Herta Müller

N.B.K.

2021:Juni // Alina Rentsch und Luisa Kleemann

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06-2021

Über Herta Müllers Arbeit Die große Melancholie … an der Fassade des n.b.k.

Im Folgenden steht (A) für Alina Rentsch und (L) für Luisa Kleemann.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus sehen wir alle Wörter gleichzeitig, die uns von der Außenwand des n.b.k. anschauen. Sie ziehen uns über die Chausseestraße an die Fassade des Gebäudes und lassen uns innehalten, Wörter sehen, Bilder lesen. „Auch das Schreiben vollzieht sich in Bildern.“1 Von links nach rechts, vor und zurück, gehen wir an den sechs bodentiefen Fenstern entlang, über denen die Wortbilder Platz haben, während die Buchstaben versammelt neben uns mitlaufen und sich fragmentarisch auf dem Gebäude zu einem Satz zusammensetzen. Die große Melancholie … mit der Herta Müller2 die Fassade beschreibt, ist vom 10. September 2020 bis zum 31. August 2021 zu lesen.
„Das Poetische heißt Sammeln.“ Alexander Kluge beschreibt das Poetische als einen Einsammelvorgang, als Suchbewegung, wie die Beeren- und Kräutersuche, in der sich die Qualität des Poetischen in der Zähigkeit, Hartnäckigkeit und Vollständigkeit der Suche zeigt.4 Die öffentlichen Wörter liegen buchstäblich bereit und warten darauf, vorgefunden und aufgesammelt zu werden. „Manchmal glaube ich, dass auch [die Wörter] in ihren Schubladen warten, wie an den Bahnhöfen; dass sie endlich in einen Text einsteigen möchten. Andersmal glaube ich, dass sie froh sind, wieder einmal davongekommen zu sein und in der Schublade bei den anderen bleiben zu dürfen.“5 In ihren Sprachbildern und Wortcollagen schreibt Herta Müller mit be-stehenden Wörtern und Wendungen. Sie entnimmt Wort- und Bildelemente aus dem Kontext ihrer Veröffentlichung, schneidet sie aus Magazinen oder Zeitungen aus und zerlegt sie, arrangiert sie und sich mit ihnen und verschiebt sie in ihren Zusammenhängen zu unerwarteten Konstellationen. Was heißt arrangieren? Auch Schere und Klebstoff werden zu Schreibwerkzeugen, die neben den Wörtern stehen und die neuen Zusammenhangsbildungen feststellen und ihnen Halt geben. Was einmal festgeklebt ist, kann nicht mehr geändert werden, dennoch bleibt durch die Neuordnung des Sprach- und Bildmaterials das Prozesshafte und Fragmentarische erhalten, indem das ursprüngliche Text- und Sprachmaterial de- und rekomponiert und dadurch verbildlicht wird.6 Sie sucht in einem Wort nach den Dingen und Wörtern, die es enthält und legt seine eingeschriebenen Bedeutungen frei. Die ausgeschnittenen Wörter weisen über sich selbst hinaus und laufen in unterschiedlichen Richtungen weiter und in sich zurück – in ihnen steckt mehr als nur die Wörter selbst.7 „Ich muss suchen und suchen. Immer neue Worte und immer neue Reihenfolgen in den Worten suchen, um das zu treffen, woraus der Satz besteht. Um den Satz so zusammenzukriegen, wie er sich selber sieht.“8 Herta Müller baut zu den Dingen eine Beziehung auf und verhandelt ihre Verhältnisse, in denen sie sich selbst wiederfindet. Wie verhalten sie sich mir (A) gegenüber? Was macht mir (L) eine eigene Position möglich?

Die in Schubladen und auf Tischen wartenden ­Wörter, mit denen sie arbeitet, sind nicht ihre Wörter, sondern sie schneidet sie aus und zu, indem sie sich ihnen annimmt und sie nicht aufgibt. „Erst wenn eine Wahrnehmung die andere ausraubt, ein Gegenstand das Material des anderen an sich reißt und benutzt – erst wenn das, was sich im Wirklichen ausschließt, im Satz plausibel geworden ist, kann sich der Satz vor dem Wirklichen behaupten“9 und im Außen als Raum der Öffentlichkeit bestehen. „Die Wörter liegen ihr ‚von Außen‘ vor und mischen ‚sich dann anders ein [...], als wenn sie im Kopf sind, und wenn man sie im Kopf nicht sieht, bevor man sie nicht konkret auf dem Papier aufgeschrieben hat‘.“10 Die Wörter kommen von Außen und werden in einer zirkulierenden Bewegung von Äußerlichkeit und Innerlichkeit durch ihre doppelte Veröffentlichung wieder nach Außen gestellt. Ihre Wortcollagen passen auf die Größe einer Postkarte – offen lesbare Mit-Teilungen. Wörter, die an eine Öffentlichkeit adressiert sind, ausgelegt und sichtbar gemacht.

