Onkomoderne

Wie es jetzt für dich weitergeht

2021:Juni // Christina Zück

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06-2021

Während des ersten Lockdowns, etwa vor einem Jahr, rief mich eine Freundin an: Unser Finanzsystem wird bald ­crashen. Ok, sagte ich, ist das wirklich unausweichlich? Alles ist doch unklar, keine Ahnung, was jetzt kommen wird, die Geldblase hängt ja auch schon ewig kurz vor dem Platzen über uns. Corona wäre doch der passende Anlass. Ich muss zugeben, ich hatte zu viele Youtube-Videos zu den verschiedensten seriösen und unseriösen Erklärungmodellen angeschaut, es war angenehm wirr im Kopf umhergewuselt. Die Versuche, die inzwischen andauernde Krisensituation detailliert zu analysieren, waren alle auf den ersten Blick ein bisschen wahr und schlüssig, simulierten den Zuhörenden ein Ordnungsgefühl, vergaßen aus dem eigenen Geltungsbegehren heraus größere Zusammenhänge oder wichtige Details, fantasierten sich eine Struktur zurecht, wo die Entropie ganz offensichtlich überhandnahm. Es würde schlimm ausgehen. Vielleicht nicht jetzt gleich, aber in ein, zwei Jahren nach der Pandemie, sagte Lilly. Dann kommt die Mega-Inflation und alles was du auf der Bank hast, ist nichts mehr wert. Sie hatte sich tagelang mit Kryptowährungen und Blockchain-Verschlüsselungen beschäftigt, Videos von Crypto-Influencern angeschaut, und nach langer Abwägung eine große Summe in LPX – die Abkürzung der Währung Leponex – angelegt, auf verschiedenen Wallets. Ich hab eh nichts auf der Bank, da ist nichts zu verlieren, warf ich ein. Lad dir doch einfach die Librax-App runter, da kannst du über deine Kreditkarte Euros hochladen und dann umtauschen. Leponex ist ein Insidertipp, in den nächsten Monaten klettern die bis zum Mond. Warum eigentlich nicht, ich kann’s mal ausprobieren. Es ließe sich als artistic research verbuchen, irgendwas zum Thema Praktiken. Ich hatte gerade ein Vermögen von 150 € angespart, das ich zur Finanzspekulation einsetzen könnte.

Geld ist Energie, hatte mal eine Heilpraktikerin zu mir gesagt. Ich stellte es mir als die Energie eines Säbelzahntigers, der in der Steppe auf mich zugerannt kommt, vor. Und wie ich mich tot stellte, so dass das Monster über mich hinwegwalzen konnte. Schon beim Betreten eines Geldautomaten-Vorraums wurden bei mir alle Cortisol-Rezeptoren geflutet. Ich war froh, wenn die Karte wieder ausgespuckt wurde und ein Zwanzig-Euro-Schein mit rauskam. Obwohl mir Freunde immer sagten, ich sei selbst dran schuld und ich solle endlich meine Geldblockade lösen, war nichts zu machen. Eine Stimme in mir bestand darauf, dass Geld zwar objektiv betrachtet ein neutrales Tausch-Medium war, aber dessen dunkle Seite überhandgenommen hatte und nicht mehr zu tolerieren war. Geld war ein Medium der Gewalt. Die tiefsitzenden, sicherlich aus der Kindheit stammenden Glaubenssätze kamen jedoch in der Pandemie an ihre Grenze.

Die Firma Imfinzi, die mit einer Variation der Blockchain-Technologie den Leponex-Coin entwickelt hatte, verhandelte bereits über einen Deal mit der Bank of America, und Donald Trump plante, nach dem Crash den Dollar mit der LPX-Technologie als Digitalwährung umszustellen, berichtete ein maskierter Crypto-Nerd auf YouTube. Ich lud das Cyberwallet Librax auf mein Handy. Bei der mehrstufigen Authentifizierung sollte ich meinen Personalausweis abfilmen und hin und her schwenken, so dass die holografischen Aufdrucke aufleuchteten. Eine Librax-Mitarbeiterin schaltete sich per Video hinzu und überprüfte mein Gesicht. Nach mehreren Neustarts und einem Systemupdate, nachdem alle meine Telefonnummern, Adresse, Geburtsdatum bei der Firma gespeichert waren, lief die App auf dem Handy, und ich kaufte mit der Kreditkarte für 150 Euro plus Gebühren 56,32 LPX, während ich einen Sicherheitscode per SMS zugeschickt bekam, um die Transaktion freizuschalten. Danach rief ich Lilly an und wir schickten uns zum Testen ein paar LPX von Wallet zu Wallet, es ging supereinfach.

