Paradox der feuchten Hände

oder: Fallstudie zur Höhenangst

2015:Mai // Florian Markl

Startseite > 05-2015 > Paradox der feuchten Hände

05-2015

Bei einer meiner alltäglichen (als Recherche getarnten) Zerstreuungsrunden stieß ich kürzlich auf einen spannenden Artikel in der Online-Ausgabe der New York Times. Er handelte von Alex Honnold, einem auf sympathische Weise scheu und fast autistisch wirkenden Extremkletterer aus den Vereinigten Staaten. Der 29-jährige Kalifornier gilt unter Bergsteigern als einer der besten und radikalsten Kletterer der Welt und hat wie im Spaziergang internationale Rekorde gesammelt – unter Bedingungen, die sich ein Normalsterblicher kaum ausmalen möchte. Denn Honnold ist ein sogenannter „free-solo-climber“. Free-solo ist eine ultra-puristische Klettervariante, bei der sich der Akteur ohne jegliche Sicherung, nur mit Shorts, T-Shirt, Kletterschuhen und Talkum-Beutel ausgestattet, mitunter senkrechte Felswände hinauf arbeitet. Im Artikel ist als visuelles Intro ein Video eingebettet, das ihn also ohne Seil an einem hunderte Meter vertikal aufsteigenden Felsen ‚klebend‘ zeigt. Seine Finger krallen sich in wenige Zentimeter enge Spalten, die Fußspitzen stehen auf Vorsprüngen so schmal wie Taschenbuchrücken. Die Kamerafahrt beginnt schräg unterhalb seiner Position, in relativer Nahaufnahme, und gleitet, ihn im Bild fixierend, langsam nach oben, dreht sich dabei über ihn, bis sich die Totale des Abgrundes unter ihm öffnet. Ich bin ziemlich platt und fassungslos, als ich mir das anschaue. Wie irre dieser Typ sein muss! Warum nur tut sich jemand freiwillig diesen monströsen Kick an, bei dem der allerkleinste Fehler, oder etwa ein erosionsbedingt wegbröselnder Felssplitter, an dem er sich festhält, den sicheren Tod bedeuten würde? 
Nur zum Vergleich: Während ich diesen Text schreibe und dafür die in meiner persönlichen Empfindung albtraumhaften Bilder aus dem Gedächtnis abrufe, bekomme ich bereits feuchte Hände. Und zwar vor blanker Höhenangst, welche unmittelbar und mit durch schlagartig erhöhter Durchblutung erzeugtem, leichtem Druck-Schmerz bis in meine Fingerspitzen vordringt. Ich halte mich zwar generell nicht für besonders ängstlich, aber so reagiert mein Körper instinktiv, sobald ich bereits medial mit Menschen in großer Höhe konfrontiert werde. Das passiert derart zuverlässig, dass die Schweißdrüsen meiner Hände angesichts einer potenziellen, realen Extremsituation in echter Höhe – sollte es einmal wirklich darauf ankommen – mir zuverlässig das (Über-)Leben schwer machen würden. Ich würde wohl einfach abrutschen. Nicht aus mangelnder Fitness, sondern schlicht aufgrund der simplen Angst vor dem Herunterfallen. Recht anschaulich wird meine kleine Phobie durch einen netten Vergleich, welchen der NYT-Autor folgendermaßen beschreibt: „To get a sense of the experience, try a thought experiment: Picture hanging from a pull-up bar in a playground, with your toes inches off the ground, and feel the calm security of your grip. Now imagine standing on the edge of a skyscraper with that same pull-up bar suspended at eye level two feet in front of you. Lean forward to grab that bar and let your feet swing free, so that you’re hanging by your hands. Look down. How’s your grip now?“ Mein Grip wäre wohl ziemlich unlocker, ganz egal wie viel Talkum ich an den Händen hätte.
