkte darzustellen und zu bewerben. Da der Unternehmensname häufig der Domain entsprach, die für kommerzielle Anbieter in der Regel mit „.com“ endet, wurde diese Boomphase auch als Dotcom-Boom bezeichnet. Damit endet das, was man als die „frühe Phase des Internets“ bezeichnet und worauf hier noch einmal genauer geschaut werden soll.
Wolfgang Staehle war mit der Gründung von THE THING NYC nicht nur Kind seiner Zeit aufgrund der rasanten Entwicklung der Medientechnologie, sondern er verband in besonderer Weise die Möglichkeiten der Telekommunikation mit der Idee der Netzkunst (net-based art), die bereits davor in der Kunstwelt entstanden war. Die gängige Annahme, dass der Internet-Boom auslösend war für die Idee der Netzkunst, muss entschieden revidiert werden. Künstler hatten sich der Idee der Vernetzung und des Netzwerkes bereits vor der Entstehung elektronischer Netzwerke zugewandt und damit künstlerisch agiert. Sie waren somit bereit und in der Lage, die neuen technologischen Möglichkeiten und Dimensionen zu erkennen und durchzuspielen, bevor die digitale Telekommunikation die breite Öffentlichkeit erreichte. Dieter ­Daniels bezeichnet diese Gruppe von Künstlern, die die Kraft und Fantasie hatten, Kunst und Technologie zusammenzudenken und zu gestalten, in der von ihm und Gunther ­Reisinger herausgegebenen Publikation „Net Pioneers 1.0“ aus dem Jahr 2010 als Netzpioniere und sieht sie, ihrer Zeit voraus, an der Schnittstelle von Kunst- und Mediengeschichte: „Eine sich schnell entwickelnde, internationale Kunst befand sich plötzlich im Wettlauf mit einem rasant sich verändernden technologisch-gesellschaftlichen Kontext.“ Die Netzpioniere treten nach Daniels mit folgenden Ansätzen auf die Bühne von Kunst und Netz: Sie folgen einer Kritik am „bürgerlichen“ Kunstbegriff und damit an einer kommerziellen und institutionalisierten Kunst. Sie entwickeln die Idee einer „Kunst für alle“, die mit ihrem Publikum in direktem Austausch steht und die Kontrollinstanzen des Kunstbetriebes umgeht. Sie schaffen Werke in kollektiver Autorenschaft oder anonym als Kritik am Mythos des Genies. Es wird die Idee des Übergangs von der Kunst ins Leben und in die Politik erneut aufgegriffen. Kunst, die nicht als Kunst kenntlich sein wollte, und Kunst, die schockierte, indem sie so real war, entstand. Nationale Zuordnungen galten nicht mehr. Die Reflexion des Mediums mit den Mitteln des Mediums wurde gefordert.
Die Community war erst einmal eine Insidergruppe von weltweit agierenden, technophilen Künstlern und die neuen Freiheiten wurden als Freiheiten von den Regulationsmechanismen des Kunstbetriebes verstanden. Die Idee von Vernetzung, Austausch und Zusammenarbeit speiste sich aus dem Wunsch nach einer neuen Kunst, die direkter, transparenter, vielgestaltiger, schneller, intelligenter und spaßiger, schlicht kommunikativer war als alles Bisherige. Sie sollte den Rahmen dessen was Kunst bis dahin war überschreiten. Staehle: „Es gab in dieser Zeit eine Bewegung der institutionellen Kritik, aber das Ironische daran war, dass die Institutionen sehr schnell damit umzugehen lernten: sie gaben der Sache einen Rahmen und die Kritik war integriert und auch verschwunden. So wählten wir ganz bewusst eine Außenseiterposition, einfach um einen Diskurs zu ermöglichen, der unabhängig blieb, um frei über das ganze Phänomen einer sich wandelnden Kunst sprechen zu können.“ Schauen wir uns die einzelnen Elemente an, aus denen sich die Plattform THE THING zusammensetzte, so wird schnell klar, wie hier bereits das ganze Spektrum von Kommunikationspotentialen des Internets antizipiert und gleichermaßen realisiert wurde. Das Menue von THE THING stellte Diskussionen, Rezensionen, ein Audio- und Videoangebot, Internetprojekte und Editionen bereit:

[thread] Die Diskussionsforen waren moderierte Nachrichtenlisten zu Themen von Ästhetik bis Politik, von Netzaktivismus bis hin zu den Belangen von netzspezifischer Kunst.

