Onkomoderne

Anthroposaurus Rex

2013:May // Christina Zück

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05-2013
















Onkomoderne
 / Anthroposaurus Rex

„WIR sind die Hautkrankheit der Erde“ stand bis vor kurzem auf einer Tafel an der Brandmauer am S-Bahnhof Savignyplatz. Ich hatte sie einmal aus der fahrenden Bahn heraus fotografiert, sie gehörte zur Wandbildgalerie „Weltenbaum II“, eines großflächigen Reliefs, das einige bekannte Künstler dort 1986 als Mahnmal gegen die Missachtung der Natur installiert hatten. Jetzt ist die Plakette verschwunden, zu sehen sind noch Überreste der großen Yggdrasil-Skulpturen und ein paar weitere Lebensweisheiten – eingefasst und neu interpretiert werden sie inzwischen von Grafitti-Übersprühungen. Anfang Januar fiel in der Einöde der urbanen Verständlichkeit die HKW-Plakatkampagne ins Auge, die die Eröffnungskonferenz des Anthropozän-Projekts bewarb. Sie zielte auf die Verwirrung des Betrachters und verzichtete auf eine altmodische Wenn-der-letzte-Baum-gefällt-ist-Rhetorik, obwohl, soweit ich es am Ende der Anthropozän-Konferenz verstehen konnte, genau so etwas gemeint war. Das bunt bemalte Menschengesicht auf den Plakaten, das zwischen Tier, Eingeborenem und Außerirdischem schwankte, erinnerte an die Fußballfans, die sich mit den Nationalfarben ihres Landes maskieren. Der noch nie gehörte Begriff „Anthropozän“ ließ zuallererst Sedimente vergangener Ausstellungsthemen wie „Das nackte Leben“, „Multispecies“ und „Animismus“ heraufspülen, später würden sich aus ihm neue kulturelle Projekte mit Titeln wie „Noosphäre“ oder "Geoontologies" generieren lassen.

Die Erdgeschichte ist in einen neuen Zeitabschnitt eingetreten: das Anthropozän löst nach 11.700 Jahren nun das Holozän ab. Die geowissenschaftlich zu beobachtenden Gegebenheiten des Planeten Erde haben sich so sehr verändert, dass man daraus stratigraphische Konsequenzen ziehen und ein neues Zeitalter hinzufügen muss. Die Anthropozän-These legt nahe, dass die Menschheit inzwischen die Wirkung einer geophysischen Kraft erlangt hat. Ähnlich einem Vulkanausbruch oder einem Meteoriteneinschlag hat sie bereits das Klima der Erde beeinflusst und kann gar in das Planetensystem eingreifen. In der mehrtägigen Konferenz im Haus der Kulturen der Welt Mitte Januar waren Spezialisten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften eingeladen, um Lobbyismus für die Anthropozän-These zu betreiben – es sollte nicht um ein interessengeleitetes Anliegen gehen, sondern um wissenschaftlich nachweisbare Argumentationen, um einen Strukturwandel im Denken von – ja wem? – zu erreichen. Im Publikum fanden sich die üblichen neurasthenischen Theoriefans, Leute, die ganze Tage auf Konferenzen verbringen und die sowieso ganz weit vorne in der superflexiblen Anpassung an die neuesten theoretischen Inputs sind, also nicht „wir“, von denen zumeist die Rede war, nicht die Menschheit und nicht die Verantwortungsträger aus Wirtschaft und Politik.  

