KÜNSTLER/IN, LEBENSLANG

Ulrike Bock

2021:Juni // Sonya Schönberger

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06-2021

Ulrike Bock
Jahrgang 1941, interviewt im Januar 2020 in ihrer
Atelierwohnung im Wedding

Geboren bin ich in Breslau, also in Schlesien, 1941. Aber ich weiß nix mehr davon.
Und dann sind wir geflüchtet, große Flucht. Davon weiß ich noch einiges. Das war ganz schön heftig – also für meine Mutter natürlich, mit der ich geflohen bin. Ich hab das gar nicht als so schlimm empfunden. Wir sind nach Worpswede, wo ich groß geworden bin. Mein Vater war im Krieg, aber er kam wieder. Er war Arzt und meine Mutter eigentlich Hausfrau. Mein Vater war sehr, sehr verführerisch. Vor dem Krieg hatte er eine Großfamilie gegründet, mit mehreren Frauen zusammengelebt, und ich habe ganz viele Halbgeschwister. Die Frauen haben zusammengelebt und haben zusammen Kinder auf die Welt gebracht. Insofern war das natürlich eine ganz interessante Familie. Von den Kindern ist das eine ins Kloster gegangen, das andere wurde Tiefenpsychologe und Philosoph, und ich bin Künstlerin geworden. Es war aber nicht Patchwork. Mit einer der Frauen war er verheiratet, das war die Tochter von Rudolf Pannwitz, also diesem Philosoph. Und mit zwei anderen Frauen war er noch zusammen. Meine Mutter hat er erst später kennengelernt. Sie ist dort Kindermädchen geworden und dann gab es die große Liebe und die sind zusammengezogen. Die anderen sind nach Berlin gegangen und haben ihre Kinder mitgenommen.

Mein Vater war ein richtiger Nazi, aber darüber hat nie jemand gesprochen. Das war ja ein absolutes Tabuthema. Ich hab dann geforscht und war natürlich unglaublich entsetzt. Ich habe ihn sehr geliebt und sehr bewundert, weil er halt so verführerisch war. Er hat mir auch sehr viel beigebracht, hat mich mit Nietzsche und Schopenhauer traktiert schon als Kind. Und als ich das dann erfuhr, war ich ziemlich schockiert. Der muss ja heftig dabei gewesen sein. Er war auch Ortsgruppenführer und die sind dann nach Schlesien – ­darum Breslau – und haben das Haus einer jüdischen Familie übernommen. Also richtig heftig eigentlich. Ich hab das dann versucht, im Schreiben und in Bildern zu verarbeiten. Er war auch schon verstorben als ich dahinter kam. Und die anderen Kinder wussten das. Die waren ja viel älter als ich. Mit meiner Mutter hab ich das nicht besprochen. Das ist ja das Dramatische, dass man das immer weiterträgt. Insofern versuche ich das öffentlich zu machen.

Ich bin künstlerische Autodidaktin. Meine Eltern haben das sehr unterstützt, auch finanziell, als ich dann 1968 nach Berlin ging. Das war toll: Aus dem kleinen Dorf hierher in die Stadt. Eine Wahnsinnszeit. Es ist natürlich auch alles über mir zusammengerollt, die ganzen Demonstrationen und in den Achtzigern die Hausbesetzungen. Ein unglaubliches Freiheitsgefühl.

Ich hab immer gemalt und geschrieben, schon ganz früh. In Worpswede hatte ich eine Fotografenlehre gemacht, aber nur knapp bestanden. Ich hatte dann in Berlin einen Freund, mit dem ich zusammenlebte. Der war schon in dieser Künstlerclique, die Rixdorfer, und ich hab dann immer weitergemalt, und insofern ist das einfach weitergegangen. Ich hab in der Waldemarstraße gewohnt. Das war die erste Wohnung. Das eine Zimmer hatte keinen Fußboden. Da waren Balken und darunter war schon Erde. Das das überhaupt vermietet werden durfte. Aber ich hab das sehr gemocht da. Ich hab mit zwei Männern da gewohnt, einer war mein Liebhaber und der andere ein Freund. Der hat das gemietet, weil er Arzt war und das mieten konnte. Die Clique hat mich auch sehr unterstützt. Ich hab immer vor mich hingemalt und sie haben mich gelassen. Sie haben nicht gesagt, mach doch jetzt mal was Richtiges. Ich war immer die, die nicht viel sprach, die rumsaß und malte oder schrieb. Es war sehr sorgenfrei. Mein Vater hat mich unterstützt, zwar knapp, aber immerhin, ich konnte davon existieren. Als das dann aufhörte, habe ich das ein oder andere Bild verkauft. Vorher hatte ich mich gar nicht darum bemüht. Ich hatte gar nicht im Kopf, in eine Galerie zu wollen. Ich habe immer Kunst gemacht und hatte nie einen anderen Job. In der Zeit brauchte man im Grunde fast kein Geld. Klar, Kneipengänge, das hat gekostet, aber das war auch billig. Ein Bier kostete ja dreißig Pfennig oder sowas. Die anderen haben natürlich fleißig ausgestellt, aber ich hatte das irgendwie nicht. Da hat sich kein Mensch drum gekümmert. Ich hab immer alles so für mich gemacht.

