Onkomoderne

Maßnahmen zur Sicherung der beruflichen und privaten Leistungsfähigkeit

2014:Jul // Christina Zück

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07-2014
















Maßnahmen zur Sicherung der beruflichen und privaten Leistungsfähigkeit

Im letzten Jahr arbeitete ich an einem größeren Fotoauftrag. Gemeinsam mit drei anderen vom Auftraggeber ausgewählten Fotografinnen sollte ich das Leben der Bewohner einer sozialen Einrichtung portraitieren. Die Fotos sollten anspruchsvoll, hochqualitativ, am besten auch noch künstlerisch wertvoll sein, und das alles zum Preis von Stockfotos. Es war ein wunderbarer Job, ich sah wie üblich über die finanzielle Ausstattung hinweg, und begann mit vollem Engagement Porträts zu machen. Alles verlief angenehm, ein paar Monate lang arbeitete ich regelmäßig vor Ort, lernte nette Menschen kennen, und die leicht feindselige Konkurrenzanspannung meiner Kolleginnen ließ ich an mir vorbeiziehen. Beim ersten Treffen hatte ich erwähnt, dass ich schwerbehindert bin und mich daher gut in Schwächepositionen einfühlen kann, und wegen der daraus resultierenden Armut die Honorarüberweisung auch sofort brauchen würde, eine Anzahlung im Voraus bitte, sonst könne ich den Job nicht machen, ich muss halt davon leben. Eine der Kolleginnen fiel mir direkt in den Rücken. Auch die andere Kollegin, die sich wünschte, einen Vertrag über die ausgehandelten Vereinbarungen zu machen, wurde aus den eigenen Reihen angegangen. Ich bekam das Honorar in Raten vorab ausgezahlt, die anderen betonten, dass sie so eine Verletzung der üblichen Regeln nicht nötig hätten. Zum Abschluss der Projekts gab ich jedem Porträtierten Belegfotos, machte ein sorgfältiges Editing, printete die Bilder auf Hochglanzpapier aus und brachte alles in eine sinnfällige Reihenfolge für das zu publizierende Buch. Bei der Präsentation waren alle Anwesenden happy, und der Verleger eines renommierten Kunstbuchverlages, der erst später bei dem Projekt miteingestiegen war, fragte mich, ob man das nicht auch in schwarzweiß drucken könne. Ähem, nein. Dann legte er uns einen Vertrag vor, der das Abtreten aller Verwertungsrechte an den Verlag vorsah, für immer, für die erbliche Nachfolge, für alle Publikationen im Internet, für alle zu erwirtschaftenden Folgegewinne, für alle Neuauflagen und Übersetzungen. Natürlich ohne zusätzliches Honorar. Ähem, ich zögerte erstmal. Meine Kolleginnen unterschrieben blanko auf dem Tisch, ihnen war es egal, vielleicht wollten sie nicht als „schwierig“ gelten oder mögliche Folgeaufträge gefährden, oder sie wollten ihr nach acht Monaten Arbeit noch nicht ausgezahltes Honorar nicht noch länger hinauszögern. Die Bearbeitung des Vertrags hätte die Rücksprache mit einem Anwalt erfordert und in zeitraubenden Emailverhandlungen wären Klauseln abzuändern und zu streichen gewesen, das war too much für die schlummernden Grippeviren in meinem Körper und sie nutzten ihre Chance, um zuzuschlagen. Wenige Tage später hatte ich einen Termin für einen langen Reha-Aufenthalt. Ich schrieb, dass ich leider krank sei und eine Kur antreten müsse und mich erst in einem Monat wieder melden könne. So schmiss mich der Chef einfach aus dem Projekt raus. Mir erhalten blieb das Problem der seit zwei Monaten ausstehenden Materialkosten, und zum Glück konnte ich in meinem die Mahnung begleitenden Anschreiben das Wort „allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ dazu schreiben – allein der Name schien Wunder zu bewirken. Für mittellose, willfährige Künstler gibt es keine Rechtssicherheit. Der Ruf nach der Antidiskriminierungspolizei hielt die Illusion aufrecht, im Wirtschaftskrieg ein wenig Handlungsfähigkeit behalten zu können. Die Materialkosten wurden direkt überwiesen mit dem Hinweis, man sei gnädig aufgrund meiner sozialen Situation.
