Geld und (keine) Familie

oder: Über das Sterben und das Erben

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06-2021

Kunst strebt, so sagte man früher jedenfalls, nach Unsterblichkeit. Ein Künstler und eine Künstlerin galten als erfolgreich, wenn man in hundert Jahren noch von ihnen spricht. Nun, möchtet ihr, dass man in 200 Jahren noch von euch spricht? Oder, wie von Heraklit, in 2500 Jahren? Natürlich, ja, ach so, aber denkt ihr nicht auch, dass wir Heraklits weise Aphorismen verloren hätten, wenn sie auf einer Festplatte gespeichert worden wären.

Dass meine Familie auszusterben drohte, war ganz einfach der Tatsache geschuldet, dass meine Vorfahren wenige Kinder bekommen hatten und die relativ spät. Die Leben gingen auf natürliche Weise zu Ende, also war das ganz normal. Wenn auch mein Vater in dem Alter starb, in dem ich jetzt bin.
Ich hatte das abzuwickeln, was nach dem Tod eines Menschen in Deutschland getan werden muss. Das einzige Gespräch, in dem es noch wirklich um den Toten oder die Tote geht, ist das mit dem Pfarrer. Einige werden nun erlebt haben, wie unter den Bedingungen der Pandemie der Mangel an Trauerritualen und damit das Trostlose aus Gründen der Hygiene bis zur völligen Sterilität gesteigert wurden.

Vor Kurzem habe ich das Nutzungsrecht unserer Familiengrabstätte auf weitere 25 Jahre verlängert.
Wenn niemand mehr da ist, tut es gut, zu wissen, dass es einen Ort gibt, an den man pilgern kann. Man kommt ordentlich angezogen und bringt einen Blumenstrauß mit. Jemand, der die Toten kennt und der mich sieht, wie ich da stehe, allein, mit 25, 26, 27, mit 30, 40, 50, das ist Religion.

In Kansas City, im Staat Ohio, gibt es das riesige Bau-Unternehmen RAU Construction Company. Der Gründervater dieses Unternehmens schrieb seinem alten Freund Fritz in die Heimat, er solle doch auch kommen, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch der kleine Friedrich Müller war kein Gustav Rau. Der umtriebige Rau nutzte nun aber den Kontakt zu meinem Urgroßvater für Händel über den großen Teich. Alte Gemälde aus Europa sollten gefunden, entrahmt und eingeschifft werden. Er erfüllte ihm den Wunsch, doch von unserer Familie ist leider nie jemand nach Amerika gegangen. 1904 hatte mein Urgroßvater ein Gründerzeithaus mit drei Wohnungen auf dem Gelände an der Kaiserstraße errichtet, wo seine Eltern ein beliebtes Ausflugslokal betrieben. 110 Jahre später gab ich es, nachdem ich es 20 Jahre verwaltet und instand gehalten hatte, mangels Mietinteressenten in der mittlerweile zur Shrinking City verkommenen Stadt preis. Anderthalb Jahre lang war dieses schöne Haus über eine Maklerin angeboten worden, bis sich ein Teilzeitlehrer des Objektes erbarmte. Der Plan mit der landwirtschaftlichen Nutzung des Geländes klang vernünftig. Ich darf nicht dran denken, sonst wird mir schlecht: das Erste, was mein Nachfolger tat, er rodete den Fichtenhain. Eine Sünde!!! Das machte mir mehr aus, als die Tatsache, dass ich von dem Geld allenfalls eine kleine Ferienwohnung in Berlin hätte kaufen können.