[radar] war ein ständig aktualisierter, moderierter Kalender zu Ausstellungen und Veranstaltungen in New York.

[fog-chat] war ein Chatroom, in dem sich Besucher anonymisiert treffen und unterhalten konnten.

[thing.review] Die Rezensionen präsentierten kritische Essays zu Ausstellungen, Büchern, Filmen, neuen Medien und anderen kulturellen Phänomenen. Leser konnten Kommentare hinzufügen und es war eine öffentliche Diskussion möglich.

[video] war ein Archiv von Videoarbeiten und stand frei zu Verfügung.

[audio] Im Audioarchiv waren Hörspiele, Sound-Collagen und akustische Kunstwerke zu finden. Außerdem gab es ein Non-Stop-Radio mit Musik von wichtigen Musikern der Avantgarde-Musik-Szene, eingeladenen DJs und anderen Sound­künstlern.

[projects] Die Abteilung Projekte bildete den virtuellen Ausstellungsraum von THE THING. Seit den Tagen als THE THING ein BBS war, waren in Zusammenarbeit mit Künstlern spezielle Online-Kunstwerke erstellt worden.

[editions] Hier wurden Kunsteditionen verschiedener Art in Zusammenarbeit mit den Künstlern veröffentlicht und zum Kauf angeboten. So konnten Künstler und die Non-Profit-Struktur von THE THING unterstützt werden.

Dieter Daniels fasst in „Net Pioneers 1.0“ die programmatischen Ziele von THE THING NYC in drei Punkten zusammen:
— die Konstruktion einer unabhängigen, zum Teil selbst-designten technischen Infrastruktur
— den Aufbau einer sich selbst organisierenden Netzwerk-Community, in der ein kommunikatives Modell von Diskurs gemeinsam erstellt und erprobt werden konnte
— die Entwicklung eines kunstspezifischen Netzwerkes, um damit die Potenziale des Mediums experimentell und reflektierend zu erforschen und er kommentiert das Programm folgendermaßen: „Diese Entwicklung vollzog sich in einer sowohl für die Medien als auch für die Kunst in dieser Zeit ungewöhnlichen, autonomen Situation; die Gesamtkonstruktion war nicht nur unabhängig von jeglicher Institution, sondern existierte auch außerhalb kommerzieller Kontrolle.“

Idee und Ausführung lagen aufgrund des besonderen kunst- und mediengeschichtlichen Zeitpunktes nah beieinander und bei der Begegnung von Kunst- und Mediengeschichte kam es zu einem Crossing-Over wie eingangs beschrieben. So liest sich THE THING heute wie ein Plan für alles, was das Internet in den folgenden Jahren zu bieten hatte, eine frühe, vielleicht auch unschuldige Blütezeit der internetbasierten Phase des Kommunikationszeitalters. Hier noch einmal zu Peter ­ Weibel: Die Entwicklung der Infosphäre schafft und erweitert, seiner Analyse nach, den Lebensraum der Menschen auf der Erde. Eine intelligent vernetzt kommunizierende Menschheit kann in weit größerer Anzahl auf dem Planet Erde überleben als eine Menschheit ohne diese Mittel. So entsteht laut Weibel eine Verantwortung für alle, die „Exo-Evolution“, die ja ein intentionaler Prozess ist, in richtiger Weise voranzutreiben und ihr Potenzial nicht zu vergeuden. Eine zweckentfremdete und somit kontraproduktive Verwendung der Möglichkeiten sieht er zum Beispiel im Aufbau von exzessiven Spionage- und Überwachungsapparaten auf staatlicher und industrieller Seite. Damit kann die „Infosphäre“ zum Kontroll- und Herrschaftsmedium degenerieren und ihre Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten einbüßen.
Gerade hier kann es Inspiration liefern, in die frühe Zeit des Internets zurückzuschauen. Das THING NYC zeigte uns spielerisch, beispielhaft und weit seiner Zeit voraus, was eine vernetzte Kommunikation vermag.

Screenshot: http://old.thing.net (Website ca. 1995)
Screenshot: http://bbs.thing.net/login.thing (Website ca. 1997)