Ich war tatsächlich reif für eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme. Als Kind hatte ich oft bei Sonntagsausflügen Verwandte in der Kur, wie es damals hieß, besucht. Mit nackten Füßen waren meine Großtanten in Kneippbecken voller Kiesel herumgewatet, hatten solehaltiges Wasser aus Trinkbrunnen getrunken, viel Sahnetorte im Parkcafé konsumiert und lange Spaziergänge mit dem Kurschatten unternommen. Heute bewirbt man sich nach langer oder chronischer Krankheit bei der Rentenversicherung um eine Rehabilitation, indem man droht, einen Erwerbsminderungsrentenantrag zu stellen, oder wenn nach 18 Monaten die Krankengeldzahlungen der Krankenkasse auslaufen und man zur notwendigen Berentung begutachtet werden muss. Leistungen, die zum Abschalten, Entspannen oder Genießen führen, was im kommerziellen Bereich unter dem Begriff „Wellness“ vermarktet wird, werden vom Versicherungsträger zwar mitgeliefert, aber sie haben, dem den gesetzlichen Regelungen entsprechend ausformulierten Text gemäß, erst gar nicht das Ziel der Wiederherstellung der Gesundheit, sondern der Erwerbsfähigkeit. Wenn es also für Heilung einen erhöhten Bedarf gibt, gilt sie in der offiziellen Produktbeschreibung – „Reha vor Rente“ – als Bedingung für die wirtschaftliche Verwertbarkeit des menschlichen Organismus. Die Kassen müssen so argumentieren. Es klingt nicht schön. In bürokratisch geregelten, genauso wie in neoliberal deregulierten Zusammenhängen hat es sich am besten bewährt, positiv denkend, freudig und engagiert an der eigenen Aufrüstung mitzuarbeiten. Im metallblau schimmernden Neubau der Reha-Klinik bekam ich ein großes, von Innenarchitekten in stimmungsaufhellenden Farben gestaltetes Einzelzimmer. Auf dem gegenüberliegenden Flachdach sammelten sich bei Sonnenaufgang riesige Krähenschwärme. Ich begann ein fabelhaftes Programm mit sogenannten Anwendungen: Pilates, Physio, Tanztherapie, Bewegungsbad, Wirbelsäulengruppe, Sauna, Qigong, Reden mit der Ärztin. Sie war wunderschön. Sie betreute 30 Patienten auf der Station und hatte vorgegebene 10 bis 15 Minuten Zeit, aber ich stellte alles an, um immer wieder hinzugehen. Es war, als säße ich meiner besten Freundin gegenüber. Ich bekam einen Plan ausgedruckt, dem ich jeden Tag bloß zu folgen brauchte, und nach dem Abendessen sackte mir der Kopf über einem dunkelvioletten Suhrkamp-Band mit dem Titel „Die Erfindung der Kreativität“ bleiartig in den Schlaf.
Die Reha-Klinik behandelte vorwiegend Patienten mit ungeklärten Krankheitsbildern und war auch auf Depressionen und deren umgangssprachlich Burnout genannte Vorstufe spezialisiert, bei der die Erkrankten unter den sich verschärfenden Lebensbedingungen ihre Selbstwirksamkeit verlieren und von Verzweiflung, Erschöpfung oder Apathie überflutet werden. Für die Behandlung der Depression, wurde kolportiert, hatten die Gesundheitskassen unlängst beträchtliche Budgets freigegeben. Da der Imperativ zum positiven Denken so tief ins gesellschaftliche Unbewusste eingesickert war, würde von nun an jeder Psychologe die dokumentarische und detailgenaue Beschreibung der Wirklichkeit, so wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert als die Ästhetik des Realismus entwickelt hatte, sofort als Depression deuten können. Bei der Eingangstestung mussten alle neuen Patienten am Computer Fragebögen ankreuzen, bei denen als Ergebnis eine Diagnose vorgesehen war, die sie aber erst im Entlassungsbericht erfuhren. Jede neue Diagnose verfestigte den gesetzlichen Anspruch auf Gesundheitsmaßnahmen. Menschen mit schweren Krankheiten fielen zusätzlich aus ihren beruflichen und sozialen Zusammenhängen heraus, das Leid wuchs meistens exponentiell. Bei den Ärzten, den letzten Autoritätsträgern in einer flüssig gewordenen Realität, lag die erdrückende Aufgabe, zwischen den Patienten und den Spar- und Sachzwängen der Behörden zu vermitteln. Ihre Fähigkeiten, Leid zu lindern, wurden häufig eingeschränkt – während die Verwaltungsfachangestellten der Behörden selbst mit verminderter Selbstwirksamkeit und dem charakteristisch blockierten Kontakt zu ihren Emotionen den staatlichen Terror durchsetzen mussten.