Das Geld, das ich geerbt habe, war Wirtschaftswundergeld. Meine Vorfahren waren bescheidene und ordentliche Leute ohne große Ambitionen, und ihre Lebensart darf ruhig puritanisch genannt werden. Sicherheit war ihnen sehr wichtig. So haben sie sich wenig geleistet und kaum etwas gegönnt und ihr Geld auf der Sparkasse angelegt zu einer Zeit, da es sich lohnte und für den Fall, dass noch einmal schwierigere Zeiten kommen sollten.
Ich bin ohne Ranküne vor den Leben meiner Vorfahren, haben sie doch in ihrer kalkulierten Zurückhaltung ­immer eine angenehme Zufriedenheit ausgestrahlt, und ich meine, die muss man erst einmal erreichen. Besserwisserisch dachte ich, noch als sie lebten, ich würde bestimmt was Besseres mit dem Geld anstellen, als es auf der Bank liegen zu lassen. Heute kann man es nicht mal mehr auf der Bank liegen lassen. Das hat keinen Sinn, weil es keine Zinsen bringt.
Wenn man die Kunstproduktion als Unternehmen versteht, so kann ich immerhin behaupten, in die Kunst investiert zu haben. Ob und inwieweit die Erberei mir nicht nur die Realisierung von Konzepten ermöglicht, sondern auch negativ auf meine Karriere gewirkt haben könnte, ist eine vorsichtige Frage. Definitiv habe ich mich meinen Kommilitonen gegenüber immer bevorteilt gefühlt und hätte es geradezu unanständig gefunden, zusätzlich Stipendien zu beantragen. Was mir nicht klar war: dass es bei Stipendien lange nicht nur um die finanziellen Mittel geht, sondern auch darum, sich einen Platz auf dem Terrain zu sichern, sich bei mächtigen Persönlichkeiten mit seiner Arbeit vorzustellen, sich in einer Szene zu etablieren, die Anträge als Herausforderung zu begreifen, und wenn man ein Stipendium bekommt, wichtige Kontakte, Erfahrungen und Orte als Inspiration mitzunehmen usw. Aber nun …
Auch könnte man meinen, dass einen ein Erbe anspornt, etwas Vernünftiges aufzubauen. Glückwunsch denen, die das schaffen! Ich selbst bin jedenfalls unterdurchschnittlich ehrgeizig und, im Jargon eines Märchens gesprochen, faul. Schnell sagte ich mir, für Stipendien sei ich außerdem zu alt. Da kamen also mehrere Ausreden zusammen.
Stimmt, ich liebe das Geld nicht. Am Anfang habe ich es sogar gehasst. Sowohl aus politischen Gründen als auch rein persönlich. Ich hatte Boden unter den Füßen verloren und das Geld konnte mir nicht weiterhelfen. Es verleitete mich stattdessen zu sinnlosen Unternehmungen und brachte mich auf Irrwege, die ich wie eine Obdachlose beschritt. Trotzdem wagte ich in dieser Lage nicht einmal den Gedanken, dass es gut wäre, nun mit einer vertrauenswürdigen Person, jemand anderem vielleicht noch als dem Mann auf der Sparkasse, zu sprechen. Was sollte ich also mit dem Geld? Es war, als würde es mich auslachen. Gemein. Und mich isolieren.
Oooooch, denkt ihr jetzt zu Recht, denn dieses Selbstmitleid kann natürlich unmöglich jemand gut finden. Wenn sich mittlerweile in unserem Alter die Baugruppen bereits als realisierte Projekte präsentieren und die ein oder andere Immobilie schon wieder abgestoßen und in Pferde, Landsitze und Yachten investiert wird, nimmt sich mein Kleinsparervermögen recht schmal aus. Viel oder wenig zu haben, so banal das ist, es ist eben relativ.

Der große Nachkriegsmoralist Heinrich Böll beschreibt dieses Dreieck Kunst-Liebe-Geld – und dessen Verstrickungen mit der Macht der katholischen Kirche – in seinem Roman Ansichten eines Clowns. Der Clown, das sind wir, diejenigen, die geneigt sind, die Wichtigkeit des Materiellen zu leugnen und die bereit sind, für unsere ­Ideale Nachteile in Kauf zu nehmen und uns hinzugeben, wie es VertreterInnen anderer Berufsgruppen niemals in den Sinn käme. „Ich bin ein Clown“, sagt der Bonner Unternehmersohn Hans Schnier, „ich sammle Augenblicke. Tschüss.“ Der Kampf des bbk und von Initiativen wie haben und brauchen um bessere Arbeitsbedingungen soll damit nicht diskreditiert werden. Das ist natürlich total wichtig. Aber ohne diese Einstellung gäbe es auch die von hundert nicht. Am Ende ihres Lebens hatte mir meine Großmutter eindringlich geraten, niemals von dem Erbe zu sprechen und so ganz wohl ist mir beim Schreiben nicht. Wegen des Hauses, an dem immer mehr Reparaturen erforderlich waren, war ich eine Zeit lang hoch verschuldet gewesen. Kann jemand verstehen, dass ein Tabu ums Geld einen gewissen Sinn hat? Denn unpassend viel Geld zu haben ist ähnlich peinlich wie zu wenig zu haben. Beide Positionen müssen den moralischen Imperativ fürchten. Du solltest, du müsstest … – Ja. Stimmt.

Eine Neunzehnjährige in meinem Nebenjob (den ich zu Mindestlohn-Konditionen verrichte) meinte während einer Debatte über die Zukunft, der Vorteil von dem Handy, das unter deine Haut gepflanzt werden wird, sei: „Es ist viel hygienischer.“
Im unendlichen Raum des Internets winkt uns der Aufstieg in den Olymp, wo wir zu Unsterblichen werden. Als Reminiszenz an einen, der bisher noch keinen Menschen im Stich gelassen hat, habe ich einen tanzenden Tod auf ein Plakat gedruckt. Der Tod ist dein Freund.
„Lernen wir, dass es gleichgültig ist, wann man erleidet, was ohnehin einmal zu erleiden ist; dass es darauf ankommt, wie gut, nicht wie lange man lebt, und dass dies oft darin besteht, nicht lange zu leben.“ –
Was wie eine vornehme Variante von „live fast, die young“ klingt, ist von dem, der wie einer der Corona-Impfstoff-Hersteller dieser Tage heißt: Seneca.


 
Illustration: 1000-DM-Schein von 1992–2001, Detail