Ich habe menschengroße Skulpturen gemacht. Die wurden dann einmal in Stuttgart ausgestellt beim Buchhändler Niedlich in den Siebzigern. Dann hat es einen riesigen Skandal gegeben wegen der Figuren. Die hab ich jetzt unten im Keller. Heute würde das niemand mehr schockieren, aber damals ist die Polizei gekommen und es gab eine Bombendrohung. Die standen im Schaufenster und wegen der Kinder hat er mit einem schwarzen Vorhang das Fenster verhangen, sodass nur noch die Köpfe zu sehen waren. Das war Wahnsinn. In der Ladengalerie Kurfürstendamm hab ich die dann auch mal ausgestellt, da war es dasselbe. Auch Bombendrohung. Und das war ja schon in den achtziger Jahren.

Dann hatte ich eine Lesung, zu der Brigitta (Sgier) kam, und da haben wir uns kennengelernt. Und wir waren direkt wahnsinnig ineinander verknallt. Da hab ich alles stehen und liegen gelassen und dann sind wir ziemlich schnell zusammengezogen. Wir haben dreißig Jahre zusammengelebt. Sie kam aus der rätoromanischen Schweiz. Ich glaube, ich habe mich deshalb so in sie verknallt, weil sie fünf Jahre nur herumgezogen war. Sie ist durch die Gegend gereist, durch ganz Europa, hat unter Brücken geschlafen und sich mit Klauen über Wasser gehalten. Sie hat unterwegs gearbeitet, also geschrieben und komponiert. Und dann ist sie in Berlin gelandet, hatte hier wieder den ersten festen Wohnsitz. Sie fand die Schweiz schrecklich, diese Enge. Sie kam ganz oben aus den Bergen, wo keine Bäume mehr wachsen und nur noch Felsen sind. Sie hatte studiert und dann ihren Abschlussdings, Patent, im Fluss versenkt und ist dann losgezogen. Sie war 15 Jahre jünger als ich.

Wir sind nach der Wende in die ehemalige DDR und haben da in einer Ruine gelebt, was wahnsinnig schön war, aber es war eine richtige Ruine. Da hatten wir einen riesigen Raum, den haben wir unten mit Lehm und Sand aufgeschüttet. Brigitta hatte ihr Atelier und ich meins, und da lebten wir ganz alleine. Wir hatten einen Vertrag für ein halbes Jahr und konnten das dann in die Länge ziehen auf zwei Jahre. Im Winter war es so kalt, da war alles zugefroren. Bei der Ruine war direkt ein See, man musste durch einen kleinen Wald und ich hatte ja den Hund. Da sind wir im Sommer jeden Tag mit dem Hund schwimmen gegangen. Und immer dieses Freiheitsgefühl und von nichts abhängig zu sein. Nicht drauf zu achten, dass die Wände schön weiß sind oder irgendwas. Ich habe immer das gemacht, was ich wollte. Meine Eltern haben mich sehr frei erzogen. In Worpswede hatten wir ein Haus auf einem sehr großen Grundstück. Da bin ich nach Hause gekommen und hab die Schultasche in die Ecke geschmissen und dann war ich weg. Immer durch die Gegend gezogen. Unglaublich oft die Schule geschwänzt. Da haben die sich nie drum gekümmert.

Dann hatten wir beide ein Atelierstipendium bei der Stiftung Staake im Grunewald. Und da wohnen ja die reichsten Leute. Wir haben in einer Luxuswohnung gelebt, wo wir geheizt haben bis zum Gehtnichtmehr, denn die Heizungen konnte man nicht abstellen. Mitten im Grunewald – die Frauen in Pelzmänteln und wir mit unseren zerrissenen Mänteln. Danach sind wir zurück in die Ruine, wo wir aber rausmussten. Dann sind wir nach Ziegenhals auf ein NVA-Gelände gezogen. Ein wunderbares Gelände, ein alter Nazi-Bau, drei Stockwerke hoch, da war alles leer. Wir waren wieder ganz alleine. Das Gelände war voller Panzer und ich bin immer in die Hallen rein und alles war voll Klamotten und Papier und Stickgarn. Wahnsinn. Da sind wir unglaublich rumgestromert. Es war ein Rückzug und wir haben sehr, sehr viel gearbeitet. Wir haben uns mal ein ganzes Haus geholt, das war ein flacher Bau, so rot angestrichen, ein Nazibau kann ja schön sein. Dann haben wir das ganze Haus bespielt und Leute eingeladen. Zum Beispiel den damaligen Direktor der Berlinischen Galerie, Jörn Merkert, der ist auch wirklich gekommen. Auch die Leiterin der Ladengalerie und so Leute, die sich das dann angeschaut haben. Wir mussten da wieder raus und sind in die Uckermark, nach Pinnow, wo wir länger waren. Wir haben uns dann hier beworben auf das Atelier, und es bekommen, waren überglücklich und sind wieder zurück nach Berlin. Wir haben immer sehr bescheiden gelebt, aber schon unseren Wein getrunken, so war es auch nicht. Wir haben aber keine Luxusgüter gehabt und nix gekauft, wir haben das alles gefunden in den Häusern, in denen unsere Ateliers waren.

