Einer von hundert

Corona-Tagebuch aus dem Berliner Herbst 2020 und Frühling 2021

2021:Juni // Einer von hundert

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06-2021

16.7.2020 Bilderkeller der Akademie der Künste am Pariser Platz
Der Besuch im lichtdurchfluteten Neubau hat eine Spurensuche zur Geschichte der ehemaligen Akademie Ost zum Ziel. Durch den Krieg arg in Mitleidenschaft gezogen, wurde sie seit 1952 von Mitgliedern und ihren Meisterschülern wieder als Atelier genutzt. Sie bezogen die Ausstellungshallen, die erhalten geblieben waren, und feierten Faschingsparties im Keller, während der Thronsaal von Grenzsoldaten genutzt wurde. Im Rahmen einer Führung steigen wir in den Keller hinab, um uns die erhalten geblieben Malereien anzuschauen, die in den Jahren 1957/58 von Künstlern wie Manfred Böttcher, Harald Metzkes, Ernst Schroeder und Horst Zickelbein entstanden sind. Zur Freude über die Wiederentdeckungen gesellt sich Erstaunen: ob des Wassers, das von Dach tropft und der Tatsache, dass die Malereien, die sich in dem Teil des Kellers befanden, der an ein Restaurant vermietet wurde, beim Umbau fast komplett zerstört worden wären, hätten nicht Mitarbeiter*innen der AdK in letzter Minute Einhalt geboten.
Ich bin fasziniert davon, wie viele Geschichten sich am Beispiel des Bilderkellers erzählen lassen: die Geschichte der Akademie und ihrer Trennung und Wiedervereinigung, die Geschichte einer geteilten Stadt, die Geschichte eines Hauses, seiner Nutzungsweisen, Umbauten, Zerstörungen, Baukatastrophen und die Geschichte der Mühen und Kosten, die notwendig sind, solcherart Kunstwerke zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zu guter Letzt ist es eine Art Kunstgeschichte und die Geschichte des Untergrunds – denn diese Malereien anlässlich zweier Faschingsfeiern waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sie sind eher spielerisch als repräsentativ, bewegen sich inhaltlich zwischen thüringischen Jagdszenen und Picasso, zwischen modernistischer Abstraktion/Reduktion und Freude am Farbspiel und Ausmalen.

20.9.2020 HKW: Aby Warburg
Statt Text ein paar Stichworte:
Der Zettelkasten, die Verschlagwortung
Der Erinnerungsspeicher, die Bildersammlung
Das Prinzip der guten Nachbarschaft
Die Wanderung/Migration der Formen
Gegen die grenzpolitische Befangenheit

Sein offener Kunstbegriff: Fotos, Katalog- und Magazinseiten, plötzlich taucht ein Luftschiff auf, hat es Werbung, gibt es Briefmarken.

Entdämonisierungsprozess der phobisch
geprägten Eindruckerbmasse
Ewiger Kalender natürlicher Magie
Tonlebermodelle

Was für eine komplexe Angelegenheit: Neben den Zusammenstellungen der Bilder sticht ihre Materialität ins Auge .
Auf den Rückseiten gibt es Stempel vom Institut in London, dazu handschriftlichen Notizen, einzelne Schlagwörter, die auf den Vorderseiten fehlen, wo nur die Nummerierung Orientierung bietet.
Ich bin begeistert davon, wie man mit dieser Präsentation Einblick in Warburgs Arbeitsweise und -kosmos bekommt, und es ein tolles Miteinander-in-Beziehung-Setzen und Assoziieren ist, das man beobachten und zu dem man selber angeregt wird.