Diesen März erschien der Dokumentarfilm „Oeconomia“ von Carmen Losmann auf Amazon Prime, auf den ich sehr gespannt war, wegen geschlossener Kinos war er vorher nicht verfügbar. Darin untersucht Losmann die Wechselwirkungen zwischen Kreditvergabe, Geldschöpfung und der wachsenden Geldmenge. Geld wird von den privaten Geschäftsbanken als Kredit an Firmen vergeben, die es dann in Umlauf bringen und in Projekte investieren, aus denen sie einen Gewinn ziehen können, so dass nach der Rückzahlung jenen Firmen die zusätzlich erwirtschaftete Summe übrig bleibt. Durch die Kreditvergabe wird Geld geschöpft, durch die Tilgung wird es wieder vernichtet, in diesen Prozess wird die Wirtschaft immer wieder mit Geld versorgt. Firmen nehmen jedoch nur Kredite auf, wenn sie mit dem Geld Profite generieren können. Das Wirtschaftssystem muss daher so gestaltet werden, dass die Gewinne – und es bringt immer Verschuldung oder Enteignung von anderen Wirtschaftsteilnehmern mit sich – überhaupt realisierbar werden. So wird auch nur in Projekte investiert, die eine hohe Rendite versprechen, wie Immobilien, Technologie und nicht in Schulen, Krankenhäuser, Pflegeunternehmen – unrentable, aber gesellschaftsnotwendige Infrastrukturen. Mit den angehäuften Schulden und der unvermeidlichen Kreditaufnahme wächst die Geldmenge parallel mit der Ungleichheit und der Armut.

Wachstum, auch wenn es wie im Kapitalismus von Menschen industriell erzeugt wird, mit Maschinen und fossiler Energie, ist immer ein begrenzter Prozess, der langsam wieder ausläuft oder abrupt abbricht oder sich wandelt. Ein Wirtschaftssystem, das sich in spekulativen Wertschöpfungsprodukten verästelt, ein Planet, dessen Lebewesen und Bodenschätze ausgebeutet werden, ein alter weißer Investor, dessen Herzkranzgefäße verkalken, eine Zelle, die sich plötzlich teilt und die Organgrenzen durchbricht – wenn eine Entwicklung sich beschleunigt, rückt der bevorstehende Tod sehr viel näher heran. Die Ängste intensivieren sich. Panik kommt auf. Veränderungserschöpfte Menschen sehnen sich zuallererst nach Ordnung und Stabilität. Trotz der unermesslichen Vielfalt der Objekte, Phänomene und Bewegungen im Universum, wie es der Astrophysiker Aurélien Barrau in einem TED-Talk beschrieb, ist Ordnung "der Name selbst des Denkens" und "das Rückgrat unserer Wissenschafts- und Philosophiegeschichte".

Der Wert meiner Coins, deren Kurve ich gelegentlich auf CoinMarketCap beobachtet, veränderte sich kaum. Im Herbst textete Lilly, dass der LPX gerade ziemlich steige. Ich solle ihn jetzt schnell abstoßen und in Xeplion umtauschen. Ich hatte den Cryptokram völlig vergessen und auch, wo der Zettel mit dem Passwort für das Wallet war. Der LPX hatte sich verdreifacht, stieg immer mehr in Schritten, sank kurz wieder und stieg, sekündlich wurden die Zahlen in grün oder rot angezeigt. Ich warte noch, schrieb ich Lilly. Das Passwort hatte ich wiedergefunden. Ein paar Stunden lang starrte ich im Noradrenalinflow auf die Kurve, dann entschied ich, den vollen Betrag in die Exchange-Funktion der Librax-App einzugeben. „Librax temporarily doesn’t support LPX transactions“ erschien auf dem Display. Mein Geld war blockiert. Das kann schon vorkommen, meinte Lilly, das ist eine ganz neue, noch unregulierte Technologie, da musst du mit allem rechnen, kann passieren, dass das Geld dann einfach weg ist. Lilly hatte ihr Geld auf verschiedene Wallets verteilt. Der LPX war gestiegen, auch der Xeplion, dann hätte sie noch Tecentriq und Frisium gekauft, aber das Sicherste sei der Xeplion. Der sei gerade auf dem Höhenflug. Elon Musk hätte angekündigt, mit einer Riesensumme einzusteigen. Du kannst ja mal versuchen, ob du sie mir schicken kannst, dann tausch ich sie dir um. Ihre Wallet-Adresse kam per WhatsApp. Versuchsweise gab ich 30 LPX in die Send-Maske ein. „Send LPX: pending.“ Oh nein! Ich schickte eine Nachricht zum Customer support. Luna von Librax antwortete am nächsten Tag: „If you a­ttempt to send your LPX out, to a correct LPX address (with a destination tag) this will allow you to transfer your funds out of the system.“ Was war bloß ein destination tag?

