Ein Hund, den sie Schaf nannten

Oder: Die Summe eines Lebens

2021:Juni // Holger Heiland

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06-2021

Henner schob den Regler mit der Maus nach rechts, und aus virtuellem wurde realisiertes Geld. Fühlte sich richtig an. Oder? Besser nicht mehr darüber nachdenken! Er hatte verkauft und Gewinn mitgenommen; hatte auf den Erfolg eines Unternehmens gesetzt, ihn richtig eingeschätzt und sich jetzt dafür belohnt. Ob der Kurs noch weiter stieg, musste ihn nicht mehr interessieren. Dennoch hoffte er, dass er es nicht tat. Er sagte sich, dass er einen guten Zeitpunkt für den Absprung gewählt hatte. Beinahe fünfzig Prozent Gewinn klangen nach Erfolgsgeschichte; auch wenn die Hälfte von nicht eben viel weiterhin zu wenig blieb; auch wenn es schmerzte, dass er ein halbes Jahr zuvor knapp einhundert Prozent hätte realisieren können. Aber damals hatte er darauf gesetzt, dass der Höhenflug des exponentiellen Wachstums immer noch etwas weiter anhalten würde, was sich naturgemäß als Irrtum erwies. Als er einmal einen Moment in seiner Aufmerksamkeit nachließ, kam es zum Absturz, den er anschließend über Tage in Form einer steil abfallenden roten Kurve auf seinem Smartphone verfolgen musste. Stiche im Brustkorb und schlaflose Nächte waren die Folge. Erst mit der allmählichen Kurserholung ließen sie nach. Nun war er diese Sorge los und hatte mittlerweile sein gesamtes Portfolio aufgelöst. Schritt eins des Drei-Stufen-Plans für mehr Sicherheit war damit getan. Henner bemühte sich, ein Vorgefühl kommenden Wohlergehens zu erspüren; ein erstes Anzeichen dafür, dass sich sein Verhältnis zur Welt noch einmal zu verändern begann.

Draußen war mit strahlendem Sonnenschein der Frühling ausgebrochen. Sommerlich gekleidete Menschen bevölkerten die Straßen. Ausgerechnet hier erhielt Henners anschwellende Freude jedoch einen Dämpfer, als ihn ein Jugendlicher anrempelte. Henner hatte ihn kommen sehen, Teil einer Gruppe uniform in Jeans, Hoodies und Windbreakern gekleideter Jungmänner mit Basecaps und stolzen Zügen. Trotzdem war er an der Baustelle, wo sich der Gehweg verengte, bewusst nicht zur Seite getreten. In seinem diffusen Hochgefühl hatte er seinen Platz im öffentlichen Raum beanspruchen und den Jungen zwingen wollen, näher an seine Freunde heranzurücken, um einem Zusammenstoß aus dem Weg zu gehen. Scheinbar ohne ihn überhaupt wahrzunehmen, war der jedoch einfach weitergelaufen. Die Wucht des Zusammenpralls ließ Henner eine Vierteldrehung vollführen, während der andere ihn nicht einmal eines Blickes würdigte. Mit pochender Schulter sah Henner der Gruppe nach. „Auch ihr werdet eines Tages Demut lernen!“, wollte er seinen Unmut herausbrüllen, besann sich jedoch gerade noch rechtzeitig eines Besseren und setzte seinen Weg fort.

„Na, Heinrich!“, begrüßte ihn Silke, als er mit der vorgeschriebenen FFP2-Maske den Wirtsraum betrat. „Einmal Mittag?“
„Einmal Mittag“, bestätigte er. „Und ein Glas Riesling.“
„Gibt’s was zu feiern?“, fragte Silke und legte den Kopf schief, um ihn aus ihren blauen Augen anzustrahlen.
„Vielleicht“, entgegnete Henner, wobei das zur Antwort unbedingt mit dazu gehörende Lächeln bedauerlicherweise von der Maske geschluckt wurde.