Bei den Mahlzeiten lernte ich Jobcenter-Mitarbeiterinnen kennen, Führungskräfte aus der Altenpflege, einen Verlagsmanager, Krankenschwestern, aber auch Verkäuferinnen, die in großen Supermarktketten systematisch gemobbt worden waren, damit sie sich freiwillig berenten ließen – so konnten die Firmen jüngere Arbeitnehmer mit günstigeren Sozialabgaben einstellen. Die Verkäuferinnen hatten chronische Schmerzen, Angststörungen und Depressionen entwickelt. Das luxuriös ausgestattete und auf der Höhe der medizinischen Entwicklung stehende Rehabilitationsprogramm der Rentenversicherung trug nicht dazu bei, diese Verbrechen zu unterbinden. In den Therapien lernten die Patienten, auf eigene Grenzen zu achten, ihre Gefühle genauer zu beobachten und Eigenverantwortung für ihr Leben zu übernehmen, was auch förderlich sein konnte, um die Psychotechniken der Täter besser zu identifizieren. Wir befanden uns in einem nie dagewesenen Strudel gesellschaftlichen Wandels, bei dem die vorherrschenden Kräfte versuchten, alle materiellen und nicht-materiellen Lebensäußerungen zu quantifizieren und in ökonomisch verwertbares Gut umzuwandeln. Es waren keine Budgets vorgesehen, um aufklärerische und komplexere Narrative bereitzustellen. Die Patienten ­mussten schnell wieder zurück an den Arbeitsplatz. Eine realistische Einschätzung, wie die Systeme Wirtschaft, Verwaltung und Gesundheit ineinandergreifen und in Komplizenschaft die Kosten und Folgeschäden ihrer Rationalisierungspolitik aufeinander abwälzen, und zu behaupten, man sei nicht selbst am eigenen Verzweiflungsgefühl schuld, widersprach dem Eigenverantwortungsgebot des leistungsfähigen Körpers und konnte leicht mit „Umschlagen in eine paranoide Wahrnehmung“ beschrieben werden.
Die Fragen der sozialen Absicherung hatte ich immer ausblenden müssen. In Zukunft hatte ich Aussicht auf etwa 100 Euro Rente, und mein Behinderungsgrad würde mir einen steuerlichen Mehrbedarfsfreibetrag zuerkennen. Die Verknüpfung der anzukreuzenden Kategorien Selbstständigkeit und Behinderung führten in der behördlichen Klassifikation sowie in der hochkompetitiven Kulturwirtschaft direkt zum Knotenpunkt am Ende des Netzwerks. Daher war alles auch scheißegal. Irgendetwas würde ich immer machen, produzieren, optimieren, mit oder ohne Wirksamkeit, mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht, egal ob eine Behörde, die mich zur Rechtfertigung nötigen würde, das zu quantifizieren in der Lage wäre. Bei Versagen gab es dann halt Tabletten und Hartz IV. Hier in der Reha war ich das perfekte Zulieferprodukt für die Gesundheitsindustrie und schaffte gut versicherte, hochqualifizierte Arbeitsplätze. Physiotherapeutinnen arbeiteten mit craniosacralen und kinesiologischen Techniken, um die Spannungen, die mir die Angst vor der Kontopfändung im Körper induzierte, zu lösen. Während der Gymnastikübungen legte ich mich erschöpft auf die Turnbank und beobachtete durch das Fenster der Turnhalle die Krähen, wie sie in den Bäumen des Parks ihre Nester bauten. Sanft radelte ich im Seepferdchen-Sitz auf einer Poolnudel durch das Becken. Ich wurde Teil einer bunten, unbeholfenen Wasserballett-Choreografie. Mit übergewichtigen Männern tauschte ich mich in der Sauna über gesunde Kochrezepte aus. Am liebsten hing ich in der Lobby herum, dem zentralen Hub der Klinik, trank Tee, lächelte der hin und wieder vorbeigehenden Ärztin zu, quatschte mit den Mitpatienten und machte mir Gedanken darüber, wie sich in dieser Mikrogesellschaft ganz schnell Beobachtungsstrukturen einrichten ließen.
