Lee Mingwei

Gropius Bau

2021:Juni // Ferial Nadja Karrasch

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06-2021

Liebe Leserin und lieber Leser, stellen Sie sich bitte vor, Sie säßen in einem Café – in Zeiten von Corona eine geradezu aufregende Vorstellung. Es ist in unserem Gedankenspiel allerdings nicht 20-Corona-Jahr-20, sondern 1994. Sie sitzen also Mitte der 90er in einem Café, trinken Ihren Kaffee und beobachten dabei einen jungen Mann, sagen wir um die 30, der seit einiger Zeit kleine Origami-Figuren aus 20-Mark-Scheinen faltet. Er bemerkt Ihren Blick, kommt mit einer der Figuren an Ihren Tisch und stellt sich Ihnen als Künstler vor. Vielleicht sagt er etwas wie: „Mein Name ist Lee Mingwei und ich möchte Ihnen dieses Kunstwerk schenken.“ Es gibt nur eine Bedingung: Sie erklären sich bereit, dass Lee Sie zwei Mal kontaktieren darf, einmal nach sechs und einmal nach 12 Monaten.
Was würden Sie mit diesem Geld-Objekt anstellen? Den Künstler und seinen Marktwert „googeln“ können Sie nicht, denn Google existiert noch nicht und trotz der bereits vorhandenen Suchmaschine Yahoo kommt Ihnen der Gedanke, einen Menschen und seinen Marktwert innerhalb weniger Sekunden zu recherchieren, wahrscheinlich eher nicht.
Was machen Sie also? Behalten Sie das Objekt als Kunstwerk oder freuen Sie sich über die geschenk ten 20 Euro, pardon: Mark? Und wenn Sie sich entscheiden, das Geld auszugeben, was kaufen Sie? Oder anders gefragt: Welcher Wert steht für Sie in diesem Fall im Vordergrund, der immaterielle Wert, das Wissen, das Kunstwerk eines eventuell erfolglosen Künstlers zu besitzen, oder der monetäre Wert des tatsächlichen Geldscheins?
Um diese Fragen geht es in Lee Mingweis Arbeit „Money for Art“ (1994). Das frühe Werk des Künstlers (geboren 1964 in Taichung, Taiwan, lebt in Paris und New York) ist als Serie von fünf Fotografien in der Ausstellung „Lee Mingwei: 禮 Li, Geschenke und Rituale“ (27. März bis 12. Juli 2020) zu sehen. Die Aufnahmen zeigen die aus 10 Dollar-Noten gefalteten Objekte und dokumentieren, wer sie erhalten hat und wofür sie gegebenenfalls ausgegeben wurden: Nach sechs Monaten tauschte ein Student das Geld gegen ein Paar Mokassins, eine Kellnerin kaufte sich Bananen sowie zwei Packungen Häagen-Dazs. Nach weiteren sechs Monaten war eine Skulptur gestohlen worden, eine andere hatte seiner Besitzerin den Kauf einer Paul-Simon-CD ermöglicht. Fünf Origami-Figuren, davon eine im Besitz eines Obdachlosen, waren erhalten geblieben.
„Money for Art“ nimmt sowohl das Kunstwerk im Regime des kapitalistischen Tauschs in den Blick als auch die Rolle der Besitzerin im Hinblick auf die Wertzuschreibung. Denn ob ein Kunstwerk, oder allgemeiner: ein Objekt, in seinem monetären Wert aufgeht oder darüber hinaus auch eine immaterielle Bedeutung erlangt, liegt nicht zuletzt im Auge der Betrachterin oder eben Besitzerin.
Auch die Arbeit „Nu Wa Project“ (2005) sucht sich im Besitzer einen Komplizen: Das Werk, ein traditionell handgewebter Seidendrachen, der die frühchinesische Schöpfergöttin Nu Wa zeigt, ist so konzipiert, dass es nach dem Verkauf verschwinden soll. Der Käufer wird zum Co-Autor, der seine Träume auf den Drachen schreibt, ihn im Anschluss steigen und letztendlich davonfliegen lässt. Erst durch die Mithilfe des Besitzers, durch das Aufschreiben seiner Träume und vor allem durch das Gehenlassen des materiellen Objekts wird „Nu Wa Project“ vervollständigt. Somit entzieht sich das Werk der kapitalistischen Schlinge und regt – ebenso wie „Money for Art“ – dazu an, sich über Wertzuschreibungen Gedanken zu machen: Wo­raus generiert sich der persönlich empfundene Wert eines Kunstwerks, wenn von vornherein ein Dasein als mögliches Tauschobjekt ausgeschlossen ist.