Die Flüchtigkeit der Dinge

2022:Mai // Lisa Kampschulte

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05-2022

Ich sitze an einem Sonntagnachmittag im Februar auf dem Großen Bunkerberg des Volksparks Friedrichshain in Berlin. Die Sonne wärmt meinen ummantelten Körper, während die kalte Luft meine Augen zu Tränen rührt. Ich muss blinzeln. Menschen haben sich am Mauerrand des runden Plateaus versammelt und sind in Zweisam-, Dreisam- oder Vielsamkeit vertieft. Die kahlen Äste der dichten Bewaldung eröffnen ein Panorama auf die entfernteren, nicht greifbaren Dinge. Für einen kurzen Augenblick tauche ich ein in die neblig-sonnige Silhouette der Hauptstadt und treibe in seltener Unendlichkeit. Ich sehne mich plötzlich nach einer Freiheit, die jenseits der Stadtgrenzen und asphaltierten Straßen auf mich wartet. So vermute ich jedenfalls, denn hier dominieren Dinglichkeiten und Dringlichkeiten den Rhythmus, in dem ich jeden Tag meine Weite und menschliche Nähe suche.
Gläserne Fassaden, animierte Oberflächen, Werbeplakate und die Hüllen der Leute erinnern an das vermeintlich Unabdingbare und das Unbedingte. „Ich bin von Dingen irritiert, werd’ von Dingen informiert“ und „Wer Dinge hat, muss Dinge zeigen. Dinge bring’n zum Schweigen“1, dringen Deichkinds Strophen über die Kopfhörer in meine Ohren. Ich betrachte mich mit kritischer Distanz und spüre, wie mein pelzanmutender, bodenlanger Mantel mir ein wohliges Gefühl der Unantastbarkeit schenkt. Er bietet Schutz und Halt wie die eigenen vier Wände, hinter denen ich meine Hüllen fallen lassen kann. Er ist Flucht vor der urbanen Anonymität und zugleich Sucht, welche mich täglich einholt. Der Mantel befriedigt mein Verlangen nach kurzweiliger Aufmerksamkeit und knisternden Augenblicken. „Oh, oh, oh, du hübsches Ding. Du bist Queen und ich bin King. Wenn ich dich seh’, dann muss ich sing’: Tingalingaling, you pretty thing!“2, singt Seeed. Ein kurzer Rausch überkommt mich in der Vorstellung, von der Welt begehrt zu werden. Doch erlebe ich keine befreiende Weite oder fühle wärmende Nähe. „Dinge geben Kingdom, Dinge nehmen alles“3, fährt Deichkind fort. Sie geben Macht und täuschen Unverletzbarkeit vor, doch nimmt die überhöhte Wichtigkeit unserem Miteinander emotionale Tiefe und Menschlichkeit. Wie unsichtbare Grenzen markieren Dinge Territorien der Zugehörigkeit und der Exklusion und errichten Mauern zwischen dir und mir.
Ich kehre mit meiner Aufmerksamkeit in die Parkszene zurück. Die Hälfte der Gäste hat ihren Fokus in den Kreis gerichtet und folgt beobachtend den vorausspazierenden Hunden, neu eintretenden Personen und ausgelassenen Kindern. Immer wieder wird die Mitte des Plateaus zur Bühne des Alltags, welche die Jüngsten am besten zu bespielen wissen. Langsam drücke ich mich mit meinen frierenden Händen von der steinigen Sitzfläche ab und stehe nun auf beiden Füßen. Mein Blick verlässt das Schauspiel und flüchtet über ihre Köpfe an den Horizont, wo ihn der Fernsehturm wieder einfängt. Ich verharre für eine Gedankenlänge in den Wolken. Als Symbol der ehemaligen DDR, der Wiedervereinigung und heute einer internationalen Metropole erfuhr diese spargelförmige Konstruktion große Systemumbrüche und Bedeutungswandel. Ich erinnere mich zurück an die Theorie der Zeichen, der Semiotik, die sich mit der Deutung von Objekten auseinandersetzt. Eine ihrer bekanntesten Schriften ist Der Eiffelturm (1964), in der Roland Barthes, französischer Literaturkritiker und Philosoph, das Wahrzeichen analysiert. So ist der Turm letztlich ein fassadenloses, leeres Stahlskelett. Doch die Geschichte, das omnipräsente Bewerben und die Träume der Menschen füllten ihn mit scheinbar unersetzlichem Wert.
„Der Turm ist eine Frau, die über Paris wacht, die Paris zu ihren Füßen versammelt hält; sitzend und stehend zugleich inspiziert und schützt, überwacht und behütet sie sie“4, beschreibt Barthes die Dame aus Eisen. Auch mein Verhältnis zum Berliner Anziehungspunkt wird zunehmend intensiver, auf eine Art verbindlicher, und meine Idee vom Dinglichen immer schwammiger. Wo ich auch hinblicke, er ist da und schielt schüchtern zwischen Häusern hervor, steht selbstbewusst im Fluchtpunkt von Straßen oder ragt einsam über den Dächern empor. Sticht der Fernsehturm mir ins Auge, streben meine Mundwinkel nach oben und ich nicke ihm anerkennend zu. Roland Barthes fühlt, „mit ihm zusammen bilden wir alle eine bewegliche Figur, deren festes Zentrum er [der Eiffelturm] ist: Der Turm ist freundschaftlich.“5 Mir gefällt diese Vorstellung, denn sie macht die große Stadt greifbarer und persönlicher. Wie mit einem vertrauten WG-Mitglied auf der Couch oder umarmt von einem warmen Mantel wirkt Berlin plötzlich so nah.
Ich realisiere, dass meine Freiheit dort beginnt, wo wir die Mauern zwischen uns abbauen und ein Miteinander schaffen, in welchem jede einzelne Person ihre Weite findet. Die gesynthesizte Stimme von 3Plusss wiederholt sich wie ein Mantra in meinem Kopf: „Wichtig ist nur, was die Dinge mit dir tun.“6 Ich entscheide mich, ihnen weniger Raum zu geben, weniger Macht, über meine Gefühle zu bestimmen, und streife meinen Mantel vorsichtig ab.


1
https://genius.com/Deichkind-dinge-lyrics, 2019
2
https://genius.com/Seeed-ding-lyrics, 2005
3
https://genius.com/Deichkind-dinge-lyrics
4
Roland Barthes, La Tour Eiffel, Delpire éditeur, 1. Auflage, Paris 1964, S. 21 [Übersetzung der Verfasserin].
5
Roland Barthes, Der Eiffelturm, Suhrkamp, 1. Auflage, Berlin 2015 (franz. Original: 1964; Übersetzung: Helmut Scheffel), S. 10.
6
https://genius.com/3plusss-dinge-lyrics, 2022