Friedrich von Borries

RLF

2013:Dec // Andreas Koch

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12-2013














Lieber reich ficken?
/ Der neue Roman von Friedrich von Borries „RLF“

Prolog
K. sitzt in einem Car-Sharing-1er-BMW. Ordentlich motorisiert, denkt er und gleitet mit knapp 200 Stundenkilometern auf der Autobahn von Berlin nach Dresden. Eben hatte er sich noch aus dem Schlafzimmer geschlichen, ohne Frau und Kinder zu wecken, jetzt dreht er die Anlage einen Tick lauter. Sphärischer Techno wummert im Auto. Er genießt diesen Moment. Er denkt an den Tag, der vor ihm liegt. Halbstündig werden junge, hauptsächlich weibliche Kunststudenten mit ihm den letzten Schliff ihrer im Kurs erstellten Portfolios durchsprechen. Sie hoffen mit ihren Mappen dann startfertig in ihre ungewisse Zukunft auszuschwärmen. Er hofft die Dokumente druckfertig mitnehmen zu können. Er hat keine Lust, noch viele Stunden daran zu sitzen. Der Sommer ist zu voll und läuft arbeitsmäßig aus dem Ruder. Noch hat er aber alles im Griff. An fünf Büchern arbeitet er zur Zeit parallel, als Grafiker, wie schon seit vielen Jahren, es läuft wirklich gut. Außerdem muss die nächste Ausgabe seiner Kunstzeitschrift fertig werden. Gestern bekam er das erste Rohmanuskript eines Romans zugeschickt. Warum nicht eine Rezension schreiben? Hat er noch nie gemacht. Das Thema interessiert ihn, Kapitalismus, Kunst, Revolution. Jetzt freut er sich aber besonders auf den Nachmittag nach dem Unterricht. Wie immer im Sommersemester in Dresden ist er mit seinem Freund P. verabredet, eine Runde Golf zu spielen. Abschlag 17 Uhr, traumhafter Platz, „Elbflorenz“. Er denkt an die Bilder von Canaletto. Die verwursten mittlerweile auch alles, aber für den Golfplatz ein passender Name.
In diesem Moment leuchtet eine orangene Leuchte im Armaturenbrett auf. Der Motor hat plötzlich keinen Zug mehr. Mist, nicht mal ein Standstreifen. Warnblinker an und zum Glück reicht seine Restgeschwindigkeit bis zu einer Nothaltebucht. Er ist merkwürdig ruhig, wird erst mal den Unterricht absagen, den ADAC anrufen. Alles im Griff.
Sein iPhone funktioniert nicht, kein Netz. Also Notrufsäule. Er drückt den roten Wählknopf. „Hallo, was kann ich für sie tun“, fragt die Stimme beruhigend. „Ich habe einen Motorschaden“, „Hallo ist da jemand, ich kann sie nicht hören“. K. jetzt lauter, er schreit „Ich habe eine Panne“, wieder „Ist da jemand?“. Die andere Seite legt auf. Kurz denkt er über seine Situation nach, kein Kontakt nach außen, sein Telefon tot, nicht mal diese vorsintflutliche Säule hilft ihm. Die Fäden der Zivilisation sind abgerissen. Er probiert es nochmals. „Wenn sie da sind, schlagen sie drei Mal kräftig auf die Säule.“ Er hämmert drei Mal auf die Sprechschlitze bis seine Hand schmerzt. „Ah jetzt höre ich sie“. Ein Faden ist wieder verknotet. Es wird nicht lange dauern, „Haben sie noch ein bisschen Geduld, warten sie nicht im Wagen, bleiben sie hinter der Leitplanke“ lautet die Anweisung.
Er nimmt das Buchmanuskript aus dem Auto und fängt an zu lesen. Dann merkt er, dass er dringend aufs Klo muss. Es war noch zu früh heute, als er das Haus verließ. Er sucht im Auto nach Tempos, Zewa, irgendwas, aber da ist nichts.
Nachdem er im tiefen Gras im Autobahngraben in der Lausitz kauerte, benutzt er die letzte Seite des Manuskripts, es ist die Dankes­seite …


