8. Berlin-Biennale

2014:Jul // Andreas Schlaegel

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07-2014














Die Biennale nuschelt

Was ist bei dieser Biennale bloß schief gelaufen? „Ruhig“ hatte Juan A. Gaitán seine Biennale genannt, aber tatsächlich ist sie langweilig, und dumm. Mit dieser Masse an sorgsam gerahmten konzeptuellen Zeichnungen und Archivmaterialien könnte sie von einem deutschen Bürokraten entworfen sein, der noch dazu alle Kästchen abhakt, die ihm unterkommen: politisch korrekt: check, Globalisierungskritik: check, postkolonialer Diskurs: check. Alles prima. Was der Biennale dagegen gelingt, ist so etwas, wie dass hier Recherche-Kunst zur klischeehaften Formel reduziert wird und zur Selbstparodie gerinnt. Kleinkram an Wand oder auf Tisch = Recherchekunst.
Was auf der Strecke bleibt, ist jeglicher Enthusiasmus. Es vermittelt sich kein Gefühl für Dringlichkeit, man fragt sich, was das Anliegen gewesen sein kann. Haben wir etwas nicht richtig verstanden? Oder murmelt der Kurator nur so unverständlich, weil er selbst das Interesse an dem verloren hat, was er eigentlich vermitteln wollte – als würde er mitten im Satz eindösen. 
Und das bei der Freiheit, die man als Kurator der Berlin-Bien­nale genießt! Gaitán selbst hat dies in Interviews immer wieder betont. Nur zwei Jahre ist es her, dass Żmijewski diese Freiheit genoss – und ausnutzte, um seine Biennale in den gelegentlich etwas hyperaktiv wirkenden Aktivisten-Zirkus zu verwandeln, der zwar oft nicht besonders schick aussah, aber im Vergleich zu den anderen Großausstellungen des Jahres – der schlauen, nahezu perfekten Genker Manifesta von ­Cuauhtémoc Medina und der opulenten Carolyn-Christov-Bakargiev-Documenta – war es die Berlin-Biennale, die die interessantesten Fragen stellte: Was kann die gesellschaftliche Rolle von Kunst sein, wie kann der Künstler seine Rolle gesellschaftlich rechtfertigen? Und immerhin wagte Żmijewski auch eine Antwort und proklamierte den visuell agierenden Aktionisten als Nachfolger des Künstlers. Zwei Jahre später sind Pussy Riot Medienstars und lassen sich in Amerika abfeiern. Und Ai Weiwei haben wir spätestens seit der Ausstellung im Gropius-Bau weitgehend über. Ansonsten steuert der sich aufblähende Kunstmarkt neue Höhenflüge an und produziert eine Reihe „neuer“ Malerstars, die in immer extremeren Zyklen gehypt werden, vor dem Hintergrund eines immer despotischer agierenden Russlands, der Meldung, dass die Klimakatastrophe definitiv irreversibel ist, und in Europa die rechten Parteien auf dem Vormarsch sind. Wo steht da die Kunst?
Die Antwort dafür gibt Gaitán in seiner Biennale: im Museum. Wo sie hingehört, oder etwa nicht? Nein, zu diesem Zeitpunkt erklärt Gaitán sein Interesse am 19. Jahrhundert und daran, wie es die Berliner Gegenwart mitgeformt hat. Darum geht es. 
Sicherlich, viele betrachteten die Żmijewski-Ausstellung als Disaster, als staatliche Subvention für die ungekämmten Unruhestifter der Occupy-Bewegung mit ihrer unfreiwillig komischen, aber auch ermüdenden Diskussionskultur. Aber ihr wohnte ein bedrohlicher, umstürzlerischer Aspekt inne, der bei allen ästhetischen Problemen und Unvollständigkeiten, auch erstaunlich lebendig war und Veränderung wollte. Kein Wunder, dass man für die nächste Ausstellung einen Kurator aussuchte, der eine „ruhige“ Ausstellung verspricht. Man kann die Taktik verstehen, aber die Strategie ist falsch. Das wirkt wie vorauseilender Gehorsam, da wäre der erste Schritt der Zensur im Kopf schon getan. Wo soll es da weitergehen? Ist dies bereits der Vorbote des Anfangs vom Ende  der Berlin-Biennale, den wir da zu erkennen glauben, oder gar das Ende der Freiheit der Kunst in Berlin an sich? Es würde mich nicht überraschen. 
