Abstraktion

Gespräch

2009:Nov // Knut Ebeling / Anne Fäser

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11-2009
















Knut Ebeling /  Mich überrascht die neue Abstraktionsdebatte – wenn es überhaupt eine ist –, denn für mich macht der Begriff Abstraktion nur als historischer Sinn. Man fällt wieder auf diesen kulturkämpferischen und dinosaurierhaften Begriff der Abstraktion zurück, anstatt den Begriff in seiner Zeit zu historisieren – z.B. mit Wilhelm Worringer. Genau diese unhistorische Verwendung war beispielsweise in der Podiumsdiskussion bei Stedefreund („update abstraction“) der Fall, wo über die Abstraktion als eine zeitlose und überhistorische Konstante verhandelt wurde.

Anne Fäser /  Das lag auch daran, dass wir viel über den Abstraktionsprozess, über das Abstrahieren gesprochen haben.

Ebeling /  Dennoch wurde der historische Begriff der Ab­straktion als Label eingesetzt, was eine Tendenz ist, die sich beispielsweise auch in der aktuellen Guggenheim-Ausstellung „Abstraktion und Einfühlung“ beobachten lässt, die sich völlig klischeehaft auf Worringers gleichnamige Schrift bezieht. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir enorm schwierig, den Begriff sinnvoll für zeitgenössische Tendenzen einzusetzen, ohne ihn zu enthistorisieren. Zumal man nicht vergessen darf, dass auch die Geschichte der Abstraktion selbst eine ideologische Angelegenheit ist.

Fäser /  Auch für mich ist das Verständnis des Begriffs der Abstraktion in seine Historie eingebettet. Aber ebenso beobachte ich, dass historische Bezüge zur Abstraktion allzu schnell als Bezugspunkte gesetzt werden, ohne die Veränderungen in der theoretischen Verwendung des Begriffs zu spezifizieren. Für mich wäre daher interessant zu untersuchen, wie sich das Verständnis von Abstraktion heute aufgrund neuer gesellschaftlicher Bedingungen geändert hat. Auffällig finde ich, dass Abstraktion heute eben nicht nur in komplementärer Abgrenzung zur Repräsentation, sondern auch auf diese bezogen zu verstehen ist.

Ebeling /  Und was glaubst Du, wie sich die Verwendung des Abstraktionsbegriffs heute geändert hat? Man müsste ja die beiden angesprochenen Ebenen im Blick haben, die Geschichte der Abstraktion in der Bildenden Kunst sowie Abstraktion als Begriff oder als theoretisches Verfahren – plus die Art und Weise, wie die Philosophie die Kunstgeschichte der Abstraktion theoretisiert hat.

Fäser /  Abstraktion hat sich in meinen Augen sowohl in der Praxis wie in der Theorie von dem Gegensatz zwischen abstrakt/konkret gelöst und ist insofern auch weniger ideologisch besetzt. Das hat sich ja in der Geschichte der Abstraktion bereits abgezeichnet.

Ebeling /  Ja, da stimme ich Dir zu. Künstlerische und theo­retische Entwicklungen verlaufen da durchaus parallel: Auf der Seite der Malerei haben die maßgeblichen Veränderungen spätestens seit dem abstrakten Expressionismus in der Grenzüberschreitung zwischen Abstraktion und Figuration stattgefunden, indem Veränderungen, Spielereien, Dekonstruktionen jene harte Opposition ins Leere laufen ließen, auf die sich der Begriff der Abstraktion notwendig stützt. Die Rückkehr zu diesem Begriff muss also entweder historisieren oder sie bedeutet eine Rückkehr in den kalten Krieg zwischen Abstraktion und Figuration. Dasselbe vollzieht sich auf der Seite der Theorie: Hier haben seit den 1960er Jahren ebenfalls Verflüssigungen und Dekonstruktionen der harten Oppositionen eingesetzt, die man mit dem Kulturkampf Abstraktion/Figuration nicht einfach ungeschehen machen kann. Oder um es mit Hannes Böhringer zu sagen: Der kulturkämpferische Begriff der Abstraktion ist heute in so weite Ferne gerückt, dass man nur noch fragen kann: „Was zum Teufel war Abstraktion?“