Untertitelt ist der Artikel übrigens mit „The master of climbing without ropes spends his life cheating death“. Soso, den Tod betrügen also. Gewissermaßen zwar wirken die Aktionen Honnolds auf mich zynisch und größenwahnsinnig. Auch unter Bergsteiger-Kollegen ist Honnolds ‚Werk‘, trotz höchster Anerkennung, bei weitem nicht unumstritten. Sie nennen es mitunter „respektlos“ und „anmaßend“ wenn er offenkundig so tue, als könne ihm nichts passieren, ihm kein Fehler unterlaufen, er nicht abstürzen. Der Faszination dieses unglaublichen Willens, dieses grenzenlosen Selbstvertrauens, welches er an den Tag legt, und seiner motorischen Perfektion jedoch kann man sich tatsächlich nur schwer entziehen. 
Selbst wenn Alex Honnold, was ich absolut nicht hoffe, eines Tages ein Fehler unterliefe und er in dessen Folge sein Leben lassen sollte, dann taugte seine Geschichte immer noch für eine große, sublime Heldensaga.
Auf mich aber wirkt dieser surreal anmutende, performative Beweis des Sieges über die Angst unterm Strich wie unreifer Kitsch, zumindest was den medialen Wertgehalt angeht – unabhängig von Honnolds Selbstverständnis und persönlicher Erfüllung, die man ihm sicherlich nicht absprechen kann.
Mit meiner Höhenangst habe ich mich nebenbei gesagt recht gut arrangiert, schützte sie mich doch vor manch idiotischem Experiment, und hin und wieder bietet sie mir auch einen horrorfilmartigen Kick, wenn ich zum Beispiel von einem Hochhaus herunterschaue (natürlich hinter einer festen Mauer stehend!). 
Dieser vielen konkreten Ängsten (sozusagen als psychologisches Nebenprodukt) potenziell innewohnende Lustfaktor ist etwas, das im Kontext des Künstlerseins hingegen weniger zu erwarten ist, zumindest sobald es um die üblichen dort verorteten Sorgen und Nöte aka Ängste geht. 
Während ich mich frage, wie es Honnold fertigbringt, sich freiwillig den absurden Risiken seines Tuns auszusetzen, so gibt es gleichzeitig auch naheliegende Gründe, nach dem Warum eines selbstgewählten Lebensweges in der Kunst zu fragen. Etwa: Wieso nur tun sich manche Individuen aus freien Stücken ein Leben in mit hoher Wahrscheinlichkeit dauerhafter Sorge um die unumgänglichen, monetären Belange an, ohne irgendeine Garantie auf ausreichendes Einkommen? Und trotz des üblicherweise sehr hohen Arbeitseinsatzes ist einem nicht einmal Anerkennung sicher.
Meine Partnerin zum Beispiel, eine festangestellte Ärztin, sagte einmal zu mir, sie persönlich könnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, den typischen Härten des Künstlerlebens ausgesetzt zu sein. Sie adressierte dies in erster Linie an den potenziellen Dauerstress des (wirtschaftlichen) Überlebenskampfes und an die daraus resultierende, permanente Versorgungsunsicherheit. Auch wenn sie bei Künstlern diese selbstgewählte Konfrontation mit solchen Belastungen prinzipiell bewundere – ihr selbst wäre es schlicht zu blöd so zu leben. Das ist mehr als nachvollziehbar, und wer einen größeren Wert auf Versorgungssicherheit legt, wird ganz sicher kein(e) Künstler(in). Natürlich treiben mich die erwähnten Probleme ebenfalls um, wie auch könnte man unter den vorherrschenden Umständen von dieser Auseinandersetzung in jenem Kontext unbehelligt bleiben. So führt das in vielen Biografien zu einer teils konfliktreichen Suche nach beruflichen Kompromissen und diversen Nebenstrecken (die auch ungeplant zu Hauptstrecken werden können), welche man vielleicht nie ganz abschließen wird. Das kenne ich gut aus eigener Erfahrung.