Wie meist setzte er sich mit seiner Lasagne an den Tisch zu den Journalisten. Wie fast immer drehte sich deren Gespräch um ihre neuesten Geldanlagestrategien. Henner winkte ab. Seinen Plan beschloss er, für sich zu behalten, bis er sich als erfolgreich erwiesen hatte. Und ob er dann noch mit Journalisten sprechen wollte, die schon seit Langem kaum mehr schrieben und nur für ihre eigenen Investments recherchierten, würde er dann sehen.
„Mahlzeit“, sagte Rainer, der ältere der beiden.
„Wohl bekomm’s!“, schloss sich Thomas, der andere an.
Henner nickte und begann zu essen.

Am Nachmittag fuhr er aufs Land, um für zwei Tage seinen Freund Jochen zu besuchen. Als sie jung gewesen waren, hatten Jochen und er zusammengewohnt, ein Taxi, ihren Musikgeschmack und die politischen Überzeugungen geteilt. Sie hatten studiert, der großen Liebe und existenziellen Erfahrungen hinterhergejagt und Strategien entwickelt, um Spuren in der Kunst oder der Revolutionsgeschichte zu hinterlassen. Im Unterschied zu Henner hatte Jochen dann mit Ende dreißig geerbt und sein Vermögen in einen Hof im Brandenburgischen investiert. Mit Hilfe eines befreundeten Architekten schuf er dort im Lauf der Jahre und Jahrzehnte ein beneidenswertes Refugium, das er den Ideen interessierter Freundinnen und Mitstreiter offenhielt. Werkstätten und Ateliers entstanden und wurden genutzt, und zwischen Gewächshäusern und Obstbäumen streiften Kinder und Hunde über verwilderte Wiesen, während Jochen sich ins Innere des Haupthauses zurückzog und erotisch-gesellschaftskritische Romane schrieb. Wie er sagte, wollte er das Genre aus den Fängen des reaktionären Misanthropen Houellebecq befreien und für Utopien anschlussfähig machen. Auch damit feierte er zuletzt Erfolge.

Henner fand den Freund auf einer Bank im Schatten eines Walnussbaums beim Korrigieren der Fahnen seines kommenden Buches. Als er vor ihm stand, schob Jochen die Lesebrille ins Haar, erhob sich und umarmte ihn.
„Alt siehst du aus!“, begrüßte er ihn wie meist.
„Bin ich auch“, antwortete Henner ihrer Routine folgend. „Und Realist.“
„Setz dich, Gevatter. Willst du Kaffee? Tee? Bier? Wein?“
„Alles. Aber vielleicht für den Anfang tatsächlich ein Bier.“
Jochen grinste ein faltiges Grinsen und zauberte zwei Flaschen aus einem Eimer mit kaltem Wasser.
„Ich hab da mal was vorbereitet.“
Er öffnete die Flaschen und sie stießen an. Die gekühlte Flüssigkeit rann willkommen durch Henners ausgedörrte Kehle. Immer noch stehend ließ er den Blick hügelabwärts schweifen. Falls er sich je gefragt hatte, ob sich Schönheit erwerben und bewohnen ließ, lautete die Antwort immer wieder ja.

„Mich hat heute ein Jugendlicher auf der Straße angerempelt. Da habe ich mich tatsächlich alt gefühlt“, berichtete er.
Jochen setzte sich und schob den Stapel der Korrekturbögen zur Seite, damit auch Henner Platz fand.
„Oder gar nicht so sehr alt. Eher schutzlos und überflüssig. Wo ich doch gerade daran arbeite, mich finanziell neu aufzustellen.“
„Ach ja?“
„Ja.“ Henner setzte sich. „Ich habe – so verrückt das klingen mag – einen Tipp bekommen, den ich absolut überzeugend finde. So sehr, dass ich dafür mein komplettes Aktiendepot aufgelöst habe. Jetzt muss ich nur warten, bis das Geld tatsächlich gutgeschrieben ist, und hoffen, dass es dann nicht schon zu spät ist.“
Jochen sah ihn skeptisch an.
„Klingt gefährlich.“
„No risk, no fun, haben wir immer gesagt, wie du dich vielleicht erinnerst.“ Er grinste.
„Du machst aber nicht auf deine alten Tage in Waffen oder steigst in den Drogenhandel ein, hoffe ich.“
„Würdest du mir zutrauen, oder?“
„Für späte Chancen ist Menschen fast alles zuzutrauen, sagt meine Erfahrung.“
Henner wischte den Einwand mit einer lässigen Handbewegung beiseite.