Aber versuchen wir die Katastrophenszenarien im Kopf im Zaum zu halten und sehen nach den Rosinen in dieser Suppe, die uns Gaitan geköchelt hat. Die Zahlen: 53 Künstler an drei Orten. Zwei positive Dinge, die zu erwähnen sind: viele Künstler aus aller Welt, im üblichen Biennale-Drittel-Schema, ein gutes Drittel alte Bekannte, ein kleines Drittel schon mal gehörte und ein Drittel völlig unbekannte Namen. Soweit so gut, die Namensliste zeigt auch eine Abkehr von jeder Berlin-Lastigkeit, und das tut gut. Diese Abkehr von Mitte zeigt sich auch in der Wahl der Ausstellungsorte. Das Haus am Waldsee, das sich unter Katja Blomberg mit einer Reihe ambitionierter Einzelausstellungen überwiegend junger Berliner Künstler ein eigenständiges Profil entwickelt hat. Im Konzept Gaitáns soll es für den privaten Zugang zur Kunst stehen und die Intimität der Sammlung betonen. Leider ist der hübscheste Ort auch der am ehesten zu vernachlässigende – mit der Ausnahme von Matts Leiderstams Fotografie-Installation der Vorder- und Rückseiten von Renaissance-Gemälden unbekannter Personen, von unbekannten Meistern. Reichlich ungelenk präsentiert macht der abgründige Humor, der im Titel „Unknown Unknown“ aufscheint, in Anspielung an die unsägliche Philosophie des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld („There are known unknowns, and there are unknown unknowns“, so seine Aussage 2002 in Bezug auf die Gewissheit der Informationen zu Massenvernichtungswaffen im Irak), das restliche Kunst-Konvolut im Haus ein wenig wett. Die Rückseite der Gemälde gibt mit Stempeln und Aufklebern ansatzweise Auskunft über die Provenienzen der Werke, aber ausgerechnet da, wo sie unproblematisch sind, und eben nicht mit Bezug auf die Exponate in den Museen Dahlem. Die andere interessante Arbeit hier stammt von Mathieu Kleyebe Abonnenc, der afrikanische Figuren aus dem Musée du quai Branly in Paris als Doubles für ähnliche Figuren aus der verlorenen Sammlung seines Großvaters einsetzt. Da deutet sich zwar eine spannende Verschränkung von privatem und öffentlichem Umgang mit der Kolonialisierung anhand zweier Sammlungen afrikanischer Skulpturen an, aber der Künstler bleibt irgendwo stecken, es fehlen Indizien, die andeuten, wo er damit hin will. Was schade ist, denn das populäre Pariser Haus, mit seinen spektakulären und spekulativen Installationen, ist als Touristenmagnet sicherlich eines der Modelle für das Konstrukt Humboldt-Forum, das bald ins Stadtschloss einziehen soll. Was man sich an dieser Stelle noch einmal auf der Zunge zergehen lassen darf, ist, wie absurd das in ein paar Jahren sein wird. Dass man, um ethnologische Exponate zu sehen, eine Betonburg mit der Fassade des Hohenzollernschlosses betreten wird, eben jener Dynastie, die für die Versklavung und den Tod hunderttausender Afrikaner verantwortlich war. In der afrikanischen Gemeinde spricht man vom „Kunstraubhaus“. Aber das ist natürlich auch nichts für die BB 8. 