Neben diesen eher technischen Ängsten im Zusammenhang mit der Kunst aber fallen mir auch ganz andere, viel weniger profane ein, die das ohnehin komplexe Arbeits-Lebens-Gefüge noch zusätzlich verkomplizieren. Da wäre beispielsweise die Angst vor der Bedeutungslosigkeit oder das allgemeine Lampenfieber, des Weiteren die Angst davor nicht erkennen zu können, ob die eigene Arbeit gut ist, die damit verwandte Angst vor falschen Entscheidungen, noch schlimmer jene vor der Ideenlosigkeit und so weiter. Am tragischsten ist wohl die Angst vor Gesichtsverlust durch eine möglicherweise schlechte Leistung, in deren Folge im Zweifel künstlerischer Output gänzlich vereitelt wird. Hier findet sich eine gewisse Parallele zu der beschriebenen Höhenangst und den feuchten Händen: man bleibt regungslos stehen wie ein Fluchttier in Schockstarre, Lähmung aus Angst, Fehler zu begehen. Das alles sind durchaus Ängste zumindest mit langfristiger Wirkungsmacht auf Existenzniveau. Wer diese als Künstler(in) nicht wenigstens teilweise im Griff hat, steht vor wirklich großen Schwierigkeiten. Besonders exotisch aber sind solche Problemfälle nicht.
Das weite, offene Feld der bildenden Kunst birgt wohl die größtmöglichen Gelegenheiten zur Orientierungslosigkeit unter allen existierenden Tätigkeitsbereichen, welche die Zivilisation dem einzelnen Individuum bereit hält. Wohl nirgendwo sonst hat man ähnlich viele Gelegenheiten, derart viel ‚falsch‘ zu machen und seine Energie scheinbar wirkungslos verpuffen zu lassen.
Ängste sind im Kunstbetrieb sehr vielfältig und offenbar selbst in arbeitsübergreifenden Gruppenzusammenhängen nicht ohne Bedeutung. Man muss kein Psychologe sein um zu erkennen, wie verräterisch die subtilen Anzeichen von Angst um sozialen Status sind, besucht man beispielsweise – insbesondere als Fremder – eine beliebige Ausstellungseröffnung. Auch oder gerade in der Kunstwelt scheint zumindest in Teilen ein unschöner Komplex zu existieren, sich nicht auf den Zufall zu verlassen, wenn es um nach außen wahrnehmbare Kontakte geht. Etwa nach dem Motto: lieber die Chance auf eine gute, neue Bekanntschaft sausen lassen, als das Risiko auf eine falsche, für’s eigene Image schädliche einzugehen. Nur nicht mit den falschen Leuten rumstehen! Vor allem nicht, wenn sie schon falsch aussehen. Hier siegt also die Vermeidungsstrategie über das Risikoinvestment. Ich würde das Beschriebene durchaus als von Angst geleitet betrachten. 
Bei Alex Honnold kann man vermuten, dass der Faktor des Nervenkitzels und des Selbstbeweises eine tragende Rolle in seiner Motivation spielt, und vielleicht mischen hier sogar auch gewisse Suchtmechanismen mit. Wie aber steht es allgemein um den Lustgehalt der Ängste im Kunstkontext? Ich denke, dass man hier nur schwer eine wirklich brauchbare Analogie findet. Wenn man sich entscheidet, Künstler zu werden, macht man das wohl nicht aufgrund des Nervenkitzels, übermorgen auf der Straße stehen zu können. Nein, der pozentielle, grundlegende Lustgehalt eines Künstlerlebens ist nicht kausal mit den möglichen, typischen Ängsten verbunden, sondern er ist schlicht gute Kunst. Gute Kunst sehen und gute Kunst machen. Hier steht also vielmehr der Begriff der Hoffnung dem der Angst gegenüber. Man macht es trotz der Gefahr des Scheiterns, das Risiko ist nicht Teil des wie auch immer gearteten Gewinns. 
Kletterbild aus dem Internet von Alex Honold
Kletterbild aus dem Internet von Alex Honold