Der anachronistische Zug

oder: Schlossfreiheit und Democracy

2021:Juni // JG Wilms

Startseite > 06-2021 > Der anachronistische Zug

06-2021

Gebt Acht, Leute, im Programm steht: „Sämmtliche Unterthanen werden von freien Stücken, reinlich gekleidet, wohlgenährt, und mit zufriedenen Gesichtern sich längs der Landstraße aufstellen.“ (Georg Büchner, Leonce und Lena II, 1836)




A
ASBEST. Die Posse, als, mit dem Argument der „Asbest-Verseuchung“ (und auf Seuchen ist der deutsche Volkskörper seit den 30er Jahren ganz besonders geimpft), der Abriss des Palasts der Republik beschlossen wurde. Mit einem Argument, mit dem so ziemlich jedes öffentliche, in den 60er- und 70er-Jahren errichtete Gebäude Gesamtberlins hätte wieder abgerissen werden müssen. Von der ­Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße bis zur Silberlaube der FU. Ein Land, zwei Systeme, ein Baustoff.

B
BERLINER Unwille. Schon 1440 wollten die Berliner*innen (damals noch ohne Sternchen) kein Stadtschloss, wohlweißlich wegen der damit verbundenen Aufgabe städtischen Lands (→ Gentrifizierung). Im Übrigen eine erste historische Niederlage des deutschen Bürgertums. Weitere sollten folgen.

C
CORONA. Die Artenvielfalt in einem Jungle, und so auch in der Metropole, erklärt sich nicht etwa aus einem Reichtum an Resourcen, sondern vielmehr aus ihrem Mangel. Verwertungskette reiht sich an Verwertungskette, und so auch in Berlin, wo die Pandemie gerade den Jungle auskocht wie einen alten, sandigen Stein, der mit wenig Moos und vielen bunten Blüten bewachsen ist. Soweit zu Lyrik und Jungle; es bleibt abzuwarten, welche Rolle die vor ihrer endgültigen Prekarisierung stehende Freie Szene im Kontext des Humboldtforums als Veranstaltungsort spielen darf.

D
Berliner DOM. Volksmundl. für die an der Stelle der von Schinkel zwischen 1816 und 1821 klassizistisch umgebauten Hallenkirche errichtete Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin. Der auch Hohenzollern-Kirche (s.u.) genannte Monumentalbau enthält mit der Hohenzollerngruft (s.u.) die größte dynastische Grabstätte Europas. Das Ensemble steht im Kaiserreich für ‚Kirchenkampf‘ und das „Bündnis von Thron und Altar“ gleichermaßen, d.h. für die ideologische Hegemonie von militantem Protestantismus und Preußentum. 1

E
Elektro-Mobilität (s.u. „Kongokonferenz“)

F
FORUMSCHECK – objektiv ein des sinnlichen Fetischs der D-Mark enthobenes, in der DDR zugelassenes Zahlungsmittel; subjektiv: ein fauler Wechsel.

G
GESCHICHTE. Erzählung oder, meist weniger angenehm: Reale Abfolge von Katastrophen, die wir, Humanisten, uns, den Entfremdeten, seit fast einem Äon schönreden, etwa als: Göttliche Komödie. 10 Jahrhunderte – Ein Äon. 10 Äonen – und noch immer nicht wirklich weiter: Menschheit. Feuerbeherrschung, Erdbeherrschung, Wasserbeherrschung, Luftbeherrschung, seit dem Atomteststoppabkommen von 1963 auch mit Weltraumrecht. Geschichte. Eine Abfolge von Überschreibungen, aus denen sich nie gleiche, aber immer ähnliche patterns ergeben. Ihre Quelle, menschliche Arbeit, zu arrangieren, zu verwalten, zu unterdrücken, bildet seit ihrem Bestehen die Geschäftsgrundlage patriarchaler Herrschaft.

H
HOHENZOLLERN. Weltbekannte, aus dem Südwesten zugewanderte Großfamilie, die mit aggressiver Siedlungspolitik, Schutzgelderpressung und dem Anzetteln unzähliger bewaffneter Auseinandersetzungen (→ Weltkriege) aus der deutschen Geschichte (s.o.) nicht mehr wegzudenken ist. Da sie über eine ausgezeichnete PR (→ freie Presse) verfügt, gefällt es dem aktuellen Sprachgebrauch, diese „Erblinge des Unheils“ (JGW), d.h. dero von Hohenzollern, nicht als Clan-Kriminelle zu bezeichnen.
I
IMPERIALISMUS. Veraltet für „Globalisierung“, nach Lenin „höchstes Stadium des Kapitalismus“; darf darum nicht mehr so genannt werden, s.u. „Kongokonferenz“.

