The Feverish Library (continued) Capitain Petzel

2013:May // Volkmar Hilbig

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05-2013
















Bibliophile im Glaskasten
/ The Feverish Library (continued) bei Capitain Petzel

Es gibt sicher nicht wenige Museen, die die Galerie Capitain Petzel um deren Räumlichkeiten in der Berliner Karl-Marx-Allee beneiden. Als im Winter 2013 dort die Ausstellung „The Feverish Library (continued)“ präsentiert wurde, dürfte sich eines manchen Neid nicht auf die architektonische Hülle beschränkt haben. Kurator Matthew Higgs hatte hier Werke mehr oder weniger bekannter Künstler versammelt und ihm war es gelungen, den leider gar nicht so häufig anzutreffenden Fall zu inszenieren, dass die Ausstellung mehr vermittelte als die Summe ihrer Einzelteile. Viel mehr!

Matthew Higgs berief sich beim Ausstellungstitel auf Jorge Luis Borges, jenen reaktionären Demokratieverächter, bibliophilen Weltbürger-Philosophen und genialen Dichter, der, schon erblindet, Direktor der argentinischen Nationalbibliothek wurde und dem Umberto Eco in „Der Name der Rose“ als blindem Bibliothekswächter Jorge von Burgos ein höchst kritisches, aber gleichermaßen auch ein etwas ehrfürchtiges Denkmal setzte. In der Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ vereint Borges alle Bücher, die jemals geschrieben wurden und jemals geschrieben werden, bestückt diese Bibliothek aber auch mit einer Unmenge „sinnloser“  Bücher, die aus unendlich vielen Variationen von Buchstaben- und Zeichenkombinationen entstanden sind. Der Mensch, alt und grau werdend in dieser Bibliothek, ist angehalten, ohne Hast nach den sinnvollen Büchern zu suchen und sich dabei einen eigenen individuellen Filter, einen Kanon zu schaffen. Diese 1941 veröffentlichte Erzählung thematisiert damit also schon den zunehmenden Verlust an kultureller Überlieferung durch die relevanzbewertenden Trefferlisten der digitalen Suchmaschinen. Im Internetzeitalter konzentriert sich unsere Wahrnehmung auf das durch die Selbstreferenzialität der Suchmaschinen immer wichtiger werdende „Wichtige“ und das Leise wird immer leiser, das Zarte und Unscheinbare immer unscheinbarer. „The Feverish Library“ sollte man deshalb wohl mit „Emotionaler Bibliothek“ übersetzen und es geht weniger um das in Borges Erzählung explizit beschriebene, unendlich verschachtelte Bauwerk einer Bibliothek, das durchaus als analoger Vorläufer des Google-Imperiums betrachtet werden kann, sondern um das emotionale Verhältnis zum Buch in seiner haptischen Form. Wie schön ist die Vorstellung, dass allein das Erlebnis, ein papiernes und gebundenes Buch in der Hand zu halten, unserem Gehirn jenen Emotionsschub verleiht, um das betriebsame Suchen durch das entspannte Stöbern zu ersetzen. In der Ausstellung wird die Idee des Buches und der Bibliothek, mit all ihren konzeptuellen Konnotationen, ihren kulturellen Verwurzelungen und ihren individuellen Facetten nicht gefeiert, sondern – viel bescheidener – in Erinnerung gerufen. Nicht jede der ausgestellten Arbeiten befasst sich explizit mit dieser Problematik, sondern sie breiten alle ihre eigene Geschichte aus, die ohne „das Buch“ so nicht hätte erzählt werden können. Der Kurator hat sich sehr weit zurück genommen und überlässt es den Kunstwerken, eher nebenher den uns durch die Bücher geschenkten Reichtum zu zeigen. Nun kann man darüber streiten, ob ein Mehr an didaktischer Hilfe der Ausstellung gut getan oder ob das der visuellen Magie von Ort und Augenblick mehr geschadet hätte. In dieser Frage dürften sich Für und Wider die Waage halten.