Bevor er weiterreden konnte, sprang ihn ein großes helles haariges Etwas an. Pfoten landeten schwer auf seinen Oberschenkeln, herber Geruch hüllte ihn ein und eine große Zunge fuhr ihm übers Kinn.
„Aus!“, rief Jochen im Aufspringen.
Als er die erste Schrecksekunde überwunden hatte, klapste Henner dem riesigen Tier die Seite, wofür er noch einmal abgeschleckt wurde.
„Geh ab, Schaf!“ Jochen packte den Hund und zerrte ihn von Henner weg auf den Rasen.
„Schaf? Im Ernst?“, fragte Henner.
„Ja. Unser Neuzugang. Ein Schafpudel. Wohnt erst seit ein paar Wochen bei uns.“
„Toll“, befand Henner.
„Schon“, sagte Jochen. „Sitz, Schaf!“, befahlt er und warf dem Hund ein Leckerli zu. Der fing es geschickt und setzte dann seine Runde fort. Mit dem Schwanz wedelnd zottelte er in den Garten davon. Die Freunde sahen ihm hinterher. Henner versetzte es einen weiteren leichten Stich in der Brust.

„Eigentlich hat man meist gar nicht das Gefühl, alt zu sein, oder?“, fragte er.
„Du meinst abgesehen vom häufiger werdenden Verschlucken, dem Rasseln der Atmung dann und wann, den Furchen um die Augen, dem Jucken, den Hautunreinheiten an verborgenen Stellen, den rastlosen Beinen in der Nacht und so was?“
„So Sachen kennst du?“
„Klar. Aber um auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Nein. Eigentlich habe ich nicht das Gefühl, alt zu sein. Die Wahrnehmung ändert sich kaum. Und alles, durch das wir gegangen sind, ist irgendwie immer noch da. Selbst das Begehren.“
„Echt?“
Jochen lachte. „Vor einigen Jahren hatte ich mal gedacht, jetzt ist es vorbei. Aber das war nur eine kurze Schwächephase. Mit dem nächsten Frühjahr war alles wieder beim Alten.“
„Na dann ist ja gut!“
„Und bei dir?“
„Auch gut, im Großen und Ganzen. Wenn nur nicht immer weiter diese andauernde Unsicherheit wäre, woher das liebe Geld kommen soll“, meinte Henner. „Ich hatte gedacht, man hätte wenigstens das irgendwann hinter sich. Den Wettbewerb. Die andauernde Notwendigkeit sich zu kümmern. Den Nerv. Aber aus dem ewigen Kreislauf von Geld – Ware – mehr Geld gibt es wohl keinen Ausstieg, wenn man nicht gerade erbt oder im Lotto gewinnt oder so.“
„Daher also der neue Plan?“ fragte Jochen.
„Daher der Plan.“
Sie schwiegen. Dann klapste Henner Jochens Bein, wie er vorher Schaf geklapst hatte.
„Wenn’s hinhaut, erfährst du’s natürlich als erster.“
„Natürlich“, entgegnete Jochen. „So machen wir das.“

Nachts lag Henner in der ländlichen Stille im Bett und konnte trotz Dunkelheit nicht schlafen. Warum, fragte er sich, waren – zumindest in seinem Fall – auch bei größer werdender Erfahrung die frühen Lieder immer noch die stärksten? Warum hatte er nie Jochens Glück gehabt? Was, wenn er nun alles verlor? – Wenn das Geld aus der Depotauflösung bei seiner Rückkehr auf seinem Konto gutgeschrieben war, würde er alles auf eine Karte setzen. Soviel stand fest. Die Summe eines Lebens. Nur die Aufregung, die durfte ihn nicht schon vorher umbringen.
 
Foto: von hundert
Illustration: 5-DM-Schein von 1961–ca. 1992