J
JAHRESZAHL. Bei diesem Gebäude, einer komplett hybriden Hekatombe aus Asche und Beton, von der ‚Authenzität‘ des Grabkreuzes auf der Kuppel zu fantasieren, ist entweder delirant oder hat System. Möglicherweise beides. Da ist dann die JAHRESZAHL in der Fassade auch nur so echt wie der Doktor des zu Guttenberg.

K
KONGOKONFERENZ. Wenn schon die Hütte mit Raubkunst vollgestellt ist, wäre es langsam an der Zeit, eine 2. Berliner KONGOKONFERENZ ins Leben zu rufen. Und wie einst (s.o. → Geschichte) König Leopold die von ihm als Kampf gegen arabische Sklavenhändler verkauften Massaker und Massenmorde rechtfertigte – worin Bismarck übrigens durchweg den Schwindel erkannte –, wäre es heute angebracht, im Namen der Menschrechte die seltenen Erden des Kongos, die aktuell nur zu 70% von westlichen Konzernen ausgebeutet werden, ganz in die Hände vergangener (EU) und zukünftiger (NATO) Friedensnobelpreisträger zu legen. Diesmal weniger wegen Kautschuk als eher wegen Kobalt und Coltan (s.a. → Digitalisierung, Elektromobilität)

L
LATENZEN. In der Geschichte (s.o.), so viel sollte klar sein, ergeben sich nicht unmittelbar Kausalitäten. Und wie ‚das nicht Geschehene die Ursache des tatsächlich Geschehenen‘2 werden kann, können zwischen dem, was geschehen ist und dem, das daraus folgt, nicht mehr ermessliche Zeiträume liegen. Diese Zeiträume nennen wir LATENZEN. Nämliches gilt für die symbolischen, politischen und kulturellen LATENZEN (um nur einige zu nennen) des gerade in die Geschichte (s.o.) tretenden Stadtschlosshybriden.

M
„ … man sieht die Dardanellen und das Marmormeer. Fort, ihr Schlingel! An die Fenster! Da kömmt Ihro Majestät.“ 3

N
„kein-schloss-in-meinem-NAMEN.de“, in der Folge des „Volkspalastes“ 2009 (s.u. Zweifel) von Christoph Wagner und Nina Brodowski gestartete web-Initiative gegen den „Wiederaufbau“ des Stadtschlosses. 4

O
ORIGINAL. „Nur original ist legal.“ Die auf gamer und cracker gemünzte Formel entspricht etwa dem, was Kinder aus besserem Hause in der höheren Bildungsanstalt gelernt haben: Quod licet Iovi non licet bovi. Denn was für Raubkopien gilt, gilt eben noch lange nicht für Raubkunst, und erst gar nicht für die als Forum demokratischer Kultur vermarkteten Kolonialkunsthallen.

P
POSTMODERNE. Mit seinen Fassaden, Inschriften, Insignien stellt das Hohenzollernforum architektonisch zwar einen (wenngleich nicht lupenreinen) fake dar, entspricht aber symbolisch ziemlich genau dem POSTMODERNen Konzept des simulacrums (Baudrillard). Den Beginn der POSTMODERNE in der Architekturgeschichte bildet dabei – wenn auch nicht in der Fachliteratur – die Integration der Stadtschlossfassade (s.a. → Portal V) in das Gebäude des Staatsrats der DDR.

Q
Quark. Leicht säuerlicher Weichkäse, der billig ist und rasch verdirbt. Synomym für Revisionismus (s.u.).
(Vgl. → Luxemburg, Rosa)

R
REVISIONISMUS. Revisionen kennen wir alle aus dem Badezimmer: Wenn einmal wieder das Haupt- und Schamhaar die Abflussrohre verstopft und keine Chemikalie der Welt mehr weiter weiß, dann schlägt die Stunde der Revisions-Klappe. Sie erlaubt eine technische Überholung der Abflussrohre, ohne dass du gleich das ganze Bad auseinandernehmen musst. Analog dazu verzichtet der vor allem in der Sozialdemokratie verbreitete REVISIONISMUS auf revolutionäre Umtriebe und setzt statt auf Umbau eben auf: Revision. Eine besondere Spielart des Revisionismus stellt wiederum der bürgerliche Geschichts-Revisionismus dar, der historische Fakten neu zu bewerten sucht. Den fatalen Beitrag des im Geist von Stuck und Stahlbeton wiedererrichteten Hohenzollernschlosses zu dieser Art des Geschichtsrevisionismus – davon versucht dieser Artikel einen Begriff zu geben.
T
wie Tod. Nach (→ Celan, Paul, s.a. → Heine, Heinrich) Meister aus Deutschland; nur bedingt das Gegenteil von Untod, denn mit dem Hohenzollernhybrid steigt Preußen allein schon architektonisch wieder aus der Gruft-Kapelle von nebenan (s.o. „Berliner DOM“).

