Kampf um den Klassenerhalt

Die Mittelschicht im Abstiegskampf

2015:Mai // Christian Linde

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05-2015

Welche Ängste Menschen umtreibt, geben diese der Öffentlichkeit vor allem in Meinungsumfragen zu Protokoll. In der inzwischen inflationär und äußerst publikumswirksamen und populären Form bangen die Bürger – getrieben von Forschungsinstituten als marktrelevanten Akteuren der Erregungsgesellschaft – insbesondere um Arbeitsplatz, Gesundheit und Erspartes.
Die Botschaften, die von den Meinungsforschern im Ergebnis auf den Markt geworfen werden, entsprechen dabei nicht selten dem programmatischen Spektrum der politischen Parteien. Die Politikbranche gehört zu den besten Kunden. Denn demoskopische Befragungen werden im Allgemeinen „in Auftrag“ gegeben. „Der Unwissende bringt den Priestern von Allensbach seine Opfergaben dar und stellt seine Fragen. Die Pythia antwortet nicht auf eigene Faust, sie gibt die Fragen an eine höhere Instanz weiter, an die Stimme Gottes, die im Jargon der Demoskopen ‚repräsentativer Querschnitt‘ heißt“, frotzelte Hans Magnus Enzensberger bereits Mitte der 1960er Jahre über das „Orakel am Bodensee“, dem Institut für Demoskopie Allensbach, eines der hierzulande fünf großen Umfrage-Unternehmen.
Wenn der richtige Meinungsmacher fragt, kann sich der konservativ-saturierte Haushalt also sicher fühlen. Er kann die Zeichen der Zeit erkennen, sich auf neue Entwicklungen eingestellen, flexibel auf die Veränderungen des Arbeits-, Wohnungs-, Gesundheits- und Finanzmarkt reagieren und wird weiter zu den Leistungsträgern gehören, die optimistisch in die Zukunft blicken. Während sich der links-liberale Zeitgenosse stattdessen als rückwärtsgewandter Wohlstandsbewahrer begreifen muss, der als vermeintlicher Technik-Skeptiker, Globalisierungskritiker und Wachstums-Zweifler dem Ziel einer „marktkonformen Demokratie“ distanziert gegenübersteht.

Statuspanik anstelle von Untergangsstimmung
Haben Haltungen und Hoffnungen zu Krieg und ­Frieden, Naturkatastrophen und Weltuntergang als kollektive Mensch­heitsfragen lange Zeit die Debatten dominiert, rangieren seit den 1960er und 1970er Jahren im Zuge eines umfassenden kulturellen Umbruchs innerhalb der modernen Industriegesellschaften Ernährungsfragen, Schlafgewohnheiten und Überstundenkonten stellvertretend für den gleichrangigen Wunsch nach individueller Selbstentfaltung bei den Umfragen ganz oben. Als Herausforderung der Gegenwart rückt – angefeuert von Politik, Ökonomie und Demoskopie – für immer mehr Menschen, der Spagat zwischen Existenzsicherung und Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt.
Und dies gilt in in erster Linie für diejenigen, die über Jahrzehnte als gut geschützt vor den Risiken schwankender Konjunkturen, vor dem Wandel der Erwerbsstruktur, vor Langzeitarbeitslosigkeit oder vor Bildungsdefiziten galten – die Angehörigen der Mittelschicht(en). Längst erzeugen die verschreckenden Verteilungsszenarien in den regelmäßig vorgelegten nationalen „Reichtums- und Armutsberichten“, die Bildungsberichte der Bundesregierung und internationale Publikationen über Prognosen zur Demographie und Migration nämlich vor allem eines: Pessimismus. Ausgerechnet dort, wo bislang Bildung als Garant des materiellen Erfolges galt, wo man im Zuge der Bildungsexpansion in den Siebziger-, Achtziger- und Neunziger-Jahren nicht nur aus „Aufsteigerfamilien“ stammt, sondern selbst den Aufstieg vollzogen hat, droht das bis dato uneingeschränkte Aufstiegsversprechen aufgekündigt und der soziale Status als zentrales Identifikationsmuster verloren zu gehen. Bildungsfachleute erkennen in der Mittelschicht inzwischen Bildungspanik und Sozialwissenschaftler attestieren Statuspanik. „Demzufolge greifen Beschäftigungsunsicherheiten, die zu Beginn der 1990er Jahre für gering qualifizierte Erwerbspersonen typisch waren, auch in zahlreiche Mittelschichtberufe über. Zugleich wird ein Übergreifen von Abstiegsängsten auf jene Angehörige der Mittelschicht vermutet, die selbst nicht aktuell von Vertragsbefristungen oder unfreiwilligen Erwerbsunterbrechungen betroffen sind“, heißt es in einer Studie des Institutes für Soziologie der FernUniversität Hagen. „Zunehmendes Unsicherheitsempfinden kann von Veränderungen hervorgerufen werden, die im erwerbsbezogenen, branchenbezogenen oder familiären Kontext entstehen“, so die Wissenschaftler. „Denkbar wären auch weitere Zusammenhänge, z.B. zum Effekt des Erwerbsverlaufs des Partners bzw. der Partnerin auf die eigene Abstiegsangst, die Wirkung der subjektiven Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage auf die Einschätzung der eigenen ökonomischen Zukunft oder die Einstellungsfolgen von Sozialstaatsreformen, z. B. der Hartz-Reform“, heißt es in dem Papier mit dem Titel „Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg“ weiter.