„Man muß den Ton des Originals, ähnlich wie bei Übersetzungen, wieder zum Klingen bringen, den ursprünglichen Kontext sichtbar machen. […] Die Kunst des Übersetzens ist es, die Wörter anzuschauen, um zu sehen, wie diese die Welt sehen. Wort für Wort, in größter Nähe zum Original, zur Augennähe. In diese Augennähe zu kommen, ist sehr schwer.“11 In den Wörtern, die ich (L) anschaue, sitzen Augen, die die Dinge sehen, die in ihnen enthalten sind, die selbst sehen und mich sehen. Wenn ich mir die Wörter anschaue, setzt im Bilderlesen ein Prozess des Übersetzens ein, der sie weiterschreibt, sie assoziiert oder löst, sie zuschneidet, von mir ausgehend auf ihre Umgebung einwirkend. Die Wörter ausschneiden und an mich halten, wie es passt, anders dazugekommen. „Insofern gehört der Text jedem, der ihn liest, und jeder kann damit in seinem Kopf, mit seinen Erfahrungen oder mit dem, was er dabei empfindet, das machen, was er auf sich selbst zuschneidet. Jeder, der einen Text liest, schreibt auch an dem Text mit durch seine innere Struktur.“12 Wie stimmen sich die Wörter? Jedes Wort, das hinzukommt, führt den Satz woanders hin, bestimmt seine Richtung im Raum und den Platz, den er einnimmt, seine Maße: Breite, Höhe, Tiefe. Dazwischen Bilder. Was stimmen sie an in uns? In Herta Müllers Sprachbildern arbeitet der Reim als Motor des Satzes, aber er bleibt unerhört im Hintergrund. „Aber man darf ihn der Collage nicht ansehen, er darf sich nicht vordrängen. Obwohl er der Motor im Satz ist, müssen die Sätze so klingen, als ob sich der Reim von selbst ergeben hätte. Er hat für mich eine große Intimität und er hat ein Mitspracherecht.“13 Der Reim entscheidet mit, wie die Wörter an welcher Stelle klingen und nimmt Bezug auf ihren O-Ton. Sie werden als Originale abgedruckt, sodass die Materialität der Schrift weitergetragen wird. Was lassen die Wörter zu? Das Optische bleibt, als Verhältnis und Orientierung der Setzung. Die Strukturierung und Sinngebung durch Zeichensetzung sortiert Herta Müller aus, denn „sind die Sätze gefunden, wie sie sich selber sehn, kommen diese Zeichen nicht vor.“14

Das Wort „Gebäude“ steht leicht schief auf einem dunkelgrünen Untergrund, in heller, weiß-gelblicher Farbe. Es richtet sich rechts leicht auf und sitzt höher auf der Fassade. Es hat sich dort ohne Umschweife und Verzierungen aufgebaut. Oben und unten an den Rändern weicht die Farbe aus dem Fundament und gleicht sich der Umgebung an. Es färbt ab auf das Gebäude, auf das es temporär geklebt ist. Die Eigenschaften der Schrift kommentieren die Wörter oder geben ihnen eine bestimmte Färbung, eine Konsistenz, die wir nachfühlen können.15 Welches Gefühl begegnet mir (A)? Rechts das Bild eines nächsten Gebäudes. Das Haus und der Mond oder die Sonne, mit Vorhängen, die wir auf- und zuziehen, Fenster, die wir öffnen und schließen können. Wenn der n.b.k. geöffnet wäre, würden wir unter den Wörtern hindurchgehen, die Inschrift über uns lassen. Über dem Eingang, den Fenstern und den Türen, hält sie für ungefähr ein Jahr. Die öffentliche Schrift, die veröffentlichten Wörter werden so zu einem Zeichen, dem Dauer zugesprochen wird.

