Unbeachtete Produktionsformen

2022:Mai // Anna-Lena Wenzel

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05-2022

1982 wird im Künstlerhaus Bethanien die Ausstellung Unbeachtete Produktionsformen gezeigt, eine Kooperation mit der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt „Unbeachtetheiten in ihren mannigfaltigen Formen aus dem Bereich weiblicher Kultur […] in ihrer Prozeßhaftigkeit für einen Moment fest[zu]halten und ins Blickfeld [zu] rück[en].“



Versuch einer Aktualisierung:
— Die Künstlerin, die für ihre politische Haltung bekannt und geschätzt ist, wird häufig von Institutionen eingeladen, für die Dauer einer Ausstellung partizipative Kunstprojekte zu realisieren. Auch wenn sie sich über die Einladungen freut, wundert sie sich immer wieder, was für Erwartungen die Kurator*innen haben. Sie sagt: Der Aufbau von Kontakten in die Nachbarschaft und das Etablieren eines Ortes als Treffpunkt sei Knochenarbeit. Da müsse man täglich präsent sein. Für die begrenzte Dauer einer Ausstellung sei das Wahnsinn, das müsse man langfristig anlegen und dafür sorgen, dass Ort und Personal kontinuierlich gesichert seien. Leider sei dafür im projektbasierten Ausstellungs- und Fördersystem oft kein Geld da.

— Der Künstler veranstaltet im Dorf ein Backfest. Dafür bringt er den Verein zusammen, der das Backhaus betreut, er organisiert das Brotbacken, verteilt Aufgaben, putzt den Ofen und ist am Tag des Festes den ganzen Tag vor Ort, um Brot zu verkaufen und mit den Leuten zu schwatzen. Er hat damit eine Woche zu tun. Er glaubt, dass niemand so richtig sieht, wie viel Arbeit das eigentlich ist.

— Das Literatur-Magazin nimmt sich ausführlich Zeit für die Auswahl der Beiträge der nächsten Ausgabe. Die Texte werden sorgfältig lektoriert und kommentiert, den Autor*innen wird ein Feedback gegeben. Redaktionelle Überlegungen, eine wertschätzende Kommunikation der Herausgeber*innenschaft und ein konstruktives Lektorat bleiben normalerweise unsichtbar – es sei denn, man macht es explizit zum Thema wie das Magazin.

— Die Bühnenbildnerin achtet darauf, bei ihren Produktionen gebrauchtes Material wiederzuverwenden und im Anschluss zu recyceln, statt alles neu zu bauen und zu basteln. Die zugrundeliegende Recherche und anschließende Entsorgung kosten mehr Zeit, als wenn man neues Material bestellt und es anschließend einfach entsorgt. Honoriert wird der extra Aufwand jedoch nicht, die Bühnenbildnerin muss selber abwägen, was ihr wichtiger ist.

— Für ein Kunstprojekt kehrt die Künstlerin in das Dorf zurück, in dem sie groß geworden ist. Für mehrere Monate richtet sie sich ein Büro ein und zieht in das leerstehende Gemeindehaus. Ihr Projekt ist partizipativ angelegt und geht mit einem erheblichen Kommunikationsaufwand einher. Es geht um das gemeinsame Produzieren von konkreten Arbeiten, aber auch um sozial-psychologische Effekte, die weder messbar noch ausstellbar sind, weil sie z.B. das Gemeinschaftsgefühl betreffen. Die Künstlerin fragt sich: Wie kann man diese Arbeit vermitteln?

— Das Theater-Festival will internationale Gäste einladen. Der Chef ist begeistert, freut sich alle zusammenzubringen und zu vernetzen. Die Mitarbeiterin bemerkt, dass die Gäste auch betreut werden müssen, dass man sie unterbringen, sie mit Informationen versorgen und mit ihnen unterwegs sein muss, um ein guter Gastgeber zu sein. Wer soll dies zusätzlich zu seinen Aufgaben erledigen? Der Chef verdreht die Augen.

— Der Projektraum möchte eine Residency für internationale Künstler anbieten, das klingt immer gut, ist etwas, mit dem man sich bei Bewerbungen und Verhandlungen schmücken kann etc. Doch wird selten mitgedacht, wie viel Arbeit es ist – die Ausschreibungen müssen übersetzt werden, es muss ein Auswahlverfahren und eine Jury bezahlt werden, ein Raum so eingerichtet werden, dass man darin wohnen und arbeiten kann. Die Gäste müssen zudem betreut werden, brauchen Ansprechpartner*innen und im besten Fall das Gefühl, dass man sich für sie und ihre Arbeit interessiert. Wer übernimmt/finanziert das?

