Die Ausstellungsreihe „Secret Universe“ im Programm des Hamburger Bahnhofs ist mal etwas, das man uneingeschränkt loben kann. Unterstützt wird die monographische Reihe mit unterrepräsentierten Positionen jenseits der Konsenskunst von „About Change, Collection“, einer Kunststiftung von Christiane zu Salm. Die beiden bisherigen Ausstellungen in der Reihe (zuerst Horst Ademeit, jetzt Paul Laffoley) mögen für den normalen Besucher vergleichsweise nerdig bis spleenig wirken. Die anderen Besucher freuen sich trotzdem. Möglicherweise sollen nach Meinung einer Mainstream- Institution wie dem Hamburger Bahnhof hier sogenannte konsensferne Künstler in die nachhaltige Utopie- und Avantgardelücke einspringen, die speziell auch die vermeintlich utopischen Lebensraumentwürfe von Saraceno mit einem Buckminster-Fuller-Aufguss in der Haupthalle nicht annähernd füllen kann.
Auch wenn Sascha Lobo so ein mediales Unding ist, muss man Leute unterstützen, die hartnäckig an Wortschöpfungen wie „ikeabel“ arbeiten. Seine Wortkreation meint weniger, ob der eigene Körperbau vom neuen Ikeaschrank rausgeschmissen wird, sondern umschreibt vielmehr einen Ikeabesuch mit dem künftigen Lebenspartner als ultimativen Beziehungs- Stresstest. Angesichts des Hangs zu Eventshows im Hamburger Bahnhof (siehe Carsten Höller, wie erwähnt Saraceno, sowie einer Art gemalten Zooausstellung von Walton Ford) muss man nicht unbedingt zu Ikea für den partnerschaftlichen Lackmustest. Der Hamburger Bahnhof ist immerhin zentraler gelegen.
Nach Horst Ademeit werden nun imposante, visionär angehauchte Diagramm-Tafelbilder von Paul Laffoley gezeigt. Die minutiös gemalten Großformate veranschaulichen komplexe hochgeistige Sachverhalte, untermauert mit Satzkürzeln und Stichwörtern im schon vergessenen Letraset-Klebebuchstabenlayout. „Veranschaulichen“ ist bereits so ein Langstreckenwort, mit dem der beschriebene Sachverhalt selten klarer wird, wenn es zum Einsatz kommt. Absoluter Ordnungssinn und Perfektion stehen eher im unproportionalen Verhältnis zu den teilweise abstrus spirituellen Botschaften aus Laffoleys Universum. Soweit man sie denn überhaupt auf die Schnelle entschlüsseln kann. „Sie könnten das Fundament einer noch namenlosen Religion bilden“, wie Raphael Rubinstein im Katalogtext orakelt. Für die genaueren Hintergründe und Zusammenhänge einzelner Bilder hat der Künstler vorsorglich kurze Erläuterungstexte verfasst. In der Ausstellung werden die sogenannten „“oughtforms“ nicht gezeigt, im Katalog zumindest auf Englisch abgedruckt.
Die Themenkomplexe, die Laffoleys Tableaus behandeln, geben sich nicht mit Kleinigkeiten zufrieden: Es geht um Schwarze Löcher, Astrologie, Anthroposophie, Kosmologie bis hin zu Fragen der Mathematik der 4. und 5. Dimension. In einzelnen Bildern werden so beispielsweise die Funktionsweise von Wilhelm Reichs Orgon-Maschine oder ein Konstruktionsplan einer von Laffoley erfundenen Zeitreisemaschine (im ersten Entwurfsstadium) visualisiert. Gemeinsam haben alle Bilder mehr oder weniger eine hohe verschlüsselte Informations- und Symboldichte, woraus sich meist ein rätselndes Betrachtungsvergnügen ergibt. So wie Poesie oder Pointen aus semantischen Abkürzungen resultieren, entsteht hier irrlichternde Neugier auf mehr Einsicht. Beuys dagegen zu verstehen, ist fast ein Kinderspiel. Oder hätte Niklas Luhmann ein größeres Grafikerherz gehabt, wären mögliche Visualisierungen seiner berühmten Zettelkästen vermutlich nachvollziehbarer ausgefallen. Die Kompositionen sind entweder strikt zentriert ausgerichtet – in einer Art zeitlosem New-Age-Ingenieurslook – oder erinnern bei höherer Komplexität an liebevoll ausgemalte Schalt- und Architek- turpläne. Was nicht weiter verwundert, denn Paul Laffoley hat als ausgebildeter Architekt einige Jahre beim legendären Frederick Kiesler gearbeitet, als dessen Pionier leistung es gilt, weiche und runde Formen in das Bauvokabular der Moderne eingebracht zu haben. Oder flapsig gesagt, hat er die Aerodynamik und auch die Todeskurve in die Architektur eingebracht. Nebenbei war Laffoley auch für Andy Warhol tätig, als Kontrolleur des nächtlichen Fernsehprogramms, was damals im Wesentlichen ja aus Testbildern bestand. Laffoleys weitere Karriere als Architekt nahm bei der Planung des World Trade Centers ein jähes Ende, als er vorschlug, beide Türme mit einer Fussgaängerbrücke zu verbinden, woraufhin er fristlos gefeuert wurde. Von da an beschloss Paul Laffoley, sich ausschließlich der Kunst zu widmen.
Hier von Malerei im konventionellen Sinne zu sprechen, ist eher irritierend. Entfernt erinnern die Bilder stellenweise an Tomma Abts kurvige, spitzwinklige Kompositionen. Eine vergleichbare skalpellartige Pinselpräzision findet man bei Joe Coleman. Das Thema „gesteigerte Bildkomplexität“ im formalen Sinne wird auch von Zeitgenossen wie Lari Pittman, Franz Ackermann und Julie Mehretu bearbeitet. Insgesamt geht es hier weniger um klassisch bildnerische Ikonographien oder suggestive Bildmomente per Farbauftrag. Die Bildbetrachtung muss hier zwangsläufig leseartig erfolgen, wenn auch nicht im linearen Modus. So etwas steht einer singulären Bilderkraft eher im Wege. Vergleichbar mit dem Versuch, anstatt nur einer Person in die Augen zu schauen, Blickkontakt mit einer ganzen Gruppe aufrecht zu erhalten.
Eine genauere Beschäftigung mit Laffoleys umfangreichem interdisziplinären Wissen und Oeuvre lässt einiges weniger krude und obskur erscheinen. Um so mehr, wenn man bedenkt, dass die ominösen Neutrinos möglicherweise tatsächlich schneller als Licht sein könnten, womit mit einem Schlag ein absolutes Grundgesetz der Physik komplett hinfällig wäre und einiges mehr. Dass alles jederzeit komplett anders erklärbar sein könnte, ist insofern als einzige Gewissheit hilfreich wie tröstlich. Dies wird hier nachdrücklich durch vielerlei interdisziplinäre Welterklaärungsentwürfe von Laffoley nahegelegt, angenehmerweise ohne jeden sektiererischen Missionarseifer. Ich muss dann mal los zur Séance im Wissenschaftskolleg.
Paul Laffoley in der Reihe „Secret Universe“, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin, 4.11.2011 – 4.3.2012