Jedenfalls wird die Eröffnung des Stadtschlosses nicht nur eine Unterwerfung an die Ökonomie der Tourismusindustrie sein, sondern auch das Ende der Museen Dahlem bedeuten, des zweiten Biennale-Ausstellungsortes. Es ist immer wieder erfrischend, aus Mitte weg zu sein, dem Kunst-Hype, der Enge und den Touristen zu entfliehen. Hier hat man stattdessen den spröden Charme des alten Westberlins um die Nase und steht in einem Museum, das in erster Linie Museum sein will, sonst nichts. Das Museum ist so groß, die zeitgenössische Kunst kann hier nur eine Nebenrolle spielen, und ihr tut die Nüchternheit des Gebäudes ebenfalls gut. Was die Museen Dahlem so besonders macht, ist, dass sich hier neben den umwerfenden Sammlungen wie nebenbei auch eine Sammlung von Ausstellungsstrategien mehr oder weniger ergeben hat. Das reicht von den mexikanischen Tongefässen, die ihre surreal anmutenden Verzierungen in ordentlichen Reihen schlichter weißer Vitrinen zeigen dürfen, die die Strenge des Ulmer Nachkriegs-Bauhauses atmen, bis hin zum Kronjuwel, dem Saal mit den südpazifischen Auslegerbooten, ganz im Stil der späten siebziger Jahre, wo die Exponate mit Spots aus der Dunkelheit herausgehoben werden. Das Asiatische Museum erscheint dagegen wie ein teurer Juwelier, mit Displays aus dickem Glas und luxuriösen Hölzern voller wie Schmuck präsentierter Lackarbeiten. Hier gibt es noch ein Schmuckstück der Berlin-Biennale zu sehen: die wohl erfolgreichste Recherche-Arbeit, eine Mini-Ausstellung der Ko-Kuratorin Natasha Ginwala mit dem Titel „Double Lives“. Mit umfangreichem Material aus den Archiven der Museen fächert sie eine kleinteilige komplexe Erzählung zur veränderten Wahrnehmung der Welt auf. Das geht von den Zeichnungen des Neuroanatomen und Nobelpreisträgers Santiago Ramón y Cajal (1852–1934), der darin der Verknüpfung von Sinneseindrücken und dem Nervensystem im menschlichen Auge nachspürt, über eine Reihe hochinteressanter Persönlichkeiten bis hin zu Emin Pascha (1840–1892, ursprünglicher Name: Eduard Schnitzer), der als Anthropologe und als kolonialer Verwalter des Südsudan aktiv den Sklavenhandel bekämpfte und so zu einem modernen Verständnis Afrikas beitrug. Dieses Ausstellungs-Implantat ist eine Art Essay, das den Boden vom Wahrnehmungsapparat bis zur Erfahrung der Welt spannt und so den Anspruch Gaitáns einlöst, der vom Ethnologischen Museum forderte, es solle eine Anthologie darstellen, die Beziehungen zu Ausstellungsgegenständen weit entfernter Kulturen herstellt. Und genau dies – wie diese Beziehungen hergestellt werden – ist das Thema dieses einleuchtenden Exkurses. 
Dass man das Motiv der Auseinandersetzung mit den weit entfernten Kulturen auch anders darstellen kann, legen Olaf Nicolai und Saâdane Afif dann wieder erfrischend subversiv aus. Nicolai, der den eleganten Steinfußboden im Foyer des Museums mit einem handgemalten abstrakten Muster ausmalen ließ, angelehnt an die Bodengestaltung eines heruntergekommenen Einkauszentrums in Lichtenberg, zeigt auf, dass es Orte in Berlin selbst gibt, die kaum weiter entfernt sein könnten vom Dahlemer Villenvorort. „Là-bas“, also „dort“,  heißt die Installation eines maßstäblich verkleinerten Modells eines Lichtmasts vom Bahnhof der Kleinstadt Düren, mit Lautsprecher und knarzenden Ansagen: tiefste westdeutsche Provinz vor dem Hintergrund der exotischen Exponate Ozeaniens. Umgeben von Gedichten, die Saâdane Afif zum Titel seiner Installation in Auftrag gab, unter anderem der „Hier-Blues“ vom geschätzten Kollegen Raimar Stange, mit Zeilen wie: „I am here / a lot of fear / where are you my dear?“ Ich freue mich schon jetzt darauf, das mal live zu hören. Das Gegenstück („Içi“) dazu hängt übrigens im Leopold-Hoesch-Museum in Düren. 