27.9.2020 Brücke Museum: Vivian Suter
Das fand ich interessant, die Ausstellungen von Katharina Grosse im Hamburger Bahnhof und von Vivian Suter im Brücke Museum zu vergleichen. Denn während Suter viel Lob bekommt, fällt Grosse bei Künstlerkolleg*innen oft durch. Und auch mir kommt ihre Installation/Intervention vor allem wie eine große, potente Geste vor, der aber nichts folgt, die irgendwie leer bleibt. Suter dagegen verändert mit ihren Leinwänden, die ohne Rahmen direkt von der Decke hängen, die Logik des Ortes. Ihr gelingt es den Fokus von der ständigen Sammlung und der starken Architektur des Ortes auf ihre Arbeiten zu lenken – aufgrund der schieren Menge an Arbeiten, aber auch durch die spezifische Hängung inmitten der Räume. Interessant, dass beide auch nach draußen gehen, aber wo es bei Grosse ein etwas wahlloses Ausbreiten ist, hängen Suters Arbeiten passend unter einem Dach, sehen zwar nach Wäsche aus, fügen aber der Architektur eine andere Materialität und Nutzungsweise hinzu. Während Suter die Malerei um das Vorläufige, Unfertige und Verletzliche erweitert, reproduziert Grosse, so scheint mir, die machtvolle, raumgreifende Geste, wie wir sie oft von Künstlergenies gesehen haben; dass sie sich diese Art mit Raum umzugehen aneignet, imponiert mir, aber mein Herz kann sie damit nicht erobern.

4.9.2020 Gropius Bau: Berlin Biennale
Ich sitze auf den Treppen und bin touched. Das passiert mir selten, vor allem, wenn ich so überfüllt vom Kunstgucken bin, dass am Ende ein Gefühl von Berührt-worden-Sein übrig bleibt. Um mir einen Überblick über das Gesehene zu verschaffen, fange ich an, Stichwörter aufzuschreiben und in einem Diagramm miteinander zu verbinden: Kolonialisierung, Religion und Trauma stehen da, Heilung, Spiritualität, Queerness und (indigene) Kämpfe; der Konfrontation mit Leid und Gewalt folgen kraftvolle und selbstermächtigende Arbeiten. Ich finde, es hat viele narrative Kunstwerke (wie Teppiche und Comics) und viele komplexe, mehrteilige Arbeiten, die auf intensiven Recherchen basieren, genauso wie es viele Arbeiten gibt, die in kollektiven Zusammenhängen entstanden sind. Es gibt viele lateinamerikanische Künstler*innen, die allermeisten kenne ich nicht. Es gibt Positionen, die sich an den Rändern des Kunstfeldes befinden, weil sie als „Outsider“ gelten, wie die Patient*innen aus psychiatrischen Kliniken oder wie die Berliner Künstlerin Galli nicht kanonisiert sind. Oftmals gibt es einen persönlichen Ton, gibt es Kurzschlüsse zur eigenen Biografie, was die Arbeiten nahbarer macht. Ich finde es gut, wie konsequent die Kurator*innen die Themen, die sie in den drei im Vorfeld stattgefundenen Experiêncas stark gemacht haben, auch im Epilog verfolgt haben. Ich finde es thematisch und formal verdichtet (z.B. durch die wiederkehrenden Bezugnahmen auf Flávio de Carvalho) und gut aufeinander bezogen.

19.2.2021 Im Keller vom Büro
Warum interessiert mich eigentlich nur noch Sport? Jetzt nicht unbedingt schauen, nein, selber machen. Jetzt hab ich auch noch Boxen angefangen. Wenn ich zu Decathlon gehe, besuche ich sieben Abteilungen. Sind das alles Ersatzkulturhandlungen? Statt Ausstellungen, Kino, ­Theater jetzt noch Tischtennis, Boxen, Boule und Dart zusätzlich zu Tennis und Golf. Oder ist das einfach eine Alterserscheinung? Jedenfalls hab ich mir zum Geburtstag eine Dartscheibe geschenkt, die ich heute aufgehängt habe. Ich frag mich nur ob die 20-Euro Pfeile reichen?

22. 5.2021 Auf der Straße
It is crazy: Die Läden und Restaurants öffnen wieder, draußen ist halligalli. Man ist es nicht mehr gewöhnt: so viele Menschen draußen, die an Tischen sitzen, mit dem Fahrrad fahren, Trauben bilden.
Das erste Mal seit Langem bei einer Kunstveranstaltung ohne Anmeldung und Test. Herumstehen, trinken, unverabredet Leute treffen, Small-Talk halten und von Gespräch zu Gespräch wandern, bis der Rücken weh tut, das Bier zu kalt ist in den Händen. Es ist ein euphorisierendes Gefühl, wieder zusammen zu sein, und alle sind überrascht, wie schnell die Zeit vergangen ist, als wir um elf auf die Uhr schauen – zu dieser Zeit liegen wir sonst doch schon im Bett!

