Georges Perec

Die Dinge

2022:Mai // Marc Wellmann

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05-2022


Der Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec (1936–1982) erhielt für seinen 1965 erschienenen Debütroman Die Dinge: Eine Geschichte der sechziger Jahre den „Prix Renaudot“ und wurde auf der Grundlage dieser Anerkennung rasch berühmt. Das relativ schmale Buch befindet sich vom Umfang her an der Grenze zur Novelle und handelt von einem glücklosen Paar, Jérôme und Sylvie, das sich den ökonomischen und kulturellen Zwängen der Warenwelt unterwirft. Ihre einzigen sozialen Bestrebungen sind auf den Erwerb von Objekten ausgerichtet, bzw. auf die Zurschaustellung des Besitzes als Ausdruck einer gesellschaftlichen Rangordnung. Die Erzählung wurde erstmals 1966 von Eugen Helmlé ins Deutsche übersetzt. Eine von ihm selbst noch überarbeitete Neuauflage erscheint 2016 im Züricher Diaphanes-Verlag. Das Buch wird häufig im Kontext einer Kapitalismuskritik herangezogen, da es nicht nur Karl Marx‘ Theorie des Warenfetischismus in eine Romanform überträgt, sondern als Wegbereiter der von Pierre Bourdieu in Die feinen Unterschiede (1979) erarbeiteten Begrifflichkeit des kulturellen und symbolischen Kapitals gilt. Wesentlicher Impulsgeber für Perec war die Lektüre von Roland Barthes Mythen des Alltags (1957).
Jérôme und Sylvie ist eine miteinander verschmolzene Figur. Das Paar agiert nie einzeln, wodurch Perec eine Identifikation mit ihnen durch die Lesenden verhindert. Sie bleiben völlig gesichtslos ohne ein nachvollziehbares Innenleben. Beide haben ihr Soziologiestudium abgebrochen und erstellen Meinungsumfragen und Marktanalysen in der Werbebranche. Sie arbeiten also für genau jene Konsumindustrie, die für ihre eigene wachsende Entfremdung verantwortlich ist. Doch sie verdienen für die erzeugten Bedürfnisse letztlich zu wenig Geld, und die im Roman stets wiederkehrende Frage ist, wie man sich all die Dinge überhaupt leisten kann, die Ausdruck gesellschaftlichen Erfolgs zu sein scheinen. Letztlich fehlt dem Paar nicht nur das finanzielle Kapital, sondern auch das kulturelle, da sie ­ihrer Herkunft aus dem kleinbürgerlichen Mittelstand nicht entkommen können. Ihre Flucht aus den „Gefängnissen des Überflusses“ führt sie am Ende in die Provinz, wo die Lebenserhaltungskosten niedriger sind, und wo sie eine wohlsituierte, aber langweilige Existenz erwartet. Der Erzählfaden bricht hier ab.
Die Handlung des Romans spielt in drei verschiedenen Zeitformen. Der erste Teil, der eine sehr lange Beschreibung der Wohnungseinrichtung des jungen Paares enthält, ist im Irrealis geschrieben und beginnt mit dem Satz: „Zuerst würde der Blick über den grauen Teppichboden eines langen, hohen und schmalen Korridors gleiten. Die Wände wären Einbauschränke aus hellem Holz, deren Messingbeschläge glänzten. Drei Stiche – der eine stellt Thunderbird dar, Sieger in Epsom, der andere einen Schaufelraddampfer, die Ville-de-Montereau, und der dritte eine Lokomotive von Stephenson – würden zu einem von großen, schwarz gemaserten Holzringen gehaltenen Ledervorhang führen, der sich durch eine einfache Handbewegung zurückschieben ließe.“ Das seitenlang ausgeführte Dingbegehren beschreibt nicht das wirkliche Apartment des Paars. So sähe es aus, wenn sie mehr Geld hätten. Der Mittelteil, in dem sie sich im Zusammenhang des Algerien-Krieges, phasenweise und zögerlich beginnen, politisch zu interessieren, ist dann im Präteritum verfasst. Und der Epilog, der das zukünftige Leben des Paares in der Provinz entwirft, hat im Futur die dazu entsprechende Zeitform. Am Ende des Epilogs ist ein Zitat von Karl Marx zu lesen, das Perec in einem kunsttheoretischen Aufsatz über das Montageprinzip Sergej Eisensteins gefunden hatte: „Zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muss selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreute Glieder sich im Resultat zusammenfinden.“ Im Fall der Geschichte von Jérôme und Sylvie wird die finale Wahrheit als eine existentiell freudlose beschrieben: „Es wird kein Reichtum sein. … Man wird ihnen ein paar Brotsamen übrig lassen, für den Lebensstandard, die Seidenhemden, die Schweinslederhandschuhe. Sie werden etwas darstellen. Sie werden gut wohnen, gut essen, sich gut kleiden. Sie werden keinen Grund zur Klage haben.“
So sehr die im Roman präsentierten Ding-Codes aus der Zeit gefallen scheinen, so einfach ließe sich eine geupdatete Version davon in einem heutigen Appartement in Berlin von einem jungen New Economy-Paar vorstellen, das die Zeitschrift Wallpaper* liest, im Concept Store einen Wintermantel einkauft und „demokratisierte“ Kunst von der MISA.art-Website von Johann König begehrt. „Die Dinge“ sind ein höchst einflussreiches Buch, von dem sich unter anderem Verbindunglinien zu dem exzessiv vorgetragenen Markenfetischismus in den Romanen von Bret Easton ­Ellis, etwa Less than Zero (1985) und American Psycho (1991), ziehen lassen und in dem sich die totalitäre Trostlosigkeit im Denken von Michel Houellebecq ankündigt.

Georges Perec, Die Dinge, Übersetzt von Eugen Helmlé,
Broschur, 120 Seiten, Diaphanes Berlin / Zürich, 2016


Georges Perec während Dreharbeiten zu dem Film „Les Lieux d’Une Fugue“, 1978