Um bei den spannenderen Arbeiten zu bleiben: Carlos Amorales Videofilm muss erwähnt werden, eine an Jodorowsky erinnernde Fabel, voller suggestiver Bilder und mit einem lustigen Prolog, in dem der „ideologische Kubismus“ eingeführt wird. Sehr hübsch, als habe Amorales schon vorausgeahnt, auf was die Ausstellung herauslaufen wird. Und schön melancholisch sind die Videoinstallation von Bani Abidi, in leer geräumten Vitrinen, mit Bildern von sich zersetzenden Filmdosen, geschlossenen Kinos, einer Bibliothek, die ausgeräumt wird, eines heruntergekommenen Vergnügungsparks, eines Kamels und einer Reihe Stühle am Strand, mit Blick aufs Meer. Als sei das einzige, was bleibt, während alles an Kultur sich in Auflösung befindet, der Blick auf den sich im Zuge der Klimakatastrophe langsam erhöhenden Meeresspiegel. Aber am schönsten wird es in Dahlem dann, wenn man sich frustriert von der zeitgenössischen Kunst abwendet und in die Welten eintaucht, die sich einem in den ständigen Sammlungen öffnen, nicht notwendigerweise in den exotischen Motiven, sondern im Dialog der verschiedenen historischen Präsentationsformen und Strategien, die im Museum Anwendung fanden.
Wenn man dann in die Kunst-Werke kommt, erlebt man ein Déjà-vu vor der Installation von Judy Radul, „Look. Look Away. Look Back“. Sie hat ein Segment der Dahlemer Vitrinen für Masken aus Papua-Neuguinea nachbauen lassen, die Seile enthalten, welche Kamerabewegungen auch metaphorisch nachzeichnen („Langsam, langsam, eine Kamerafahrt am Altertum entlang, aufgereiht als Stein, Ton, Metall, Marmor dann wieder zurück (…). Geschichte als Linie oder progressive Flugbahn. Rückkehr“ informiert eines der beigefügten Kärtchen) und von computergesteuerten Kameras abgefilmt werden. Die Videobilder der Kameras laufen parallel zu einer identischen Aufzeichnung in Dahlem, nur sind hier in den KW die Masken in den Vitrinen drin. Als Betrachter verliert man sich leicht in den verschiedenen Falten, die die Künstlerin in der Betrachtung dieser komplexen Situation zwischen Repräsentation und Narration aufwirft. Direkt daneben, die zweite interessante Arbeit in den Kunst-Werken, Julieta Arandas Videoinstallation „Stealing one’s own corpse (An alternative set of footholds for an ascent into the dark)“, 2014, eine satirische Betrachtung über den Export des Kapitalismus in den Weltraum. Im Vergleich zum Rest der Ausstellung wirkt das unterhaltsam, ja beinahe frisch, eine Arbeit, die so etwas wie Science-Fiction aufnimmt, und das nicht über Jules Verne oder H. G. Wells, sondern einfach und direkt. In einem Bild sieht man die Künstlerin selbst in Schwerelosigkeit herumschweben, um sie herum fliegen viele Bücher, als gelte die Schwerkraft für sie nicht mehr. Für einen Moment entdeckt man einen Hauch Neid in sich, zum ersten Mal in dieser Biennale. Das hätte ich auch gerne gemacht. Dann fällt mir ein, dass es in den Museen Dahlem einen anderen Durch-den-Raum-Schwebenden gab, auf einer der Zeichnungen des bengalischen Künstlers und Karikaturisten Gaganendranath Tagore (1867–1938), der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aktiv war. Ein bärtiger Gelehrter auf einem Stühlchen wird hier durch den Sternenhimmel gewirbelt, er klammert sich an seinen Hut, den Kneifer und sein Buch hat er schon verloren. Die Unterschrift lautet übersetzt: „Poetischer Schrei: der letzte Flug des Poeten. Frage: ist es Kooperation oder Nichtkooperation?“
Diese Frage muss sich die Biennale auch gefallen lassen. Mit ihrer weichgespülten Kritik, einem oft akademisch wirkenden und doppelt und dreifach abgesicherten Konzeptualismus wird mal wieder Referenzkunst abgefeiert, die zu oft ohne Synthese bleibt, sodass sich die Frage nach der Substanz aufdrängt. Um Gertrude Stein zu zitieren, die über ihre kalifornische Heimat sagte, „there is no there there“, könnte diese Biennale höchstens als eine Allegorie auf ein Berlin verstanden werden, das sich in sein eigenes Surrogat verwandelt. Diese Ausgabe der Biennale wendet sich von Berlin ab, und das hat ein paar großartige Seiten. Dass sie sich aber fast vollständig vom Bezug zur Gegenwart abwendet, ist schlichtweg dumm und macht diese Biennale trotz einiger Lichtblicke zu einer verpassten Chance. 
Zeichnung (© Christoph Bannat)
Zeichnung (© Christoph Bannat)
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