Bräche das Wachstum ab, würden Firmen keine Kredite mehr aufnehmen und die Wirtschaft nicht mehr mit Geld versorgt werden. Sehr schnell käme eine Abwärtsspirale in Gang. Für die Finanzjournalistin Ulrike Herrmann, eine der Expert:innen, deren Bücher und Vorträge Carmen Losmann als Recherche-Referenzen auf ihrer Filmwebsite verlinkt hatte, ist die zentrale Frage am kapitalistischen System das Wachstum. Historisch entstand es durch die Nutzung von Maschinen, die die Warenproduktion günstiger machten als die Lohnkosten der Arbeiter:innen. Dafür wurde fossile Energie verbraucht. Aus der Kombination von Technik und dem Einsatz von Energie, die Reinvestition in immer effizientere Technik bei steigenden Löhnen entstand das Phänomen des beschleunigten Wirt­schaftswachstums, das gleichzeitig auch die Demokratie hervorbrachte. Sobald dieses System instabil wird, die Investitionsketten reißen, droht eine Krise, die zwangsläufig zu chaotischen Zuständen führt, im schlimmsten Fall die Abschaffung der Demokratie durch die demokratische Wahl eines rechtsradikalen Diktators. Dieses System ist nicht überlebensfähig, seine absolute Grenze ist mit der Erschöpfung der Rohstoffe und der Zerstörung der Umwelt erreicht. Wir sind gezwungen zu wachsen. Es gibt keinen Ausweg aus dem Hamsterrad. Auch Hartmut Rosa spricht in seinen soziologischen Forschungen zur gesellschaftlichen Beschleunigung über eine dynamische Stabilisierung, die zwingend notwendig ist, um dem Crash zu entkommen. Die Tragik des Kapitalismus besteht für Ulrike Herrmann darin, dass es so schwer werden wird, aus ihm auszusteigen. Viele Szenarien für eine Postwachstumsökonomie sind bereits entwickelt, doch was nicht bedacht wird, ist der Übergang in eine Phase des Schrumpfens, ohne gewaltsame Nebenfolgen zu produzieren. „Es ist so, als wüssten wir alle, dass man gegen die Wand fährt, und keiner erforscht den Bremsweg“, konstatiert Herrmann in einem Vortrag.

Meine Leponex waren nun in der Librax-App blockiert, ich konnte sie weder umwechseln noch woanders hin überweisen. Die Idee kam, ein neues Wallet von einer anderen Firma zu erstellen und die Coins dorthin zu schicken. Ich lud die Temesta-App herunter und durchlief das mehrstufige Authentifizierungsverfahren, erstellte ein Passwort mit 17 Zeichen und ließ eine Wallet-Adresse generieren. In meiner Librax-App gab ich die neue Temesta-Adresse ein, doch ich wagte es nicht, die volle Summe dorthin zu übertragen – wenn dann alles weg wäre? „Send LPX: pending“ wurde immer noch angezeigt. Über mehrere Tage schrieb ich Nachrichten an Luna vom customer service und beschwerte mich. Immer wieder: „Send LPX: declined.“ Dann ging die Transaktion durch. Für den restlichen Teil der Summe eröffnete ich ein weiteres Wallet, diesmal bei Anxon. Gegen Gebühr konnte ich dort die LPX in XPL umtauschen. Nun besaß ich Xeplion auf zwei Wallets. Sie stiegen nach und nach um das Dreifache.