— In der Kleinstadt nimmt sich das Theaterkollektiv Zeit für einen Plausch mit dem Techniker des Hauses, mit der Frau vom Kulturbüro, die für die Bearbeitung ihrer Anträge zuständig ist, mit den Menschen, die sie auf der Straße treffen und von früheren Performances oder Gesprächen kennen. Sie widmen diesen Menschen Zeit und Aufmerksamkeit, kostbare Güter, die in ihren Familien und Städten, in denen sie wohnen, rar sind. Bei Förderanträgen sind für diese Art von Arbeit keine Honorare vorgesehen. Was dagegen häufig zählt, sind die hohe Qualität der künstlerischen Arbeit und die Strahlkraft des Projektes über die Stadt hinaus. Aber es tut sich was: Das Kollektiv hat während der Pandemie eine Rechercheförderung erhalten und nun zum ersten Mal Gelder für Supervisionsstunden bewilligt bekommen.

— Als Kuratorin einer Gruppenausstellung übernimmt man eine Vielzahl an Aufgaben: kommuniziert mit Künstler*innen und den Ausstellungsorten, ggf. mit Leihgebern und Förderern. Man macht Atelierbesuche bei den Künstler*innen, überlegt sich ein Konzept oder eine thematische Rahmung, gestaltet den Raum oder entwirft ein Display. Man organisiert ein Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm und kümmert sich um die Aufsichten. Man sammelt CVs zusammen und formuliert Ausstellungs-, Presse- und Ankündigungstexte etc. Ob sich der betriebene Aufwand und die Sorgfalt am Ende im Ergebnis ablesen lassen?

— Die Lehrbeauftragte an der Universität wird nur für die Semesterstunden bezahlt, aber nicht für die Vorbereitung und Nachbereitung, geschweige denn für die Betreuung der Studierenden. Bei jeder Mail, die sie vor und nach ihrem Seminar schreibt, muss sie überlegen, ob sie sich das leisten kann – Lob zu äußern, auf individuelle Probleme (z.B. Class-Gender-Race-Issues) einzugehen, konstruktive Verbesserungsvorschläge zu machen, ist nicht vorgesehen. Für die Auszeichnung/Einschätzung als Exzellenz-Uni zählen andere Kriterien.

— Das Archivprojekt möchte die Stimmen von margina­lisierten Personen sicht- und hörbar machen. Die Ini­tiator*innen wissen, wie viel Vertrauensbildung und Überzeugungsarbeit nötig ist, um diese Personen zu ermutigen, ihre Geschichten zu erzählen und offen zu sprechen. Allein schon die bildungsbürgerliche Institution zu betreten, in der die Gespräche für das Archiv stattfinden, ist alles andere als selbstverständlich. Es wird viel Zeit darin investiert, ein diverses Team zusammenzustellen und Kooperationspartner aus aktivistischen Kontexten und den Communities zu gewinnen. In welchem Verhältnis steht die jahrelange Arbeit, die in dieses Projekt fließt, zum Ergebnis? Welche Projekte können sich eine solche „langsame“ Arbeitsweise leisten?

— Eine öffentlich geförderte Institution führt ein großes Spektakel an einem stillgelegten Ort auf. Alle Leute posten Fotos vom Ort, niemand vom Spektakel. In zwei Artikeln wird auf die Hausmeister verwiesen, die diesen Ort in Schuss halten und die Ausstellung möglich gemacht haben. Ich frage mich: Braucht es das Spektakel oder würde es ausreichen, den Ort und die Care-Arbeit der zwei Hausmeister in den Mittelpunkt zu stellen, sowie die ganzen Anträge, Bewilligungen, E-Mails sichtbar zu machen, die es bedarf, um einen solchen Ort zu aktivieren?

— Die Musikerin und Lyrikerin mit Hang zum Burn-out schreibt: „Ich muss sehr viel Arbeit investieren, um auf mein eigenes Verhalten zu achten, und umso mehr, wenn ich hoffe, es zu ändern. Das ist künstlerisches Handwerk. Die Arbeit, die ich an mir selbst leiste, mag vielleicht in meinen alltäglichen Begegnungen nicht auf den ersten Blick sichtbar werden, aber wenn ich damit weitermache, hoffe ich, dass mein Handeln Stück für Stück auch meine veränderte Denkweise reflektiert, und beim nächsten Mal schätze ich, mache ich es anders. Die eigenen Unzulänglichkeiten in den Griff zu bekommen, ist keine Sache von fünf Minuten; es dauert ewig.“