Am Eingang empfängt den Besucher die soziale Skulptur „Sha‘at’nez“ von Clegg & Guttmann, deren alttestamentarischer Titel die „Verschiebung“, sprich Verstreuung der Bibliothek Sigmund Freuds in alle Welt beklagt und gleichzeitig auch die „displaced person“ Sigmund Freud meint. Der kleine Turm aus neuzeitlichen Billigbuchregalen, gefüllt mit Kopien von Büchern der ehemaligen Freudschen Bibliothek, überzeugt nur bedingt und hatte sicher seinen großen Auftritt im Wiener Sigmund Freud Museum. Hier bildet die Installation nur den Auftakt zu zwei sehr guten Arbeiten mit Bezug zu dem Wiener Psychoanalytiker. Olaf Nicolai ließ den Text „Trauer und Melancholie“ von Freud erstmals ins Arabische übersetzen und publizierte davon ein Buch, organisierte dazu Radiosendungen und Webstreams im Westjordanland sowie in Israel und musste feststellen, dass Sigmund Freud dort, selbst an Universitäten, völlig unbekannt ist, ja Nicolai selbst wurde für Sigmund Freud gehalten. Die Videoinstallation dazu zeigt deutlich die Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die man in der westlichen Welt psychischen Mechanismen schenkt und der Relevanz solcher Themen in Palästina, wo Besitzfragen als elementare Lebensfragen dominieren. Ein Höhepunkt der Ausstellung ist eine Fotoarbeit (die Original-Kohlezeichnungen werden kaum noch auf Reisen geschickt) aus Robert Longos Freud-Zyklus. Kurz vor der Flucht Sigmund Freuds aus dem nationalsozialistischen Österreich fotografierte Edmund Engelmann dessen Wohn- und Arbeitsräume. Diese Schwarz-Weiß-Aufnahmen ohne Blitzlicht wurden heimlich und unter der Gefahr der Entdeckung durch die die Wohnung überwachenden Nazis gemacht und sind allein daher schon eindringliche Dokumente mit hohem Symbolwert. Robert Longo wurde 1998 auf diese Fotos aufmerksam und es entstanden großformatige Kohlezeichnungen voller geisterhafter Atmosphäre, halluzinatorischer Bedrohung und dunkler Monumentalität. Die bei Capitain Petzel gezeigte und von Longo selbst gefertigte Fotoarbeit nach einer dieser Kohlezeichnungen zeigt Freuds Bibliothek wie ein im letzten Sonnenlicht
untergehendes Imperium: expressiv, unwirklich und kaum aus dem visuellen Gedächtnis zu löschen.

Heiterer wirkt dagegen eine auch von außerhalb der Galerie gut sichtbare Arbeit von Anouk Kruithof. Sie sammelte 3.500 Bücher mit farbigem Buchschnitt, meist aus DDR-Produktion für Osteuropa, und stapelte diese mit den farbigen Rändern als Ansichtsseite so über- und nebeneinander, dass sich äußerst dekorative Farbverläufe ergeben. Sie zeigt damit, dass die scheinbar wertlose Beute aus Altpapierbeständen oder Trödelläden nicht zwangsläufig zu Trashskulpturen moduliert werden muss, sondern dass diese Funde sich auch in Schönheit verwandeln lassen können. Gleich daneben aufgebaut ist Stephen Prinas Installation „Dom Hotel“ von 1994. Die Arbeit basiert auf dem Monolog einer Figur aus Heinrich Bölls Novelle „Billard um halb zehn“, bei der es um Gewalt, Schuld und der Verstrickung darin anhand der Geschichte einer deutschen Familie von der Weimarer Republik bis ins Nachkriegsdeutschland geht. Dieser Monolog wurde von Prina auf rotes und gelbes Papier gedruckt und wird in Buchform mehrfach in einem mittels seines Grundrisses angedeuteten Raum, der von der Verfilmung des Böll-Textes durch Jean-Marie Straub und Danièle Huillet angeregt ist, präsentiert. Stephen Prina, einer der akribischsten Künstler bei der Umsetzung von Konzeptkunst in Objektkunst, referiert hier über Geschichtsaufarbeitung, Literaturaffinität, europäische Filmkunst und vieles mehr in einem straight designten Display. Individuelle Lebensgeschichte vermischt sich mit Weltgeschichte in Diango Hernandez unendlich trauriger Installation „The Only Book“. In einem bücherregalähnlichen Gestell aus Betonstahl ist eine Erstausgabe von Che Guevaras „la guerra de guerrillas“ eingerödelt.