„Ich bewohne mein Blatt Papier, ich statte es aus, ich durchlaufe es. Ich lasse weiße S t e l l e n, Zwischenräume (Sprünge im Sinne von Unterbrechungen, Durchgängen, Übergängen).“16 Die Wörter sitzen auf der Fassade. Auf ein Wort folgt das nächste, Bilder, wir folgen ihnen mit jedem Schritt. Dazwischen Schritte ohne Worte, Lücken, in denen wir uns selber sehen. Ich (A) spiegle mich in der gläsernen, abgedunkelten Fenster-Fassade. In der Spiegelung sehe ich auch die Gebäude auf der anderen Straßenseite, den Bürgersteig, vorbeifahrende Autos, Fahrräder, Fußgänger*innen. Wir versammeln uns in diesem Display. Der Raum zwischen den Sprachfragmenten verweist auf das Gebäude, seine Struktur und seine Materialität. Wie stehen die Wörter im Verhältnis zum Gebäude? Ich müsste von einem Wort zum nächsten Wort springen, die Zwischenräume zwischen den Wörtern durchlaufen, um sie zu überbrücken. Ich denke über das Verhältnis der Körper zu Gebäuden nach, meinen Körper zu diesem Gebäude, das vor mir liegt, hinter mir, neben mir, auf jeder Seite.


„Ich habe das optisch betrachtet: Wie würden die Wörter aussehen, wenn sie in einer Zeile stehen, und wie würde es öffentlich wirken auf Menschen, die daran vorbeigehen.“17 Wir bewegen uns an den Wörtern entlang, aber wir müssen Abstand halten, um sie lesen zu können. Wir schauen zu ihnen auf, das Gebäude hoch, wenn wir den Satz ablaufen. Herta Müller unterscheidet in der Bewegung ihres Schreibens zwischen Kopf- und Herzwörtern. Wörter, die wir begreifen, die uns Begriff sind, oder warmer Hauch und Halt – die nur mit sich allein oder die mit einem Gefühl sind.18 Sich als Haltungen, aus denen heraus diese Begriffe gebildet werden, in einem meiner Körperteile (A, L) einrichten und von dort aus stattfinden. Der Satz, den wir lesen, vergleicht drei Formen von Melancholie: die große, die mittlere und die kleine – ihr Ausmaß nimmt ab, aber gleichzeitig wächst sie als Gebäude. Was ist das für ein Zustand? Wenn ein Gebäude wächst, schichten sich seine Materialien auf, sie bauen aufeinander und sich miteinander aus, zu Strukturen, Wänden, Räumen. Die sich dadurch bildenden Muster liegen nicht nur nebeneinander, sondern verschränken sich, verdichten sich zu Eine[r] Muster-Sprache: Städte, Gebäude, Konstruktion. „Das Gebäude ist sehr dicht, es enthält viele Bedeutungen auf kleinem Raum; und durch diese Dichte wird es tief. [...] Die Verdichtung erhellt das Gebäude, wirft ein neues Licht auf seine Bedeutung.“19 Sie trägt die Untertöne mit, die Untergründe der Worte, die von der Verbindung mit anderen Worten sprechen. „Bis zu einem gewissen Grad ist Verdichtung in jedem einzelnen Wort, das wir aussprechen, weil jedes Wort das Geflüster der Bedeutungen der anderen Worte in sich trägt, mit denen es verbunden ist.“20 Um dieses Geflüster, das im Inneren der Sprache liegt, im Außen stehend zu bemerken, muss ich (L) vom Display aufschauen. Denn „ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst.“21 Wenn Georges Perec in Träume von Räumen vorschlägt, „von Zeit zu Zeit eine Straße [zu] beobachten, vielleicht mit etwas systematischer Aufmerksamkeit“, suche ich mit meinem Blick nach Augennähe. „Sich dieser Beschäftigung hingeben. Sich Zeit lassen.“22 Im Vorgang der Verdichtung finden wir Gebäude, die Gedichte sind.23

Herta Müller, „Die große Melancholie ...“, n.b.k., Fassade, Chausseestraße 128/129, 10115 Berlin, 10.9.2020–31. August 2021