Der Klimaforscher Will Steffen, der lange mit Paul Crutzen, dem Schöpfer des neuen Begriffs, im International Geosphere-Biosphere-Programm zusammengearbeitet hat, erklärte in seiner Keynote, wie aus antarktischen Eisbohrkernen bis zu 40.000 Jahren alte Sedimente gewonnen werden können, anhand derer man die Klimageschichte der Erde untersuchen kann. In der Anthropozän-Forschungsgruppe trugen sie Statistiken und Forschungsergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen wie Sozialgeschichte, Ökonomie, Klimaveränderung, Geologie etc. zusammen und werteten sie in hunderten Diagrammen mit angeglichener Timeline aus. Dabei fiel auf, dass die meisten Kurven in den letzten Jahrzehnten steil nach oben anstiegen. Entwicklungen, die vorher stabil verliefen, explodierten um 1950, der Planet wurde regelrecht aus dem Holozän-Muster herausgeschossen. Die Forscher benannten diese Phase „The Great Acceleration“. Studien ausgestorbener Kulturen hatten ergeben, dass nach klimatischen Veränderungen, zum Beispiel großen Dürreperioden, ein Teil der historischen Eingeborenenstämme nicht verschwanden, sondern sich den neuen Umweltbedingungen anpassten. Will Steffen betonte, dass unser Schicksal angesichts der gefährlich veränderten Natur dadurch entschieden werden kann, in wieweit wir in der Lage sind, uns selbst zu organisieren und unsere Wertvorstellungen neu zu gestalten. Um die bedrohliche Zukunft zu bewältigen und den Transformationsprozess zu unterstützen, sind neben den Naturwissenschaften besonders auch die Geisteswissenschaften notwendig, um aufzuzeigen, wie menschliches Verhalten und physikalische Veränderungen miteinander verkoppelt sind. Krisen treten auf, wenn Gesellschaften verkennen, dass ihre Grundwerte unwirksam geworden sind: in der westlichen Welt sind wir an dem Punkt angelangt, wo Werte wie Wirtschaftswachstum und Konsumsteigerung gescheitert sind. Die wesentlichen Erzählungen der Menschheitsgeschichte drehen sich um Krisen, Kriege, Katastrophen und die Notwendigkeit, ständig unsere Anpassungsmuster zu ändern. In der erstarkenden Fähigkeit zur Resilienz sieht Steffen einen Hoffnungsschimmer.

Jan Zalasiewicz, Paleobiologe und Geologe, erläuterte in einem Dialog mit dem Wissenschaftshistoriker John Tresch die Bedeutung der Stratigraphie, der Erforschung der Sedimente im Erd- und Meeresboden und an fossilen Abdrücken, für die Weiterentwicklung der Anthropozän-These. Zalasiewicz arbeite in einer Anthropozän-Arbeitsgruppe für die Stratigraphic Commission of London, um Indizien zu sammeln, ob das Anthropozän geologisch überhaupt zu rechtfertigen sei. Aktuell liegen so viele Nachweise vor, dass man seinen Beginn auf 1950 festlegen kann: von diesem Zeitpunkt an tauchen zum Beispiel Radionuklide in den Bodenablagerungen auf. Wenn das Anthropozän tatsächlich eingetreten ist, sollte es durch allgemeingültige Parameter präzise und wissenschaftlich definiert werden können. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe müssen einer nächsten Hierarchieebene vorgelegt werden, der Subcommission on Quarternary Stratigraphy. Falls diese den Antrag akzeptiert, wird er an die International Commission on Stratigraphy weitergeleitet, die in einem Abstimmungsverfahren darüber entscheiden soll. Die Entscheidung muss schließlich von der International Union of Geological Sciences ratifiziert werden, die den Antrag immer noch ablehnen kann. Die geologische Zeitskala zu ändern, ist ein langer bürokratischer Prozess, denn sie bildet das Rückgrat der Geowissenschaft, die für 4,6 Milliarden Jahre Erdexistenz einen unveränderlichen Zeitmaßstab benötigt. Zalasiewicz nennt das Anthropozän eine „Hooligan-Epoche“ – in ihr verändern sich alle Bedingungen komplett?–, die der Skala nun hinzugefügt werden muss. Während dieser langwierigen Antragsstellung dürfen die Wissenschaftler weder als interessengeleitet noch als alarmistisch erscheinen, obwohl die Auswirkungen der kosmischen Transformation doch sehr angsterregend sind. Falls die Änderung der Zeitskala durchgesetzt wird, kann sie in vielen Bereichen sehr hilfreich sein, zum Beispiel um neue Gesetze zu machen: das Seerecht beruht immer noch auf einem stabilen Ökosystem und nicht auf veränderlichen Gegebenheiten. Wenn bestehende Gefüge sich auflösen, kann es zu chaotischen Zuständen kommen, bessere gesetzliche Rahmenbedingungen können darauf flexibler reagieren. John Tresch bemerkte, dass einer der am höchsten geachteten Werte der Gesellschaft die Objektivität und Neutralität der Wissenschaft ist, und dass es sich als sinnvoll erweist, physische Veränderungen mit wissenschaftlich objektiven Mitteln darzustellen, um rückwirkend ihre Ursachen analysieren zu können. Letztendlich kann die Naturwissenschaft in Kombination mit der Geisteswissenschaft erkennen, dass die geophysische Umgestaltung seit 1950 durch neu entstandene kulturelle Werte wie Konsumsteigerung, ungebremstes Wirtschaftswachstum und unbegrenzte Kapitalakkumulation verursacht wurde. Wir müssen unsere kulturellen Werte ändern, sagen viele Leute außerhalb der Wissenschaft, und nun kann die Wissenschaft durch ihrer Unparteilichkeit und kulturelle Autorität diese verdächtigen Forderungen mit Nachdruck bestätigen.