Der oben abgedruckte Textauszug stammt nicht von Friedrich von Borries. Es ist eine selbst erlebte Geschichte, die den Stil von von Borries appropriiert. Appropriation ist ein Schlüsselbegriff nicht nur im neuesten bei Suhrkamp erschienenen Roman RLF von Borries (ich lasse aus ästhetischen Gründen das adelige „von“ von nun an weg), Appropriation scheint auch im sonstigen Leben des Autors eine große Rolle zu spielen. „Aneignungskunst. Sich Dinge einfach aneignen, weiterführen, verändern“ erklärt eine Hauptfigur des Buches, der Künstler Mikael Mikael einer anderen, dem Werber Jan, diese Technik des Kopierens. Beide Figuren sind genauso alt wie der Autor (Jahrgang 1974) und man kommt nicht umhin, im Laufe des Lesens sie als dessen Avatare, als seine Wunsch­identitäten (die Mehrzahl von Alter Ego hört sich komisch an) zu sehen. Das ist beim Romanschreiben, -lesen und -deuten nichts Besonderes. Borries geht jedoch weiter. Er schuf die Figur des Künstlers Mikael Mikael auch in der Kunstwelt, es existieren Arbeiten (zum Beispiel das im Buch beschriebene Plakat „Show you are not afraid“), Mikael stellt in Ausstellungen aus, die Borries selbst kuratiert hat, er tritt – wie im Buch – jedoch nie in Erscheinung. Auch anderes im Buch verschränkt sich stark mit unserem heutigen Leben, sei es, dass Borries Dinge aus der Fiktion des Romans in die Wirklichkeit transferiert, oder andersherum, dass er eine Vielzahl an realen Personen und Begebenheiten in den Roman hineinpackt. Ein Zeitgeistroman also, jedoch auch eine kulturwissenschaftliche Recherchearbeit, ein „Projekt“, vielleicht sogar ein Kunstwerk. Aber von vorne … die Geschichte ist schnell erzählt.
Jan, ein Werber, 39 Jahre alt, Frau und zwei Kinder, wohnhaft in Hamburg, Vielflieger, mit Kachelmannesken Flirt- und Internetbekanntschaften in aller Welt, einziger noch verbleibender Traum ist es, einen eigenen Porsche zu besitzen (natürlich fehlt im Buch nicht die Referenz zu Andreas Baader, dem Autonarr unter den Terroristen). Dieser Jan präsentiert in London eine Kampagne zu einem Turnschuh namens „Urban Force“. In der extrem lange ausfallenden Passage zu der Präsentation verwurstet der Werber natürlich alles, was zur Zeit an Revolutionsbewegungen um den Globus zieht, landet nach dem Erfolg seines „Pitches“ in einer Bar bei seinem Internetflirt Angelique, die ihn sogleich zu echten Riots mitnimmt. Er wirft ein H&M-Schaufenster ein, findet das geil, und rennt mit Angelique in einen Park zum Vögeln. Das liest sich, ähnlich meiner vorweg gestellten Passage, wie ein Bastei-Lübbe-Roman, durchwegs im Präsens geschrieben, gespickt mit Produkt-Gadgets, reduziert auf einfache Dialoge, Beschreibungen, Handlungen.
Aber weiter … Jan (Borries) hat die Idee, Revolution von der anderen, der bürgerlichen Seite zu denken. Wenn der Kapitalismus alles schluckt, was erst gegen ihn ist, dann muss man ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Man gründet eine Art Revolutions-Lifestyle-Agentur, verdient Geld und höhlt das System von innen aus. „Werde Shareholder der Revolution“. RLF ist der Name dieses Projekts. Jan findet weitere Mitstreiter, eben den Künstler Mikael Mikael und Slavia, mit der er natürlich auch im Bett landet („Küssen ist was für kleine Mädchen“) und diese Gründung zieht sich dann leider bis zum Ende des Buches.
Wäre der Roman nicht nur die Verpackung für eine Art kulturwissenschaftliche Recherche, die Borries in Form von real geführten Interviews mit Leuten wie Oliviero Toscani, Harald Welzer oder Stéphane Hessel und vielen lexikalischen Einschüben zu Begriffen wie „Spyware“ oder „Unsichtbares Komitee“ immer wieder einstreut, man würde das Buch schnell weglegen. Es geht ihm um das Thema Revolution oder präziser um die alte Adorno-Frage, ob ein richtiges Leben im falschen möglich sei. RLF ist somit das Kürzel für richtiges Leben (im) falschen.
Und diese Frage stellt Borries all seinen Interviewpartnern, die sich aus unterschiedlichen Kontexten herkommend alle mit dem Thema Gesellschaft und Veränderung beschäftigt haben. Der Mitideengeber der Occupybewegung, der Soziologe, der provokante Benetton-Fotograf, die Femen-Aktivistin usw. Diese Leute haben wirklich etwas zu sagen. Welzer zum Beispiel erteilt Borries’ Revolution-als-Produkt-Idee gleich eine Absage: dadurch würden gesellschaftliche Veränderungen eher verhindert werden und subversiv wäre es gleich gar nicht. Welzer ruft dazu auf, Adorno nicht dazu zu benutzen, gar nichts mehr zu tun („ist ja eh falsch“), sondern viel mehr das richtige Leben zu versuchen, sich und die Dinge ernst zu nehmen. Auch der mittlerweile verstorbene Hessel („Empört euch“) appelliert daran, nicht zu viel Energie in Werbung zu stecken, sondern Kunst und Wahrheit zu schaffen. Das klingt hier jetzt etwas pathetisch, aber genau dies will man die ganze Zeit Borries und seinen Figuren zurufen. Wenn man die Welt nur als Ansammlung von Produkten, Konsumenten, Werbern und Kapitalisten sieht, dann hat man zwar genauso Recht wie der Rechtsanwalt, der in jeder Handlung eine rechtlich geregelte Tat sieht, oder der Yoga-Lehrer, für den alles nur Körper ist, aber es ist eine extrem beschränkte Sicht.
Auch dies zeigt mein kleiner Vortext vielleicht. Er beschreibt zwar mich, aber so unzureichend, dass man in der Welt der Klischees, der Poser, der Statusabfrager landet. Alles und jeder wird in dieser Welt durch die mediale Brille gesehen: Werbung, Modelabels, Breaking News, Social Media, alles kommt in einen Topf, und der ist klein.
Borries setzt unserem überspiegelten Sein nur noch ein weiteres Bild vor und in diesem Zerrspiegel sehen wir alle hässlich aus. Und genau wie Karikaturen mit ihren überformten Nasen, Zähnen und Ohren alle immer gleich langweilig aussehen, liest sich das Buch über weite Strecken. Mikael Mikael und Jan sind sich viel zu ähnlich und haben sich außer neuen Produktideen nichts zu sagen. Die „Marketing“-Idee von Borries ist es, über die real existierende RLF-Website oder über im Buch erwähnte Freunde und Bekannte (z.B. Andreas Murkudis), viele mit Camouflage-Optik lackierte Marken-High-End-Design-Objekte zu verkaufen. Im Buch soll das Geld dann dazu dienen, eine außerstaatliche Mikronation zu gründen. Mehr Ideen gibt’s eigentlich nicht.
Am Ende hat man den Eindruck, Borries mit seinem vielfach gefälschten Leben (ob im richtigen oder falschen ist einem eigentlich egal), als Architekt, Kulturforscher, Professor, Kurator, Künstler, Autor, Think-Tanker spielt all diese Rollen nur. Spätestens hier fällt einem der andere Bobo-Suhrkamp-Autor ein, Rafael Horzon. Im Gegensatz zu Borries betreibt dieser sein Spiel jedoch mit großem Ironievorsprung (was allerdings auf Dauer auch ermüden kann), und der Vergleich Horzon/Borries lässt den RLF-Gründer noch etwas schaler zurück. Dieser meint es nämlich todernst. „Auf allen Ebenen werden wir mit Euch den Aufstand proben: hier auf dem Resistance-Ticker, auf Facebook, Twitter, Tumblr, in einem interaktiven Game sowie bei unseren Events und Aktionen“ so die RLF-Propaganda-Website (unter den ersten Events auch eine erste Produktvorstellung in Johann Königs Kirche). Es wird jedoch nie klar, wogegen eigentlich revoltiert werden soll, wie das durch „Shoppen für die Revolution“ erworbene Geld verwendet werden soll, was nach dem „Umsturz durch Überaffirmation“ passieren soll, wie dieser überhaupt vonstatten geht.
Man kann das ganze gesponnene RLF-Netz eigentlich nur als Ausweitung der vielfältigen Egozonen von Borries betrachten. Nichts gegen die vielen Berufe, gar nichts, aber man wünscht Borries, dass er sich etwas Naivität und Glauben (nicht religiös gemeint) zurückholen kann und irgendwo seine abgeklärte, zynisch getönte Meta-Role-Model-Brille inklusive Scheuklappen verlegen wird und nie mehr wiederfindet, vielleicht dann in seiner noch zu schaffenden Kommune. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass er sich mit dem ergatterten Geld endlich seinen Porsche kaufen wird und so dem nächsten Projekt entgegenbraust.    