Der paradiesische Zustand hielt nicht lange an. Nach zwei Wochen kam ein neuer Auftrag herein. Da ich durch das Im-Hier-und-Jetzt-Sein vergessen hatte, was mit meinem Konto los war, und da mir die Rentenversicherung nur etwa 250 Euro Entgeltersatzleistung pro Monat auszahlte, und auch das nur nach fünfmaligem Anrufen und Betteln, musste ich ihn annehmen – gleich ein Anlass, um bei der Ärztin einen Termin zu machen. „Ich muss Ihnen etwas sagen, aber Sie dürfen es niemandem weitererzählen.“ „Sagen Sie es mir“, flüsterte sie. „Ich hab einen Job. Ich muss ihn machen.“ „Das ist ja super!“ Sie verstand es nicht. Nach dem achtstündigen Sportprogramm übersetzte ich jeden Abend in einer Erschöpfungstrance ein paar Stunden lang die Pressetexte einer Weltkriegsjübiläumsausstellung. Die ­Rentenversicherung durfte nichts davon erfahren, ich war ja im Krankenstand. Weil ich mir kein neues Laptop kaufen konnte, hatte mir ein Freund, der als Sys-Admin für eine große Galerie arbeitet, ein defektes, ausrangiertes Macbook aus deren Beständen geliehen, dessen Einzelteile er irgendwo hatte einbauen wollen. Es hatte einen Fehler im Motherboard und stürzte alle zwei bis drei Tage ab, ich musste regelmäßig ein Timemachine-Backup laufen lassen und nach jedem Zusammenbruch ein neues System installieren, ein Systemupdate herunterladen und das Backup herüberkopieren. Der Vorgang dauerte etwa vier Stunden. Drei Wochen lang arbeitete ich an der Übersetzung „Die Schrecken des Krieges“, der Rechner brach zusammen, ich heulte, installierte das System immer wieder neu, die Korrekturen und Emails nahmen kein Ende. Während der ersten Frühlingstage saß ich samstags und sonntags im Klinikcafé und suchte online nach Synonymen für „massacre“, „atrocité“ und der Chronologie der napoleonischen Kriege. Ältere Herren sprachen mich auf das schicke Airbook an und versuchten mit mir ins Gespräch zu kommen. Ich hatte keine Zeit für Geplauder. Das Laptop hatte einem bekannten Galeristen gehört, es hatte um die ganze Welt reisen und große Deals ermöglichen dürfen. Den Namen zu nennen hätte jetzt eine schöne Pointe ergeben, doch mein Freund befürchtet, es könne Konsequenzen haben und Begehrlichkeiten auslösen, wenn man erführe, dass das Gerät – der Elektroschrott – bei mir gelandet sei. Auch diese Lebensphase ging vorbei. Die Heilbehandlung ging weiter, alles würde gut werden. Ich würde irgendwann heil sein.
Am liebsten wäre ich in der Reha wohnen geblieben. Am Tag der Abreise musste ich noch gegen zehn Uhr mein Online-Banking checken, ob es mögliche Zahlungseingänge gab. Da um neun schon die Abmeldung stattgefunden hatte, saß ich mit dem Airbook in der Lobby und wartete noch. Eine Frau aus der Wirbelsäulengruppe setzte sich zu mir und fragte mich, ob ich traurig sei, abzureisen. Sehr. „Ja, man hat auch sehen können, dass Du es genossen hast.“ Warum ich denn jetzt hier noch säße? Ich erzählte ihr, dass möglicherweise ein Auftraggeber eine Rechnung bezahlt hätte und ich dann sofort meine Miete und meine Autoversicherung überweisen könnte und nicht unversichert nach Berlin zurückfahren müsste. „Ich arbeite bei einer Versicherung.“ „Ach, dann weißt Du ja Bescheid, die können ja auch gelegentlich kulant sein, wenn man später zahlt.“ Die Überweisung war nicht gutgeschrieben worden. Jetzt sah ich die Ärztin aus der Tür des Treppenhauses kommen und auf das Pflegestützpunkt genannte Schwesternzimmer zugehen. Meine Herzgegend füllte sich mit wärmer werdender, heroinartiger Energie, die sich langsam im gesamten Körper ausbreitete, so wie sie es mir in einer Lichtkugel-Meditation beigebracht hatte. Sie verließ den Raum wieder mit leicht federndem Hüftschwung, und ich atmete die Energie aus, hoffend, etwas davon würde sie telepathisch treffen. Sie drehte sich nicht um.
zück2_sw.JPG (© Foto: Christina Zück)
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