U
Walter-ULBRICHT-Stadion. Auf den Trümmern der im Volksmund Maikäferkaserne genannten Anlage wurde mit den Trümmern des Berliner Stadtschlosses 1950 das Walter-ULBRICHT-Stadion errichtet. Am 15. März 1973 wiederum wurde es in Stadion der Weltjugend umbenannt. Heute hat dort ein weltweit aktiver Auslandsgeheimdienst seinen Sitz. – Eine merkwürdig symbolische Wanderung (→ Migration).

V
Portal V. Die Sprengung des kriegszerstörten Stadtschlosses erfolgte in den Jahren 1950/51. Und sie erfolgte in Etappen. Am Ende standen noch die Portale IV und V. Vom Balkon des letzteren aus hatte der Kaiser (s. Hohenzollern) 1914 den Krieg und Karl Liebknecht 1919 die Sozialistische Deutsche Republik ausgerufen. Bei der Sprengung 1951 sollte nun das geschichtsträchtige Portal V erhalten bleiben – wurde aber buchstäblich in Trümmer gelegt. Alternativ wurde nun das historisch unbedeutende, aber baugleiche Portal IV in Handarbeit demontiert und für eine spätere Nutzung konserviert. Das handwerkliche Moment kehrte dann 1962, modern und im Zitat verfremdet, beim Gebäude des Staatsrats der DDR (s.o. Postmoderne) wieder. Das originale Architekturzitat ergänzt hier Einrichtungen und Accessoires, die ausnahmslos aus niemals in Serie gegangenen Prototypen volkseigener Betriebe bestehen. Die Geistlosigkeit des Neubau-Vorhabens erhellt allein schon daraus, dass hier nirgends auch nur versucht wird, das im Staatsratsgebäude einzig materiell erhaltene Bauteil des historischen Schlosses zu reflektieren. Das unentwirrbare Oszillieren von Fake und Simulation, von „Identität und Rekonstruktion“ (Eigenwerbung), wird das Kolonialkunstforum bis zu seinem Abriss begleiten.

W
WANNABE-HOFSCHRANZE. Die Farce begann, als der zwar titellose, aber ob seiner mutigen Tat hernach zum Bundesverdienstkreuzträger geschlagene Kleinadelsmann Wilhelm von Boddien Anfang der 90er-Jahre den Wiederaufbau des Stadtschlosses zu fordern unternahm. Inzwischen nennt die freie Presse – eine Veranstaltung, die hierzulande einvernehmlich von sechs Großfamilien veranstaltet wird – die WANNABE-HOFSCHRANZE auch schon mal liebevoll den „Schlossherrn“.

X
eX-propriation. Der Palast der Republik war, in einem Land der Sprache Büchners, ein Anfang. Die Expropriation der Expropriateure wäre ein weiterer. Alles Übrige ergäbe sich von selbst.

Y
YACHT, die; -, -en, (niederl.) → s. „X“)

Z
ZWEIFEL stand Mitte der Nullerjahre auf dem Dach des Palasts der Republik. Über ein Jahrzehnt hatte er leer gestanden, die bronzefarbenen Glasverblendungen waren entfernt. Eine Gruppe von Künstler/innen verschiedener Sparten begann, den „Volkspalast“ mit einem Konzept, das aus vielen Zwischennutzungen5 bekannt war, zu bespielen. Ende 2005 mussten sie das Gebäude verlassen, 2006 der Abriss. Heute soll der Schlosshybrid gerade auch ein Spielort der Freien Szene werden. Sinniger lässt sich die Verkehrung künstlerischer Autonomie kaum illustrieren.


1
Seit 2006 setzt sich übrigens eine rührige Initatitive um den Berliner René Moritz (Kunstverein Neukölln) für den sofortigen Abriss des Berliner Doms und einen Wiederaufbau der Schinkelkirche ein. Der Verfasser gehört zu den Unterstützer/innen des Initiativkreises.
2
„het niet gebeurde wordt de oorzak van het wel gebeurde.“ – Cees Nooteboom, Berlijnse Notities, Amsterdam 1990, p 14
3
immer noch: Georg Büchner, Leonce und Lena II, 1836
4
https://web.archive.org/web/20100508122931/http://www.kein-schloss-in-meinem-namen.de/index.php
5
Zwischennutzung – vor dem Hintergrund der „Berliner Linie“, die jede Hausbesetzung polizeilich unterbindet, sowie der nach der „Wende“ geltenden Kohlschen Doktrin der „Rückgabe vor Entschädigung“ praktizierter Versuch, vor allem künstlerisch betriebene Freiräume zu generieren. Inzwischen ist berlinweit volkseigener Besitz in Privateigentum verwandelt und ein ‚Zwischen‘ gibt es auch nicht mehr.  
Berliner Schloss, ca. 1690, gemalt von Abraham Begeyn, Märkisches Museum
Kuppel vom Berliner Dom
Kuppel vom Humboldtforum