o.T.

Spiel der Angst

2015:Mai // Sylvia Beck

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05-2015

Wie hatten wir glauben können, dass unser Spiel anderen Regeln folgte als denen des Systems, in dem wir uns bewegen. Wie konnten wir auf den Gedanken kommen, dass wir uns einem falschen Leben kraft unserer Einzigartigkeit einfach so entziehen könnten. Wie hatten wir auf die Versprechen hereinfallen können? Wie konnten wir nur übersehen, dass wir selbst bis in die letzte Faser von Konkurrenz- und Leistungskultur durchtränkt waren, süchtig nach Belohnung und Anerkennung?
Wir hatten uns angezogen gefühlt von einer Welt jenseits des Alltäglichen, abseits eingefahrener Gleise, und unbekümmert hatten wir uns auf den Weg gemacht, alle Warnungen in den Wind geschlagen. Unsere Angst vor einem langweiligen Leben war größer gewesen als die Angst vor dem Unbekannten, das wir mit Gleichgesinnten erobern wollten. Wir lebten in der größten Stadt Deutschlands, mitten im pulsierenden Herz der Gegenwelt, mit mehr als 10.000 ähnlich Denkenden. Wir knüpften Kontakte und schmiedeten Allianzen. Unser Leben war ganz und gar nicht langweilig. Und ja – wir hatten Erfolg! Unser CV wuchs zu einer beachtlichen Liste von Ausstellungen, Preisen und Besprechungen. Allein der Vergleich mit anderen zeigte uns: noch waren wir über ein gewisses Mittelfeld nicht hinausgekommen. Existenzielle Ängste erschütterten immer wieder unser selbstvergessenes Spiel. Erste Gleichgesinnte blieben auf der Strecke. Zwar hielten uns Stipendien über Wasser und mehr oder weniger artverwandte Jobs sicherten unseren Lebensunterhalt. Aber zunehmend mussten wir uns ein gewisses Scheitern eingestehen: Auch wenn punktuell Aufmerksamkeit für unsere Schöpfungen aufflackerte, schrammten wir doch hart an der Bedeutungslosigkeit vorbei. Was hatten wir zu sagen? Die Zeit verflog und wurde knapp. Und um uns herum drehte sich immer hektischer das Zirkuskarussell des Betriebs. Die Regeln änderten sich. Immer mehr überschüssiges Geld wurde in unser Spiel gepumpt. Erfolg wurde jetzt in Zahlen gemessen und spornte uns an. Teilweise war die Stimmung euphorisch. Wir gaben alles. Noch während wir unsere Zweifel in Aktivismus ertränkten und uns nach oben streckten, waren wir schon ununterscheidbar im Mainstream aufgegangen. Rechts und links zogen alte Weggefährten scheinbar mühelos an uns vorüber – wir fühlten Neid – so würden wir nie die Top-Liga stürmen. Im Gegenteil: Wir waren dabei unterzugehen, unseren Sinn zu verfehlen. Zur falschen Zeit am falschen Ort würden wir irgendwann ausgeschlossen sein aus dem schönen Spiel und dazu verdammt, unsere besonderen Fähigkeiten in entfremdeter Arbeit zu verleugnen. Lähmung stellte sich ein. Die schöne Gegenwelt – durch die Medien verdoppelt und überhöht – war dabei, sich in einen Albtraum zu verkehren. Nur Disziplin und Beharrlichkeit konnten uns retten. Noch in der Niederlage folterten wir uns mit dem schönen Schein unseres Versagens und hielten uns an unseren hehren Zielen fest.
Dann atmeten wir tief durch und machten Gebrauch von unserer Fähigkeit zu denken. Wir sahen uns um. Wir waren ja nicht die Einzigen, denen die Angst die Luft abschnürte. Ein großer Teil der Tätigen außerhalb unserer Zirkel rettete sich nur mit Hilfe von Pillen über die Runden. Nicht wenige waren längst aus der Verwertung herausgefallen und zu Bittstellern des Systems geworden. Wir erkannten, dass unsere Selbstzurichtung nur der allgemeinen ökonomischen Leistungslogik folgte, deren Antrieb die Angst ist. Die Angst nicht dazu zu gehören. Auf der Strecke zu bleiben und ausgeschlossen zu sein. Umgekehrt war unsere individualistische Fehlanpassung zum Modell für andere prekäre Existenzen geworden. Hochmotivierte Selbstausbeutung – ideal in einer neoliberalen Wertelogik. Nachdem unsere irreale Angst sich gelegt hatte, blieb ein tiefes Unbehagen. Wir warfen den Schalter um und suchten einen Ausweg. Zwar wollten wir im Spiel bleiben, aber unsere Freiheit zurückerobern. Und die Kolonisierung unserer Hirne rückgängig machen. Wir besannen uns auf unsere Vorstellungskraft ...
Foto: Hans Martin Sewcz „Sachsen 1976“