6.6.2021 Inselstraße
Das laute Laufen zwischen den leisen Lamellen ist begrenzt.Geleimter SPRELACART – Steg als Fassadenattrappe mit Einblicken, Durchblicken hin zu ausgeperrter Natur. Für Ausschnitte der Leerstellen einer modernen Vision des geschlossenen maskierten Lebens voller Ängste. Die Neonlampenplanke als Zielvorgabe für Erhellung in Rastern der Erkenntnisse, DDR-Schick mit eingeschlossen. Graubeton, Holz, Rundlampen, Farbe mit Bögen als Zitate der Sesshaftigkeit, im Hin und Her. Beiläufige Kommentare sind tatsächlich zu hören. Die Metalandschaft, -ebenen, Höhen wie Täler relativiert davor. Was jetzt kommt – dennoch endlich im Freien auf Brücken das Ende feiern. Verlassen sind vorerst die meisten der Inseln.

18.6.2021 Büro
Wenn ich jetzt beim Tagebuchschreiben das Jahr nochmal Revue passieren lasse, das jetzt so berühmte Corona-Jahr, kann ich einerseits gar keine so großen Lücken sehen. Ich habe sogar ausgestellt, einen Kunstpreis gewonnen, Bücher gestaltet, Geld verdient, Menschen getroffen, alles recht normal, sogar teilweise mehr als 2019 oder 2018, natürlich auch mit ein paar Abstrichen. Andererseits fällt mir nichts ein, was ich gesehen hätte, über das ich jetzt ­schreiben wollte. Also der Output lief ganz gut, der Input wohl nicht so. Aber auch hier wieder der Verdacht, dass das mit einem Alterungsprozess zu tun hat. Kommt halt nicht mehr so viel durch … Hoffen wir, dass es an Corona lag, zu sehen gab es ja wirklich nicht so viel.

18.6.2021 Am Märchenbrunnen
Der Name ist schon ein bisschen Gaga, Huhuhu-Studio heißt die neue Kollaboration von Jürgen Drescher mit Stelan Mergenthaler und als Erstes malten sie eine Eule auf ein Stück Wand, engäugig im hochformatigen Handyformat mit abgerundeten Ecken, t a x steht noch drauf. Dann wurde es wieder abstrakter, außer dass das Format blieb. Lockerflockig entstand ein ganzer Werkkomplex mit Neonfarben, schicker Schrift und einfachen Formen, viel wurde gesprüht. Das Schnelle entfaltet wieder eine drescher­hafte Frische, die durch die Formsicherheit von Mergenthaler gehalten wird. „Kunst ist für Reiche“ und „enrichissez-vous“ (bereichert euch) ist noch zu lesen, ganz passend zu unserem Geld-Spezial … mehr dazu bitte googeln.

21.6.2021 Choriner/Ecke Zionskirchstraße
Das Haus ist eigentlich mein Wohnzimmer, die Choriner mein Flur. Ich bin hier zwei-, drei-, viermal täglich, um kurz Pause zu machen, Kaffeetrinken, essen, eventuell eine Zigarette rauchen. Zur Zeit mehr noch im Späti als im Lass uns Freunde bleiben. Und das seit über 20 Jahren. 1998 hab ich bei Axel Bierkästen nachgekauft, wenn bei den Vernissagen von Koch und Kesslau alles alle war.
Jetzt ist das Haus in Riesengefahr. Der den Läden eigentlich wohlgesonne Eigentümer hat verkauft. Warum man mit über 70 nochmal fünf Millionen Euro flüssig machen will, wäre eine Frage für ein „Geld-Spezial 2“ – mit vier-, fünftausend Euro Mieterlös könnte man sich bestimmt was Hübsches mieten. Jetzt kommen Münchner Luxussanierer und wollen filetieren und zehn Millionen draus machen. Noch könnte der Verkauf abgewendet werden und die Stadt müsste ihr Vorkaufsrecht nutzen, die Bremer Höhe Genossenschaft ist mit im Boot, Unterstützungsmöglichkeiten findet man unter www.choriner12.de. Es ist nicht nur mein Wohnzimmer, es ist das Wohnzimmer des ganzen Kiezes.  
Ausstellungsansicht Vivian Suter, Brücke Museum
Galli, „Der Mandelhund“, 1987
„Meta Modell“, Ausstellungsansicht „Die Möglichkeit einer Insel“, Berlin
Ausstellungsansicht Huhuhu-Studio, https://huhuhu.studio/