Koordinaten des Kunststudiums

2013:May // Philipp Simon

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05-2013
















Fly Free, Lil’ Bee
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Wer mit dem Kunststudium beginnt, denkt gewöhnlich an eine allumfassende Freiheit, an die geforderte Eigenständigkeit, an die Möglichkeit der Selbstfindung und an zwangloses Arbeiten. Natürlich, es ist verhältnismäßig frei, denn es gibt keine entscheidenden Prüfungen, keine ernst zu nehmenden Abgabetermine und keine normativ prüfbare Leistung, die erfüllt werden muss. Doch unterliegt das Studium einem kaum thematisierten Zwang, der stets aufrecht erhalten wird.

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„Das neoliberale Diktum der Freiheit äußert sich in Wirklichkeit als paradoxer Imperativ sei frei.“
(Byung Chul Han, „Agonie des Eros“, Berlin 2012, S. 16)

Sich Aufgaben selbst stellen zu können, bedeutet einerseits, frei zu sein, frei wählen zu können. Diese Freiheit ist aber auch mit dem Zwang verbunden, einem Innovationsdruck gerecht zu werden, denn auch wenn sich moderne und postmoderne Kunst dadurch auszeichnen, dass Grenzen überschritten werden und dass es keine Normen gibt, soll bei aller Freiheit die Metanorm ‚du darfst nicht der Norm entsprechen‘ erfüllt werden. Und da Kunst gewohnheitsgemäß eben mit diesem Normbruch oder der Abweichung verbunden wird, scheint im Umkehrschluss Andersartigkeit Vorraussetzung für kulturelle Relevanz zu sein.
Ein aquarellierender Landschaftsmaler heute, der ohne Anspruch, sich vom Bestehenden abzuheben, malt, scheint freier zu sein als zeitgenössische Künstler. Damit soll nicht gesagt sein, dass seine die bessere, weil freiere Kunst ist, doch zeigt sich daran, dass Kunst als etwas gelehrt wird, das nur bedingt frei ist, weil Kunststudenten gezwungen scheinen, sich zu unterscheiden. Es ist auch nicht grundsätzlich schlecht oder veraltet, nach Neuerungen zu streben, doch stellt sich dieses Streben als alternativlos dar. Der Innovationsdruck, der dadurch entsteht, wird nicht direkt von den Lehrenden ausgeübt, vielmehr existiert er per se und wird nicht in Frage gestellt.

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Neben anderen Aufgaben lautet eine häufig gewählte Zielsetzung im Kunststudium: ‚finde deine Identität‘. Diese Aufgabe bedeutet eine Suche nach einer authentischen, im Selbst angelegten Ausdrucksweise. Sie bedeutet, dem eigenen Charakter Stil zu geben, sich von adaptierten Ausdrucksweisen zu befreien, um die eigene Formsprache zu finden und sie bedeutet auch eine zermürbende Innenwendung – ‚auf der Suche nach dem künstlerisch wertvollen Selbst‘.

„Der Mensch ist heute in vielem Opfer der Theorie der ursprünglichen Differenz. Er ist von der Suggestion vergiftet, dass er an sich und unabhängig von irgendwelchen Anstrengungen bereits einzigartig sei, von allen anderen Menschen auf einer bestimmten außerkulturellen, authentischen Lebensebene unterschieden. Deshalb empfindet er auch ständig eine gewisse Frustration, die aus der unvermeidlichen Erkenntnis seiner tatsächlichen unüberwindbaren kulturellen Banalität herrührt.“
(Boris Groys, „Über das Neue“, München 1992, S. 47)

