Lehrwege

2013:May // Einer von hundert

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05-2013
















Einige von Hunderten
/ Lehrwege

Einer steht um 4 Uhr 30 auf und nimmt die Bahn, um vor 10 Uhr in A. zu sein. Er schläft dort auf einem Klappbett in einem Klassengemeinschaftsraum. Alle zwei Wochen unterrichtet er an zwei Tagen dort Kunst. Vierzehntägig, da sonst die Fahrtkosten die Stundenbezahlung übersteigen würden. Die Studenten sind auf einen Wochenrhythmus getaktet. Ein Kurs kommt nicht zustande, was nicht wesentlich ist, da es sich sowieso nur um eine Schwangerschaftsvertretung handelt. Außerdem besteht ein Überangebot von Lehrkräften an der Kunsthochschule.
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Ein anderer verlässt seine Assistentenstelle an der Kunsthochschule in B. und geht in die Provinz nach A., mit dem Versprechen der Hochschule, dass er erst so, als Externer, für eine spätere Festeinstellung als Professor in Frage kommt. Die Stelle soll auf sein Arbeitsprofil hin ausgeschrieben werden. Es kommt etwas dazwischen. Jetzt sitzt er in der Provinz.
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B. war Student von A. A. brauchte einen Tutor, da A. selbst nicht in C. wohnt und gleichzeitig die eigene Karriere, wenn schon nicht vorantreiben, dann wenigstens stabilisieren will. Außerdem war A. gerade wegen seines Bekanntheitsgrades auf dem freien Markt nach C. an die Kunsthochschule berufen worden. Aus Gründen des Renomées und mit dem vielleicht unbewussten Hintergedanken eines regelmäßigen Einkommens hatte A. angenommen. A.s Karriere fing an zu stocken, blieb aber auf mittlerem Niveau stabil. A. steht jetzt mehr als Phänomen einer Epoche, als dass seine Bilder selbst noch Bedeutung hätten. A. lässt sich vorzeitig pensionieren. B. verliert mit dem Ausscheiden auch seine Arbeit als Assistent, der er später wurde. B. bewirbt sich dann für Professorenstellen an verschiedenen Hochschulen. Anschließend tingelt B. durch die Kunsthochschulen verschiedener deutscher Provinzen, indem er dort, zeitlich begrenzt, Lehraufträge annimmt. Gleichzeitig versucht B., seine eigenen Arbeiten auf dem Kunstmarkt zu platzieren. Jetzt glaubt B., zu viel Zeit in den Lehrbetrieb investiert zu haben. Er geht zunehmend weniger ins Atelier, in dem unverkaufte Objekte aus seinen unterschiedlichen Schaffensphasen immer mehr Raum eingenommen haben.
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A. arbeitet als Aufbauhelfer für verschiedenen Galerien und Kunstvereine, organisiert Ausstellungen und nimmt an Gruppenausstellungen teil. Von Zeit zu Zeit wird er von einer Kunsthochschule für einen Lehrauftrag angefragt. Oft lohnt es sich nicht, rein monetär, einen Lehrauftrag für zwei Tage die Woche anzunehmen, müsste er dann seine Jobs als Aufbauhelfer absagen. Nicht dass der Stundenlohn an der Hochschule schlecht wäre, aber die Summe der wenigen Stunden greift nicht wirklich in die Lebensplanung ein, auch wenn A. lieber unterrichten würde.
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A. fährt drei Tage in der Woche an die Kunsthochschule nach C. zum Unterrichten. C. ist nur wenige Stunden von B. entfernt, wo A. wohnt. A. hat zwei Kinder, seine Frau arbeitet auch freiberuflich. Jetzt ist die Stelle von A. noch einmal verlängert worden, aber dann, nach fünf Jahren, ist endgültig, dem Gesetz folgend, Schluss. Sonst müsste die Kunsthochschule ihn in einer Festanstellung übernehmen. A. verkauft immer mal wieder Arbeiten über eine Galerie im mittleren Preissegment. A. hätte gerne, dass seine Arbeiten im  Kunstdiskurs öffentlich verhandelt werden.
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B.s Arbeiten und Aktivitäten finden immer wieder Besprechungen in öffentlichen Medien. Nach fünf Jahren Unterricht an einer nicht-deutschen Kunsthochschule in der europäischen Provinz ist er wieder in C. Die Lehrtätigkeit und Kontakte haben ihm für seine Karriere nichts gebracht. B. verkauft nicht so viel, dass es in seine Lebenswirklichkeit eingreifen würde. B. hangelt sich von Projekt zu Projekt. Projekte die er meist selbst initiiert und Projekt- und Kataloggelder dafür beantragt. B. macht die Kataloggestaltung seiner Projekte und Begleittexte selbst, dafür bezahlt er sich – wenn möglich.
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A. ist im mittleren Kunstmarktsegment vertreten, also jenem, das hauptsächlich vom stillen Verkauf lebt und nicht von der Begleitmusik der Medien unterstützt wird. A. bestreitet seinen Lebensunterhalt von diesen Verkäufen. Viele Verkäufe tätigt A. ohne Galerie, denn A. hat einen Kundenstamm. A. ist vielleicht nicht reich, aber wohlhabend. A. kann den gesamten Unterhalt für die Familie bestreiten, Eigentum und Rücklagen ansammeln. A. unterrichtet kurzzeitig in B. Das Unterrichten ist A., obwohl ihm die dadurch entstehenden sozialen Kontakte gut tun, zu aufwendig. Außerdem will A. die Stadt C. nicht verlassen, um dauerhaft in B. zu unterrichten.
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Die Stadt B. braucht internationale Studenten, um ihren Ruf zu verbessern. Deshalb wirbt die Kunsthochschule Künstler mit internationalem Ruf auf dem Kunstmarkt für eine Professur an. Diese wiederum rekrutieren Assistenten für die Organisations- und Verwaltungsarbeit innerhalb der Hochschule. A. ist ein solcher Künstler und könnte sich irgendeine Kunsthochschule auf irgendeinem Kontinent aussuchen. B. wird sein Assistent.