Fäser /  Letztendlich hat schon Wilhelm Worringer Thesen über Abstraktion formuliert, die man auf die heutige Zeit beziehen kann. Worringer behauptete, dass Abstraktion am Anfang steht, unsere Sinneswahrnehmungen demnach nicht direkte psychische Abbildungen dessen sind, was in der Außenwelt zu finden ist. Welche Referenz kann man noch simulieren? Das wäre eine Möglichkeit, Abstraktion sehr allgemein als Konstruktion von Welt zu lesen, als eine den Dingen vorgängige Abstraktion, als einen Prozess, der weder eine Art Abziehen von etwas Konkretem und somit der Verweis auf etwas Spezifisches ist, noch ausschließlich die konstitutiven Formen des Mediums selbst reflektiert. Wohin führt dieser Gedanke?

Ebeling /  Es ist für mich überhaupt die Frage, ob der Verweis auf den philosophischen Begriff der Abstraktion zu irgendetwas führt. Die Ablösung von der starren Opposition Abstraktion/Figuration hat vielleicht in der Kunsttheorie oder an den Rändern der ästhetischen Theorie stattgefunden (ich denke da zum Beispiel an Lyotards Begriff des „Figuralen“) – jedoch nicht in der eigentlichen Philosophie. Deshalb sollte man die visuelle und die begriffliche Problematik einfach trennen: Entweder man spricht explizit davon, was in Kunst und Ästhetik passiert ist (wie Lyotard) oder der Weg in die philosophische Problematik führt in die Irre.

Fäser /  Als ich über Worringer nachdachte, sah ich meine Gedanken parallel zu meinen Überlegungen, die ich damals in der Podiumsdiskussion entwickelt habe, indem ich die Abstraktion bzw. vielmehr das Abstrahieren als das Hinzufügen einer weiteren Ebene gelesen habe (egal ob abstrakt oder konkret), was insofern als das Reduzieren einer Möglichkeit aus einem Möglichkeitsraum in eine Form beschrieben werden kann, ohne aber verallgemeinert oder gar als DIE Abstraktion gelesen zu werden.

Ebeling /  Du versuchst mit Worringer zu klären, was Abstraktion eigentlich ist. Genau das ist die Falle der Philosophie, in die auch die Podiumsdiskussion tappte: Man kann nicht sagen, was Abstraktion „eigentlich“ ist, man kann nur klären, in welcher Zeit der Begriff Abstraktion wie gedacht wurde. Bei Worringer müsste man also beispielsweise fragen, warum er in jener Zeit den Abstraktionsbegriff so und nicht anders entwickelte. Parallel in der Bildenden Kunst: Warum hat der Suprematismus die Abstraktion so gedacht und der abstrakte Expressionismus wieder anders? Und warum wird der Begriff heute wieder aufgegriffen? Welches Bedürfnis erfüllt die Verwendung von „Abstraktion“ heute? Wie ist die erwähnte Debatte heute aufgehängt?

Fäser /  In der Podiumsdiskussion bei Stedefreund haben wir vor allem den Abstraktionsprozess thematisiert, der nicht allein auf die Bildende Kunst und den künstlerischen Prozess bezogen ist. Jede Reflexionsleistung, jede ästhetische Entscheidung, jedes ästhetische Objekt ist gewissermaßen abstrakt. Es lag also die Vermutung nahe, dass die Überlegungen zu einem „update“ von Abstraktion ins Leere laufen, weil die Verwendung des Begriffs beliebig geworden ist. Die Zeit des Pluralismus förderte eine Indifferenz ästhetischer und theoretischer Diskurse. Neue Ismen scheinen verpönt zu sein. Wir sind ja schon im Simulakrum dritter Ordnung angekommen, weil alles zum reinen Signifikanten ohne Referenz geworden ist und nur noch Simulationen erreichbar sind. Die Auseinandersetzung mit Abstraktion ist möglicherweise daher wieder aktuell, weil es einer theoretischen Bewältigung mit der Historie und einer Irritation der gängigen Vorstellungen von Abstraktion bedarf, die eine ästhetische und gesellschaftliche Neuverortung in der Jetztzeit ermöglichen. Wir sollten daher weiter fragen, welche Kontext- und Zeitgebundenheit wir heute im Hinblick auf den Begriff „Abstraktion“ erleben und – wie du schon gefragt hast – welches Bedürfnis die Verwendung von Abstraktion heute erfüllt.