1
Herta Müller: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet, Rotbuch Verlag, Berlin 1991, S. 83.
2
Herta Müller ist eine deutsch-rumänische Autorin, die 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf in Rumänien geboren wurde und 1987 aufgrund politischer Verfolgung nach Deutschland emigrierte. Im August 2009 erschien ihr bisher erfolgreichster Roman Atemschaukel, für den ihr im selben Jahr der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Die hier besprochene Collage an der Fassade des n.b.k. wurde erstmals in einem ihrer Collagenbände (Im Heimweh ist ein blauer Saal, München 2019) veröffentlicht.
3
Alexander Kluge: „Heiner Müller und das Projekt Quellwasser. Das Poetische heißt sammeln“, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Göttingen 04/2017, S. 127.
4
Vgl. ebd., S. 129.
5
Herta Müller: Im Heimweh ist ein blauer Saal, Carl Hanser Verlag, München 2019, Klappentext.

6
Vgl. Minu Hedayati-Aliabadi: „‚Der Fremde Blick‘ – ‚ein fremdes Auge‘. Transmediale Inszenierung von Schrift und Bild in Herta Müllers Collagen“, in: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie, Nr. 5, 02.2012, https://www.textpraxis.net/sites/default/files/beitraege/minu-hedayati-aliabadi-transmediale-inszenierung-von-schrift-und-bild-in-herta-muellers-collagen.pdf.
7
Vgl. Herta Müller, in: „Ein Portrait“, 2013, Youtube.com, https://www.youtube.com/watch?v=HhohIgOuhJg.
8
Herta Müller: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet, Rotbuch Verlag, Berlin 1991, S. 35.
9
Herta Müller: „Zwischen den Sprachen“, in: Asymptote, 04.2014, https://www.asymptotejournal.com/nonfiction/herta-muller-the-space-between-languages/german/.
10
Tina Mendelsohn: Gespräch mit Herta Müller: „Die poetische Leichtigkeit der Herta Müller“, in: 3Sat Kulturzeit<, 31.08.2012,,http://www.3sat.de/mediathek/?display=1&mode=play&obj=32281.
11
Herta Müller: „Zwischen den Sprachen“, in: Asymptote, 04.2014, https://www.asymptotejournal.com/nonfiction/herta-muller-the-space-between-languages/german/.
12
Herta Müller im Gespräch mit Bahareh Ebrahimi: „Diktaturen sind nicht lustig“, in: Neues Deutschland, 11.09.2020, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141663.herta-mueller-diktaturen-sind-nicht-lustig.html.
13
Herta Müller zitiert nach Ernest Wichner, Ausstellungstext des n.b.k. zu Herta Müllers Die große Melancholie …, ,https://www.nbk.org/ausstellungen/weitere_projekte.html.
14
Herta Müller: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet, Rotbuch Verlag, Berlin 1991, S. 71.
15
Vgl. Rüdiger Zymner: „Lyrik und Erkenntnis“, in: Internationale Zeitschrift für Kulturkomparatistik, Band 1, 2019, S. 72 (DOI: 10.25353/ubtr-izfk-de1a-73ce).
16
Georges Perec: Träume von Räumen, Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2013, S. 22.
17
Herta Müller im Gespräch mit Bahareh Ebrahimi: „Diktaturen sind nicht lustig“, in: Neues Deutschland, 11.09.2020, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141663.herta-mueller-diktaturen-sind-nicht-lustig.html.

18
Vgl. Herta Müller im Gespräch mit Peter Voss, 01.09.2013. https://www.youtube.com/watch?v=0SQwEyszLMY.
19
Christopher Alexander, Sara Ishikawa, Murray Silverstein u.a.: Eine Muster-Sprache: Städte, Gebäude, Konstruktion, Löcker Verlag, Wien 1995, S. XLIII.
20
Ebd., S. XLIV.
21
Herta Müller, Auszug aus der Tischrede nach der Verleihung des Nobelpreises, 2009.
22
Georges Perec: Träume von Räumen, Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2013, S. 84.
23
Vgl. Christopher Alexander, Sara Ishikawa, Murray Silverstein u.a.: Eine Muster-Sprache: Städte, Gebäude, Konstruktion, Löcker Verlag, Wien 1995, S. XLV.
 
Ausschnitte aus der Fassadenarbeit von Herta Müller, n.b.k., 2020/21
Fassadenansicht der Installation von Herta Müller, n.b.k., Foto: Jens Ziehe