Wird man auf der Suche nach dem innovativen Ich nicht zufriedenstellend fündig, ist das deprimierend – es gibt aber die Auffassung, dass man dann als Künstler immerhin noch das tragische Scheitern bejahen kann. (vgl. Christoph Menke, „Kraft“, Frankfurt am Main 2008, S. 122)
Das viel größere Dilemma tritt jedoch ein, sollte man dabei vermeintlich fündig werden und etwas finden, das nicht anders ist. Dann muss entweder die Suche wieder aufgenommen und noch mal genauer geschaut werden, ob nicht doch etwas Individuelles verborgen ist, oder der Glaube an eine ursprüngliche Differenz bricht. Dann hat man wieder mindestens zwei Möglichkeiten, indem man entweder beginnt, hart an seiner Individualität zu arbeiten – dann müsste man sich evtl. eingestehen, dass man unfrei ist – oder man merkt auf diesem Weg, dass die Auslegung der Aufgabe die eigentliche Krux sein kann.
„Sich zu schaffen heißt, von sich, wie man schon ist, loszukommen, sich von sich selbst als sozialer Teilnehmer zu unterscheiden.“ (ebd. S. 125) Um diese Unterschiede sehen zu können, muss aber der Blick auf das Andere – das Außen – erhalten bleiben, sonst droht neben dem Selbst nichts zu erscheinen.

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Statt auch alternative Aufgaben vorzuschlagen, die z. B. heißen könnten ‚finde ein Interessengebiet, eine Meinung und einen dazu angemessenen Gebrauch eines Mediums‘ oder suche ein Format, das deinem Interesse gerecht wird‘, wird mit kleinen Gesten der Lehrenden stets der Innovationszwang aufrecht erhalten. Beispielsweise wird ohne böse Absicht in fast jedem Gespräch ein Vergleich zu bestehender Kunst gezogen oder dazu geraten, sich die Arbeiten dieses oder jenes Künstlers anzusehen – der Subtext ist dabei meist derselbe: ‚Schau es dir an, lerne daran und unterscheide dich davon‘. Sicher folgt dieser Hinweis einer gut gemeinten Logik, die besagt, dass es besser sei zu wissen als nicht zu wissen, dennoch findet dabei ganz selbstverständlich ein zwanghafter und eigentlich fragwürdiger Automatismus statt – ist der Fortschrittsdrang eine konstitutive Bedingung für Kunst?

Bestimmt kann es nicht Ziel sein, unreflektiert nachahmende Künstler, mit einem punktartigen Horizont auszubilden, genauso wenig wie nur zweckgeleiteten Arbeitsweisen Beachtung zu schenken. Doch sollte genau hinterfragt werden, mit welchen Hintergedanken gelehrt wird und welche Tradition die Lehre trägt.
Es gilt auch offener zu hinterfragen, welche Stellung kulturelle Innovation heute hat und wie die Ziele des Studiums gesteckt sind, damit die Möglichkeit besteht, sich dazu zu verhalten und einen bewussten Umgang zu finden. Dabei wird man vermutlich auf eine derzeit häufig thematisierte Problematik stoßen, die darin besteht, dass es gegenwärtig nahezu unmöglich scheint, nicht kreativ sein zu wollen oder nicht nach dem Neuen zu streben (vgl. Andreas Reckwitz, „Erfindung der Kreativität“, Berlin 2012, S. 9 ff). Paradox ist, dass dieses Streben nach Fortschritt in der Kunst so präsent ist, obwohl es nicht darum gehen kann, ein endgültiges, optimales Ergebnis zu erzielen – dieser Drang scheint sich vielmehr durch die permanente Beschleunigung unserer Gesellschaft, das Übermaß ästhetischer Reize und das dadurch antrainierte Verlangen nach ständiger Abwechslung zu ergeben. Gleichzeitig gibt es ein Bedürfnis nach Entschleunigung und danach, die Zufriedenheit eines ‚Alpental–Bewohners‘ zurückzugewinnen, der „in unüberwindbarer Gesundheit und Rüstigkeit da [steht] und jedes Auge erfreut […]“ (Friedrich Nietzsche, „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ Stuttgart, 2009, S. 13).

Unsere Vorstellungen von Freiheit, Fortschritt und Identität müssen auch im Kunststudium erneut auf die Probe gestellt werden, denn momentan mündet die Möglichkeit zur Freiheit oft in einer Verpflichtung, selbst werden zu müssen – in einem Identitätswahn – und in einem vorbehaltslosen Gehorsam gegenüber Innovation. 
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