Ebeling /  Zweifellos ist das der Grund für die Aktualität der Abstraktion: Wenn die Moderne unsere Antike ist, dann ist die Abstraktion deren Klassik. Doch lautet der Name des Referenten hier „Geschichte“: Es gibt tatsächlich diesen Rekurs auf eine „eigentliche“ oder „authentische“ Geschichte (namens „Abstraktion“), weswegen man die Simulationstheorie, glaube ich, heute bei Seite legen kann. Selbst wenn sich die Geschichte als Simulation großen Stils herausstellt, darf sie die Rolle des codebreakers spielen, der das Reale wieder einführt. Ist es vor diesem Hintergrund – der Geschichte als Sicherheit – nicht also so, dass die Verwendung der Begriffe und Formen der Abstraktion ein fundamentales Sicherheitsbedürfnis erfüllt?

Fäser /  Denkst du da an „Sicherheit“, die in einem pluralen System einen neuen Maßstab zur Unterscheidung und Differenzierung bietet? Muss da die antike Moderne herhalten? Wo und wie spielt die Geschichte da den Codebrecher?

Ebeling /  Ich meine die Sicherheit der Referenz, die auf ein Reales verweist, das es also geben muss: Es versichert ungemein zu sagen: Es gibt eine Geschichte, es gibt eine Geschichte der Abstraktion, auf die wir uns also beziehen können! Das ist doch großartig, dass wir für diese Selbstvergewisserung heute auch noch belohnt werden. Was mich noch interessieren würde, ist die Frage, wie diese Selbstvergewisserung konkret in den neuen Ausstellungen zur Abstraktion aussieht?

Fäser /  Ich muss immer wieder und auch jetzt während unseres Gesprächs über die Arbeiten von Kerstin Gottschalk in der Ausstellung „35 Minuten“ (2007) bei Stedefreund nachdenken. Gerade die Arbeit, bei der Wachs über die Stufen im Eingangsbereich der Produzentengalerie geschüttet war und wie eine glitschige, rutschige Masse noch zu fließen schien, löste in mir eine Verunsicherung aus, die meine an Sicherheit orientierte Wahrnehmung auf die Probe stellte. Was ist da passiert? Was ist da wohl aus der Form geraten? Will ich das betreten? Ekel überkam mich, weil mir die Materialität erst einmal unklar war. Gerade aber diese Verunsicherung, regelrecht ein Schock, der mich dabei begleitete, ermöglichte mir einen Zugang zu einem anderen Verständnis von Abstraktion, mit dem die Künstlerin in meinen Augen operiert. Die Unsicherheit mit der ich mich über den Boden, also über die künstlerische Arbeit hinweg bewegen sollte, wurde stellvertretend für die Verunsicherung in Bezug auf die Frage, wie ich diese Arbeit als abstrakt interpretieren soll, ohne diese Frage allein damit zu beantworten, dass die Arbeit eben nicht gegenständlich ist. Es findet sich eine Referenz in der Geschichte der Abstraktion, wenn wir die Paraffinschüttung auf Werke von Robert Morris und die „Anti-Form“ beziehen. Doch geht Kerstin Gottschalk in meinen Augen über die Methode der Selbstorganisation von Material hinaus, indem die physische Erfahrung ein Lesen sozialer Gegebenheiten und Brüche ermöglicht, wie beispielsweise die Verunsicherung, wie man sich in einem Raum überhaupt bewegen kann und im übertragenen Sinn, wie man mit dem Abstraktionsbegriff weiterarbeiten kann.

Ebeling /  Sehr schöne und sehr richtige Lesart von Gottschalks Arbeit – die ich ehrlich gesagt nie mit dem Begriff der Abstraktion, über die „eccentric abstraction“ hinaus, zusammengedacht hätte.