High Society und Hartz IV
Dennoch spielen die Mittelschichten bei der Beschäftigung mit der größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich öffentlich kaum eine Rolle. Dabei sind die Verarmungstendenzen jenseits von High Society und Hartz IV kaum zu übersehen. Betrug das durchschnittliche Monatsbruttoeinkommen laut Bundesamt für Statistik im Jahre 2001 rund 25800 Euro, lag der Betrag zehn Jahre später zwar bei 29800 Euro. Im gleichen Zeitraum stiegen aber allein die Kosten bei Strom und Gas für Selbstzahler um rund 61 Prozent. Für Heizöl sogar um 110 Prozent. Damit sind nicht nur die Reallöhne gesunken und die Lebenshaltungskosten gestiegen, auch der Rückzug des Staates aus ehemals klassischen Bereichen der Daseinsvorsorge und die Privatisierung von Lebensrisiken bringt immer mehr Haushalte in Bedrängnis und führt zu Armutsängsten: Kosten für die private Altersvorsorge sowie Zusatzleistungen in der Gesundheitsversorgung und Pflegeversicherung. Im Jahre 2012 verkündete die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) zudem: Jedem dritten Vollzeitbeschäftigten drohe Altersarmut. „Die Gesellschaft der Angst ist eine Gesellschaft des Hantierens mit knappen Ressourcen, in der die Angst herrscht: Mir wird etwas weggenommen, was mir zusteht. Ich kann nicht erreichen, was mir versprochen worden ist“, resümiert der Soziologe Heinz Bude in seinem soeben erschienen Buch „Gesellschaft der Angst“. Aus Sorge vieler Eltern ihre Kinder würden nicht fit gemacht für die globalisierte Arbeitswelt, zeige sich die Abstiegsangst der Mittelschicht am deutlichsten. Bude fürchtet: „Da hilft nur eins: Wir müssen uns immer weiter optimieren, damit wir irgendwann in jeder Hinsicht unkündbar sind.“

Szenarien der Selbstoptimierung
Angst, Alarm- und Ausnahmezustand bei Mittelschichtsangehörigen führen geradewegs in Strategien und Szenarien der Selbstoptimierung. Das Mindestziel lautet: Statuserhalt. Zuvorderst wird für den Nachwuchs „gesorgt“. Montags zum Ballettunterricht, dienstags zum Englischkurs, mittwochs zum Geigenunterricht, donnerstags zur Logopädie und freitags zum Feldenkrais. Rasant steigt die Nachfrage nach Plätzen an Privatschulen. Zunehmend erliegen Mittelschichts-Eltern der Illusion, dass in privaten Bildungseinrichtungen für ihre Kinder bessere Bedingungen herrschten als an staatlichen Schulen.
In der Erwachsenenwelt erfolgt immer häufiger der Griff zum Aufputschmittel am Arbeitsplatz. Knapp drei Millionen Menschen in Deutschland schlucken verschreibungspflichtige Pillen, um im Job leistungsfähiger zu sein und Stress sowie Ängste abzubauen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Krankenkasse DAK-Gesundheit vom vergangenen März. Ein Vorstoß der Firmen Apple und Facebook im Oktober 2014 führte zu erheblicher medialer Aufmerksamkeit und einer hitzigen arbeits-ethischen Debatte. Die Konzerne gaben bekannt ihren Mitarbeiterinnen das so genante Social Freezing, das vorsorgliche Einfrieren von unbefruchteten Eizellen ohne medizinischen Grund, im Wert von rund 20 000 Dollar kostenlos zur Verfügung stellen zu wollen. „Arbeiten oder Kind haben. Beides zugleich geht nicht. Zumindest nicht, wenn man erfolgreich sein will. Es wird ein Einsatz erwartet, der mit einem Privatleben kaum vereinbar ist“, kommentierte die Schriftstellerin Tanja Dückers. „Die Firma ist Deine Familie, Dein Baby.“ Nur dass die Firma einen viel leichter vor die Tür setzen kann. 

Foto: Hans Martin Sewcz, 1975
Foto: Hans Martin Sewcz, 1975