Ein automatisches Subjekt, stand irgendwo bei Marx, war das Geld oder der Wert oder das Kapital, ich hatte vergessen, welche genau dieser Entitäten, die alle von einer Form in die andere übergingen, deren Zweck eine sich nie erschöpfende Bewegung war. Ein todestriebartiger Exzess hatte sich in den Geldkreislauf eingenistet, eine Energie, die maschinell und repetitiv war und gleichzeitig von menschlichen Affekten durchwirkt, Panik, Gier und Todesangst. Vielleicht war Geld auch keine Energie, sondern eine Information, kristallisierte Imagination aus stereotypen Bildern von Luxus und Besitz, aus dem Begehren, endlich sicher zu sein und frei, aus Spuren von Ausbeutung und Vernichtung. Es konnte nicht mehr einfach so entmachtet werden. Festgefroren und mit steigender Inkonsistenz und Obszönität weiter zirkulierend, war das kapitalistische System mit seinen Erzählungen in eine Zerfallsphase eingetreten. Die Realität, die den Menschen in dieser Krise wahrnehmen konnte, schien sich aufzulösen. Doch es waren nur die Fiktionen, die das Gerüst für das gesellschaftliche Denken gebildet hatten, die brüchig wurden. Mit dem Coronavirus waren besonders die Ängste vor der Krankheit, vor einem großen Wirtschaftscrash und vor einer Diktatur hervorgetreten und hatten zu konfusem Verhalten geführt. Die Angstfantasie, sich nach der Krise in einem digitalen Überwachungsstaat wiederzufinden, blendete aus, dass wir längst der unabschaltbaren Künstlichen Intelligenz Kapitalismus ausgeliefert waren. Die Steuerungsfunktionen über die Prozesse der Welt waren bereits so weit außer Kontrolle, dass man, wie beim Herunterregeln des eigenen autonomen Nervensystems, nur indirekt vorgehen konnte, durch Leitzinssenkungen und Kreditpakete, in der Hoffnung, die Wirtschaft liefe halbwegs stabil ohne größere Inflation weiter.

Letzte Woche hörte ich im Radio, dass die chinesische Regierung Transaktionen mit Xeplion verboten hat, obwohl der größte Teil der Coins von Usern aus China geschürft wird. Und dann twitterte Elon Musk, dass man bei Tesla doch nicht mit Xeplion bezahlen können werde. Die XPL fielen zurück auf den Ausgangswert, für den ich sie gekauft hatte. Ich wollte sie loswerden. Die Sache funktionierte für mich nicht: Die affektiven Zustände, die mein Körper durchlaufen musste, um das Geld gewinnbringend durch die Kurskurven zu steuen und zum Wachsen zu bringen, waren nicht angenehm genug, um es als Praktik zu etablieren.

Seit ein paar Wochen wartete ich schon auf die Fotos, die Poppy Maldonado von mir mit der gehackten Kamera meines Laptops gemacht hatte. Mit dem Material könnte ich eine interessante Fotoserie zusammenstellen.
„Grüß Gott! Ich habe beobachtet Ihr Gerät im Netz seit langer Zeit und habe es geknackt. Es war einfach für mich, weil ich mich damit schon lange beschäftige. Wann Sie besuchten die pornografische Webseite ich habe angesteckt Ihr Computer mit dem Virus, der sicherte mir vollständigen Zugang zu Ihr Gerät, inklusive die Kamera, das Mikrofon, die Anrufe, die Messenger, zu all dem was geschieht am Bildschirm, zum Telefonbuch, zu Passworten aller sozialer Netzwerken und weiteres. Um das Handeln meines Virus zu verstecken, ich habe gebastelt ein sonder-Driver, updated alle einige Stunden und daher vollständig unnachweisbar. Überweisen Sie auf meine Xeplion-Geldbörse 1200 amerikanische Dollars. Adresse meiner Xeplion-Geldbörse: bc1q6yjwlm7r98zdq87w8zave5n3n920a8uvctlg66. Sie haben 48 Stunden zur Überweisung. Andernfalls ich werde alles Obenstehende dürchfuhren. Der Zeitgeber hat gestartet automatisch sofort nachdem Sie den Brief eröffnet hatten. Die Meldung über Eröffnung dieses Briefs bekomme ich auch automatisch.“
Obwohl ich nicht gezahlt hatte, wurden keine Laptop-Fotos von mir an irgendwen geschickt. Ich war sehr gespannt gewesen. Hatte er etwas anderes als repetitive Augenbewegungen eines zusammengesackten Körpers mit Schulterimpingement aufgenommen? Ich löste mein Spekulationsprojekt auf und überwies die übriggebliebenen Coins an die angegebene Adresse, mit dem Hinweis, mir doch bitte unbedingt die Fotos zu schicken.


 
Alle Fotos: Christina Zück