Aby Warburg

HKW

2021:Juni // Leo Elia Jung

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06-2021

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Auch wenn der Bilderatlas nie vollendet war, gibt es eine Vollständigkeit der Fragmente des Atlas, die nun im HKW zum ersten Mal erreicht wurde. Bei den ausgestellten Fragmenten handelt es sich um die legendären Bildtafeln, auf denen Reproduktionen von Ausschnitten historischer Kunstwerke, teilweise zusammen mit Pamphleten des frühen 20. Jahrhunderts, Briefmarken und anderen Medien frühe Skizzen für einen kunsthistorischen Atlas in Buchform bilden, in dem Aby Warburg zusammen mit Gertrud Bing und weiteren Forscher:innen in den 1920er-Jahren die Entwicklungen und Bezüge der Kunstgeschichte im Mittelmeerraum systematisch aufarbeiten wollte. Der vollständige Titel lautet: Mnemosyne, Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance.
Meine persönliche Begeisterung für den Bilderatlas hat mit dem Umgang mit ikonografischem Material zu tun. In der nüchternen Zusammenführung des Materials auf schwarzem Stoff sind die präsentierten Medien gleichgestellt. Die Wirkung der Bilder wird als Phänomen betrachtet und mit ihnen in etwa so umgegangen wie mit Petrischalen in einem Labor. Welche Rolle haben Archive heutzutage? Ist nicht jedes Instagram-Profil im Grunde ein Archiv? Oder eher ein Psychogramm?
Forscher:innen am MIT (Massachusetts Institute of Technology) haben im letzten Jahr einen Algorithmus (­MosAIc) entwickelt, der die ikonografische Forschungsweise von Aby Warburg, seiner Mitarbeiterin Gertrud Bing und ihren Kolleg:innen im Grunde weiterführt. Das Programm analysiert kunsthistorische Objekte und Gemälde verschiedener Kulturen und zieht Bezüge, die anscheinend überraschend häufig Aufschluss über historische Zusammenhänge herstellen. Wo hat der Bilderatlas da noch einen Platz?
Immer wieder gibt es Ambitionen, den Atlas zusammenzubringen. Diese Ambition liefert Aufschluss darüber, inwiefern die Arbeit von Warburg, Bing und ihren Kolleg:innen in der kunsthistorischen Forschung gehandelt und geschätzt wird, wenngleich ihre didaktische Ikonografie häufig als unwissenschaftlich befunden wird. Womöglich ist die Zusammenführung des Materials so etwas wie ein kuratorischer Sport. Auch wenn ich die Ausstellung nur digital besuchen konnte, hätte ich mich wohl auch mit Reproduktionen zufrieden gegeben. Im Grunde habe ich das ja auch.
Am tatsächlichen Inhalt der Forschung von Warburg, Bing und deren Kolleg:innen bin ich persönlich eher wenig interessiert. Stattdessen fasziniert mich die Entstehung des Mythos um die Figur Aby Warburgs. Am meisten würde mich eine Aufarbeitung der vergangenen Aufarbeitungen begeistern.
Fragen nach den an der Arbeit am Bilderatlas beteiligten Personen, inwiefern diese sich selbst in die Sammlung integriert haben, welche Interpretationen darüber erst im Zuge der Mythenbildung entstanden sind, wie diese Interpretationen reproduziert wurden und weiterhin reproduziert werden. Was, wenn der Bilderatlas fertiggestellt worden wäre? Der Bilderatlas soll viele Künstler:innen inspiriert haben. Warum nicht diese Arbeiten zusammenführen?
Die Figur des Aby Warburg ist zwar omnipräsent, aber nie im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Überraschenderweise geht es trotzdem meistens um ihn. Bevor er seine Arbeit am Bilderatlas begann, verbrachte Warburg einige Jahre in einer Psychiatrie. Dass dies kaum Erwähnung in der Ausstellung findet, interpretiere ich so, dass seine Arbeit dementsprechend nicht gefärbt werden oder von seiner Forschung eben nicht abgelenkt werden soll. Dabei gäben die Geschichten des institutionellen Umgangs mit dem Thema der psychischen Verfassung historischer Figuren in Zusammenhang mit Personenkult, Reproduktionen von Reproduktionen im Original, Archivzwang und vollständigen unvollendeten Projekten genug Material her für mindestens eine weitere Warburg’sche Bildtafel.
Das Material in der Ausstellung zur Biografie von Gertrud Bing, einer deutschen Kunsthistorikerin mit jüdischen Wurzeln, die sehr eng mit Warburg am Atlas arbeitete und für die Rettung der gemeinsamen Forschung vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten mitverantwortlich ist, bietet einen Hinweis darauf, inwiefern man die Forschung an und um den Bilderatlas in Zukunft vorrangig gestalten könnte. Der Atlas – als Dokumentation und als subsequentes Objekt verschiedener kunstgeschichtlicher Forschungen – ist, ergänzend zum Inhalt des Atlas, sowohl ein Produkt dessen sozialer und historischer Hintergründe als auch eine kulturelle Referenz, deren verschiedene Aufarbeitungen wiederum die Rezeption des Atlas maßgeblich beeinflussen und ultimativ erst (re-)konstruieren. Wo sollte dieser Einfluss eine substantiellere Erwähnung finden als in einer Ausstellung zum Bilderatlas Mnemosyne, dessen Titel ja bereits den Namen der griechischen Göttin der Erinnerung trägt?

Aby Warburg „Bilderatlas Mnemosyne“, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 4.9.–1.11.2020  
Aby Warburg, „Bilderatlas Mnemosyne“, panel 39 (recovered), photo: Wootton/fluid; Courtesy The Warburg Institute, London