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht 禮, das konfuzianische Prinzip li: Es beinhaltet Gedanken zu Ritualen, Riten, Geschenken und Anstandsregeln und findet sich in der einen oder anderen Form in jeder der gezeigten Arbeiten wieder. Obwohl die Pandemie und die damit einhergehenden Bestimmungen einzelne Werke in nicht geringem Maße beeinträchtigen (so kann beispielsweise „The Sleeping Project“ (2000/2020) nicht stattfinden: Sechs per Zufallsprinzip ausgewählte Personen hätten hier gemeinsam mit dem Künstler oder einem Mitglied des Gropius Bau-Teams eine Nacht in der Ausstellung verbracht), trifft die Ausstellung doch in besonderer Weise den von Isolation geplagten Nerv der Zeit: Denn die Räume der Ausstellung werden durch Lees Arbeiten zu Orten des Austauschs und der Begegnungen. Natürlich alles unter Einhaltungen der Corona-Bestimmungen. So lädt beispielsweise „The Letter Writing Project“ (1998/2020) die Besucher*innen dazu ein, einen Brief zu verfassen, in dem sie sich bei jemandem bedanken oder entschuldigen. Adressierte und verschlossene Briefe werden nach Ablauf der Ausstellung vom Gropius Bau-Team versandt, unverschlossene Briefe sind für alle einsehbar und werden am Ende des Projekts vom Künstler in einer Zeremonie verbrannt. Über 60.000 solcher Briefe hat Lee bereits zusammengetragen.
Und in „Sonic Blossom“ (2013/2020) verschenkt ein*e Opernsänger*in ein Lied aus Franz Schuberts Repertoire. Während in „normalen“ Zeiten die beschenkte Person auf einem Stuhl im Ausstellungsraum sitzt und besungen wird, sind nun nur Aufzeichnungen vorhergegangener Performances zu sehen. Die Idee des immateriellen Geschenks vermittelt sich dennoch. Und die Freude und Rührung der anderen zu betrachten ist fast genauso schön, wie diese Gefühle selbst zu empfinden.
Auch „The Dining Project“ (1997/2020) erfährt aufgrund der Pandemie eine größere Veränderung. Eigentlich wäre jeden Dienstag – der Gropius Bau ist an diesem Tag für die Öffentlichkeit geschlossen – eine per Verlosung ausgewählte Person zu einem Mittagessen eingeladen worden. Der Künstler selbst oder ein Mitglied des Gropius-Bau-Teams hätte das Essen zubereitet und es mit der ausgewählten Person in einem der hinteren Räume der Ausstellung auf einer Holzplattform eingenommen. Da die Performance in dieser Form nun nicht möglich ist, findet die Zusammenkunft per Video-Chat statt. Hierfür tauschen der Künstler und die jeweilige Person vorab ein Rezept für ein Gebäck aus, das dann beim virtuellen Treffen „gemeinsam“ verzehrt wird.
Von den Corona-Einschränkungen unberührte Arbeiten wie „Fabric of Memory“ (2006/2020) und „The Tourist“ (2001/2020) sind aufgrund ihrer narrativen Struktur besonders geeignet, den Besucher aus seinem Hier und Jetzt, dem er in der aktuellen Situation doch sehr verhaftet ist, in ein Anderswo zu manövrieren. Während „The Tourist“ den Betrachter-Blick anhand von Fotografien und Souvenirs in unterschiedliche Städte lockt, erzählt die Arbeit „Fabric of Memory” (2006/2020) von besonderen Kleidungsstücken und den damit verbundenen Geschichten. Im Vorfeld der Ausstellung hatte Lee dazu aufgerufen, ihm Stoffgegenstände zukommen zu lassen, die von einer geliebten Person angefertigt worden sind. Die zur Verfügung gestellten Textilien liegen in der Installation in Holzkisten, die wie ein Geschenk mit einem traditionellen japanischen Sanada-himo-Band zugebunden sind. Öffnet man sie, findet sich auf der Innenseite des Deckels die Geschichte, die das jeweilige Objekt begleitet. Berührende Episoden tauchen aus den Kisten auf, Lebenswege, die untrennbar mit den Kleidungsstücken und Stoffgegenständen verbunden sind.
Lees Arbeiten changieren häufig zwischen der Wertschätzung des Individuellen, Persönlichen und der Einbettung dieses Besonderen in einen gemeinsamen Kontext, in etwas Allumspannendes. Alles, so scheinen seine Arbeiten zu sagen, ist Teil eines großen Ganzen, dem wir in unserer Unterschiedlichkeit angehören.
Es ist dieser Subtext, der die Besucherin mit einem Gefühl aus der Ausstellung entlässt, als hätte sie gerade ein intensives Gespräch mit einem Freund geführt, als wäre man auf einer Party per Zufall an einen Menschen geraten, mit dem man sich überraschend gut unterhalten konnte. Können Sie sich an so etwas noch erinnern?

Lee Mingwei, „禮 Li, Geschenke und Rituale“
Gropius Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin,
27. 3.–12. 7. 2020
 
Lee Mingwei, „Money for Art“, 2006/2020, Foto: Laura Fiorio