Was ist aus revolutionären Idealen geworden? Wie alltagstauglich sind sie, wenn sie betoniert werden müssen, um sie zu bewahren? Wie lächerlich sind heutige sozialromantische Revolutionsattitüden? Hernandez hat den noch immer gern verklärten lateinamerikanischen Praxistest hinter sich; seine Spiegelungen sollten wir ernst nehmen. Poetischer kommt uns Natalie Czech mit ihren schon viel gezeigten „Hidden Poems“, bei denen die Buchstabenfolge real existierender Gedichte in mehr oder weniger eng darauf bezogenen Texten gesucht und markiert wird. Die im Alltäglichen versteckte Poesie wird also hervorgezaubert, optisch ansprechend in Szene gesetzt und konzeptionell kontextualisiert. Alles in allem sind das schöne, aber auch etwas überschätzte Kunstwerke. Auf den ersten Blick ziemlich lapidar wirkt eine von zwei in der Ausstellung befindlichen Arbeiten Martin Kippenbergers. Die Installation „Schreber“ ist ein zweiteiliges Objekt, bei dem jeweils eine Buchattrappe vier anderen als Buchstütze dient. Alles ist in einem unangenehmen Gelb gehalten und die Buchrücken tragen Aufschriften wie „Weil ich so dumm bin“ oder „jeden schiefen Gedanken sogleich“. Kippenberger fixiert  in seiner genialen Lakonie die Geschichte von Moritz Schreber, Arzt, Pädagoge, philanthropischer Autor und Erfinder der „Schrebergärten“ sowie dessen Sohn Paul Schreber, Jurist, Politiker, Psychiatriepatient und Verfasser des Buches „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Mit Sigmund Freud beginnend gibt es bis heute eine stetig wachsende Flut von Analysen, Kommentaren und Neuinterpretationen dieser Vater-Sohn-Geschichte; Kippenberger hat mit seiner verkürzenden Installation den Horizont weiter geöffnet als manche dickbändige Schrift dazu, aber gleichzeitig das Interesse an tiefgründiger Literaturrecherche geweckt.

Recherchiert hat auch Rachel Khedoori für die Dokumentation „The Iraq Book Projekt“. Die chronologisch erfassten Artikel zum Irakkrieg aus Online-Nachrichten sind einheitlich formatiert in großen Büchern auf vielleicht zehn Tischen präsentiert und nehmen fast das gesamte erste Stockwerk der Galerie ein. Diese Fleißarbeit will wohl die örtlich und zeitlich variierende Rezeption dieser desaströsen Ereignisse aufzeigen, hinterlässt aber den Eindruck einer Alibiveranstaltung gegen schlechtes Gewissen und lässt den Betrachter faktisch kalt. Neugier weckt dagegen  „The Complete Works of Barbara Bloom“. Man möchte schon gern wissen, was in den 38 Büchern mit Goldprägung auf dem hölzernen Bücherbord steht. Da es der amerikanischen Konzeptkünstlerin, deren Werke mitunter zu irrationalen Preisen gehandelt werden, in ihrer Feldforschung aber eher um unsere Wahrnehmung geht, werden die ausgestellten Bücher sicher aus Leerseiten bestehen. Oder sind sie ein kleiner Teil von Jorge Luis Borges „sinnlosen“ Büchern?    
Eine Ausstellungskritik kann nicht jede Geschichte hinter jedem ausgestellten Kunstwerk besprechen. Die Beispiele sollen genügen, um zu zeigen, dass hier Werke ausgewählt wurden, die trotz qualitativer Unterschiede alle etwas zu erzählen haben, die Zeitgeschichte in eine Geschichte übersetzen, deren Entschlüsselung uns etwas Mühe bereiten, aber eben im Erfolgsfall auch glückliche Momente schenken kann. Und letztendlich ist bei jeder erzählten Geschichte das Buch ein Hauptdarsteller. Das Buch wird als Quelle und Zielpunkt, als A und O, als Errungenschaft der Menschheit zelebriert. Wer kein emotionales Verhältnis zum Buch hat, wird den Mehrwert dieser Ausstellung nicht erfassen können. Wer aber dieses emotionale Verhältnis pflegt, wird den Nachsatz „(continued)“ im Ausstellungstitel dick unterstreichen.         

„The Feverish Library (continued)“, Capitain Petzel,  
Karl-Marx-Allee 45, 10178 Berlin, 19.1.–23.2.2013

Ausstellungsansicht, Arbeit von Anouk Kruithof „Enclosed Content Chatting Away in the Colour Invisibility“ (© Volker Hilbig)
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