Brigitta hat komponiert und ich geschrieben, das war ein gutes Zusammenspiel. Sie hat Installationen gemacht und ich gemalt, insofern hat sich das gut überschnitten. Wir haben damals einfach gesagt, das ist spannend und so machen wir das. Sich jetzt da zu überlegen, wie mach ich das mit Geld oder im Alter oder so, gab es nicht.

Wir waren im Verein der Berliner Künstler. Das war insofern gut, weil dann die Akademie der Künste dreißig große Bilder übernommen hat und in der Berlinischen Galerie sind zwanzig. Ich hoffe immer, dass sie das nicht verkommen lassen oder wegschmeißen. Wie gesagt, vieles ist geschützt, auch die ganzen Schriften, Briefe, Texte, Fotos und was da alles so ist. Es war eine Riesenarbeit, das alles zusammenzustellen, weil es eben so vielschichtig ist. Das ist unser gemeinsames Archiv. Es gibt viele Arbeiten, die gar nicht auseinander zu denken sind. Denn wir haben gemeinsam ausgestellt. Das hat sich so entwickelt, durch die Laden­galerie, die Karoline Müller betrieben hat, damals am ­Kurfürstendamm. Die hat uns begleitet. Irgendwann wird das archiviert, irgendwann, vielleicht auch nie. Aber immerhin ist es aufgehoben. Das ist alles vertraglich geregelt. Die waren x-mal hier, bevor das alles über die Bühne ging. Darüber bin ich auch überglücklich. Insofern ist das alles nicht so wahnsinnig schlimm. Aber was noch hier in der Wohnung ist, das weiß ich nicht. Dann müssen sie das alles, ich weiß nicht, verbrennen oder so. Ich stehe nach wie vor in sehr engem Kontakt mit Jörn Merkert, der unterstützt mich auch finanziell und kriegt ab und zu ein Bild dafür.

Meine Partnerin ist vor drei Jahren gestorben. Und bis dann waren wir zusammen sorgenfrei. Ich glaube nicht, dass wir uns je darüber unterhalten haben, wie es dann mal werden soll.

Jetzt ist die Situation sehr schwierig. Man wird ja plötzlich völlig abgespalten. Es ist wie so ein Schnitt, wie eine neue Zeit, in der man nicht mehr vorhanden ist. Ich finde das nicht wirklich problematisch, aber zu überleben, das ist das große Problem.
Erst merkt man das gar nicht. Man arbeitet so vor sich hin und plötzlich denkt man, komisch, es geschieht irgendwie nix mehr. Es ist eben eine neue Zeit. Es sind auch ganz andere Bilder. Es bleibt natürlich in sich immer derselbe Inhalt, weil es kommt ja aus einem selber raus, also aus der Biografie. Wie gesagt, ich empfinde das auch nicht als dramatisch oder ungerecht. Ich bin nicht darüber wütend. Aber es bricht dann auch irgendwann ein im Alter, dass du nicht mehr dieses Leichte hast und sagst: „Komm, lass uns doch zusammensitzen.“ Das hört irgendwie auf. Außerdem wird alles anstrengender. Aber man kann sich nicht darauf vorbereiten, weil man es sich nicht vorstellen kann, wenn man so mittendrin ist und alles ist spannend. Ich glaube wirklich nicht, dass man das ändern kann.

Ich habe nie über Altersvorsorge nachgedacht, um ­Gottes Willen. Das wäre ja eine Beleidigung für mich gewesen. Meine Mutter sagte, „Was willst du denn machen später, Ulrike? Du kriegst doch keine Rente.“ Ich fand das eine Unverschämtheit, dass sie es überhaupt wagt, sowas anzusprechen. Nein. Weißt du, wieviel Rente ich heute kriege? 135 Euro.
Wenn ich die Miete nicht mehr zahlen kann, muss ich raus. Ich kann mich nicht schützen. Wenn ich eine Wohnung suche, eine billige, die gibt es nicht. Wenn der Raum verloren geht, kannst du nicht mehr existieren. Vielleicht kannst du dann ins Gefängnis gehen, weil du da dein Essen kriegst. Aber ich muss das wirklich auf mich zukommen lassen. Ich kann mich nicht hinlegen und sagen, ich hab Angst oder so.