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C. bewirbt sich bei und mit verschiedenen Stadtteilprojekten. C. stellt sein Atelier zur Verfügung, um dort Kinder und Schüler zu unterrichten bzw. die handwerkliche Seite der Projekte dort logistisch zu unterstützen. Das geringe Honorar hilft ihm für ein bis zwei Monate, wichtiger aber ist C., dass ihn das Arbeitsamt nicht drängt, andere Arbeiten anzunehmen.
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A. war ein aggressiver, drogenverseuchter Hauptschüler, der zur Jahreswende 1983/84 so nah am Abgrund stand, dass noch nicht mal seine Mutter noch einen Pfifferling auf ihn gegeben hätte. Gegen alle inneren und äußeren Widerstände musste er sich dann zum Künstler entwickeln, um sich überhaupt noch ein Leben zu ermöglichen. Nach einem zähen und besonders in finanzieller Hinsicht prekären Weg hat er schließlich, mit Unterstützung einer wichtigen Mentorin, den Weg in die künstlerische Lehre gefunden und ist zuletzt Professor geworden.
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B. war ein hochintelligenter und umfassend gebildeter Student, der schon während seiner Studienzeit in Museen ausgestellt hat, und dem immer alles in den Schoß gefallen ist. Später wurde es dann etwas komplizierter, weil die etwas weniger Bequemen langsam an ihm vorbeigezogen sind, worunter B. gelitten hat. Nach einer Assistentenzeit an einer Universität an der Ostsee lehrt B. heute als Pendler Fotografie an einer Fachhochschule in Süddeutschland.
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C. kommt aus kleinen Verhältnissen und hat vielleicht gerade deswegen eine lupenreine Musterkarriere hingelegt, die man sonst nur in wissenschaftlichen Kreisen kennt. Nach dem Abräumen aller möglichen Stipendien hat C. mit 34 Jahren eine Professur an einer FH angenommen, um knapp fünf Jahre später eine hochdotierte Professur für Bildhauerei an einer renommierten Kunsthochschule anzutreten. C. baut heute gerne Häuser und ist eine engagierte Lehrerin, die auch einen Sinn für Kunstpolitisches hat.
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A. ist eine gute, aber nie am Kunstmarkt erfolgreiche Künstlerin. Dafür hatte sie einige Projekte im Sektor „Kunst am Bau“ realisieren können. Dadurch erhielt sie eine Professur für Kunst an einer Architektenuniversität in C. Später konnte sie eine gleichwertige Stelle in ihrer Heimatstadt B. bekommen. Seitdem unterrichtet und organisiert sie dort, macht aber weniger Projekte im öffentlichen Raum.
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C. unterrichtet hier und da an Kunsthochschulen im Weiterbildungssektor und fährt durch die Republik. Dort trifft er häufig auf andere Lehrende, die auch irgendwo zum Lehren hinfahren.
Wenn C. dann abends spät wieder am Heimatbahnhof ankommt, ist er meist sehr erschöpft. Deshalb macht er das nur ein paar Mal im Jahr, auch weil er davon nicht finanziell abhängig ist.
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A. war sein ganzes Leben an der gleichen Hochschule. Erst als Student, dann als Tutor, dann Assistent von B., der schon sein Professor war. Als dieser emeritierte, bekam A. die Stelle. Alle kannten ihn und keiner wollte ihn missen. Als Künstler hatte er zudem ein bisschen Erfolg, nicht international, aber er ist in der Stadt doch eine bekannte Größe. Er selbst kennt keinen, der außer ihm so eine Karriere an der eigenen Hochschule absolvierte. Zwei seiner Mitstudenten blieben im Mittelbau stecken und greifen ihn heute bei Fachbereichsratsitzungen immer wieder gerne an.
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C. ist Zeichner und hat in Zeichnerkreisen durchaus einen Ruf. Sein musikalisches Gespür kann er gut aufs Blatt bringen. Trotzdem war er sein Leben lang unzufrieden und fühlte sich nicht genug anerkannt. Bis ihn dann doch noch jenseits der fünfzig ein Ruf einer Hochschule ereilte. Die sich dann einstellende Zufriedenheit hielt ein Jahr. Jetzt versucht er, sich im innerhochschulpolitischen Ranking nach oben zu arbeiten.
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C. ist Lehrbeauftragte an einer Kunsthochschule und unterrichtet dort pro Semester etwa 90 Studierende. Es handelt sich dabei um Pflichtveranstaltungen für alle Erstsemester und es geht ums Schreiben, um kreatives und um wissenschaftliches Schreiben. In den Semesterferien muss C. dann die eingereichten Texte ihrer Studenten bewerten/benoten. Diese Arbeit wird nicht bezahlt. Es handelt sich dabei etwa um 90 Texte zu je 1–2 Seiten.
Immerhin hat sich C. die Arbeit in diesem Semester etwas reduziert, indem sie die Aufgabenstellung eingeschränkt hat. Früher waren die zu bewertenden Texte etwa doppelt so lang.
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Lehrbeauftrage B. fährt regelmäßig mit der Straßenbahn zur Hochschule. Meist trifft sie in der Bahn Studierende aus ihren Seminaren. Dabei ist B. unschlüssig, wie sie damit umgehen soll. Soll sie sich dazusetzen oder -stellen, oder sich – quasi abgehoben – abgrenzen und einen eigenen Platz suchen? Meist wählt sie die erste Lösung.

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