Fäser /  Was beobachtest Du in neuen Ausstellungen über Abstraktion? Wieso hättest Du die Arbeit von Kerstin Gottschalk nicht mit dem Begriff der Abstraktion gelesen? Für mich geht sie von realen (auch politisch-gesellschaftlichen) Verhältnissen aus und überführt diese in die Abstraktion. Dabei arbeitet sie ebenso an einem neuen Verständnis von Bildfläche bzw. Bildraum, in dem der Betrachter mit seinen Wahrnehmungsmustern befragt wird. Eine ähnliche Herangehensweise verfolgen viele andere KünstlerInnen, wenn sie auf soziale Realitäten oder ein städtisches Umfeld reagieren. Wir haben schon darüber gesprochen, dass die meisten KünstlerInnen nicht interessiert daran sind, Abstraktion in eine ideologische Theorie zu packen. Es gibt additive Konstruktionsprinzipien aber auch klar definierte Zustände; es gibt Amorphes neben Geometrischem, es gibt Abstraktes neben Figürlichem. Dieser Schwebezustand entspricht in meinen Augen ja gerade einer Suche nach Selbstvergewisserung, aber auch danach, Verhältnisse an ihren Grenzen möglichst genau zu erforschen. Es gibt meiner Meinung nach dabei auch eine Verschiebung von Wahrnehmungsobjekten zur Wahrnehmung selbst, auf die sich der Begriff Abstraktion heute bezieht. Die Frage, die mich dabei interessiert ist, ob uns dies ermöglicht, den prozesshaften und dynamischen Charakter von Wahrnehmung zu thematisieren, der eben auch die Verankerung und Zuweisung eindeutiger Inhalte von Repräsentationen in Frage stellt? Diese Vorstellung entspräche für mich auch dem Bild von Gesellschaft, das ich mir heute gemacht habe.

Ebeling /  Ich beobachte, dass der Begriff unkritisch und völlig enthistorisiert verwendet wird, wie zuletzt in der Worringer-Ausstellung „Abstraktion und Einfühlung“, wo der Abstraktionsbegriff zum leeren Label wurde. Ich finde Deine Lesart diverser zeitgenössischer Künstler (z.B. Kerstin Gottschalk) ja verlockend – sehe aber nicht die „politisch-gesellschaftichen Verhältnisse“, die Deiner Meinung nach in die Abstraktion geführt werden. Für mich setzt Kerstins Arbeit bei formalen, also relativ abstrakten Fragen an und verarbeitet sie dann weiter, so dass ich Ihre Arbeit zwar als formal-abstrakt, aber nicht im Sinne der Geschichte der Abstraktion verstehen würde. Gottschalk knüpft ja klar an die „eccentic abstraction“-Bewegung an (Morris, Hesse, Ryman), die nun mal ein historisches Faktum ist.

Fäser /  Ich kann Dir bezüglich der formal-ästhetischen Lesweise der Werke von Kerstin Gottschalk folgen, denke aber nicht, dass sich das mit meiner erweiterten Sichtweise ausschließt. Denn schließlich sind es ja gerade die formal-abstrakten, konzeptuellen Entscheidungen, die auf bestimmte andere, eben auch gesellschaftsrelevante Kontexte aufmerksam machen. Aber das ist alles weniger illustrativ und direkt umgesetzt, sondern bleibt offen und verhandelbar. Es wird vielleicht zu einem formal-abstrakten Argument, das im Werk ästhetisch und politisch bewertet werden kann. Auch aufgrund der gesellschaftlichen Instabilität funktioniert Abstraktion als Zugang zu einem sich entziehenden, aber existierenden offenen Raum.

„update Abstraktion“, Podiumsgespräch bei Stedefreund mit Barbara Buchmaier, Anne Fäser, Thomas Keller und Jens Nordmann, moderiert von Wolf von Kries, Dorotheenstraße 30,
10117 Berlin,
18.06.2009
„Abstraktion und Einfühlung“,
Deutsche Guggenheim Berlin,
Unter den Linden 13/15,
10117 Berlin,
15.08.–16.10.2009
Kerstin Gottschalk, Ausstellungsansicht „35 Minuten“, Stedefreund 2006 (© Courtesy Stedefreund, Berlin)
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