Friedrich von Borries, „RLF“, Suhrkamp Nova, 252 Seiten,
erschienen am 19.8.2013,
siehe auch Niele Büchners Besprechung der Ausstellung „Fiktion und Realität“, kuratiert von Friedrich von Borries Seite 44


Epilog
K. sitzt im Speisewagen des ICE. Das sommerliche Hochwasser treibt den Zug gen Süden über Thüringen. Er klappt sein altes weißes MacBook auf. Eigentlich schauen darauf nur noch seine Kinder am Wochenende Jim Knopf und Pippi Langstrumpf. Er hat es schon ewig nicht mehr benutzt. Den letzten Monat las er das Rohmanuskript und er hatte sich darüber einige Gedanken gemacht. Immerhin schafft das Buch das, denkt er, obwohl ihm beim Lesen meist leicht übel war. Jetzt schreibt er seine Rezension im Zug. Es sind die einzigen Stunden, die er freischaufeln konnte. Passt, denkt K., Borries saß bestimmt auch oft im ICE Hamburg-Berlin und schrieb das Buch. Ein ICE-Buch und eine ICE-Besprechung. Der Zug bleibt in Naumburg/Saale stehen. „Wegen Unwettern ist die Strecke nach Frankfurt sowie der Bahnhof Frankfurt bis auf Weiteres gesperrt“, heißt es. Wieder eine Panne. K. bleibt erneut relativ ruhig. So kann er eben in Ruhe weiterschreiben, denkt er, während sich im ausverkauften Zugrestaurant um ihn herum eine sich mit Netto-Bier und Call-a-Pizza versorgende, E-Zigaretten-rauchende, Karten-spielende fast prä-apokalyptische Gesellschaft formiert. 
Montage: Andreas Koch (© )
Baader, Borries, Porsche (© Andreas Koch)
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