Aus einer kulturwissenschaftlichen Sichtweise heraus versuchte der Historiker Dipesh Chakrabarty in seiner Keynote „History on an Expanded Canvas“ die verschiedenen Ebenen der Erzählungen, die in der globalen Klimakrise aufeinanderprallen, miteinander in Beziehung zu setzen: die Geschichte des Geosystems Erde, die Geschichte seiner Lebensformen und die im Verhältnis dazu kurze Geschichte der Menschheit, die nun im industriellen Lebenstil und der Ungleichheiten des Kapitalismus gipfelt. Chakrabarty entkoppelte die Klimakrise von der kapitalistischen Ausbeutung, als deren Auswirkung sie in der populären Wahrnehmung zumeist erscheint. Die Klimaerwärmung besitzt jedoch eine Kausalitätslogik, die sich unabhängig von der sozialen Ungerechtigkeit entwickelt hat. Eine sozial gerechte Welt würde weiterhin von fossilen Brennstoffen abhängig sein, und die Klimakrise würde wesentlich schwerwiegender ausfallen, wenn weniger Menschen arm wären. Der größte Teil der Treibhaus-Emissionen wird von nur einem Fünftel der Menschheit ausgestoßen. Die Frage „Was sollen wir alle tun?“, die sich angesichts der Bedrohung immer wieder stellt, erscheint wohlgemeint und sehr idealistisch – Menschen werden jedoch niemals eine funktionierende politische Einheit erreichen. Entscheidungen werden auch in Zukunft Konflikten, Debatten, Meinungsverschiedenheiten und Gewaltausbrüchen unterworfen sein. Je mehr sich der Planet erwärmt, desto mehr wird sich die Geschichte der menschlichen Evolution dem Überleben der Arten in den Weg stellen. Das organische Leben, das sich einst sehr langsam entwickelte, wird zum bestimmenden Faktor der anorganischen Umwelt. Die Menschheit wird jedoch von der Klimakrise wieder aus dem Maßstab geworfen werden. Sie wird mit dem Problem der geschichtlichen Maßstäbe, die durch die Krise ins Blickfeld treten, umgehen lernen müssen. Das Heraufbeschwören des größeren „Wir“ wird sie nicht politisch eins werden lassen. Und weil sie politisch nicht eins sein wird, wird die Geschichte zwischenmenschlicher Ungleichheit und des Gemeinwohls weiterhin relevant und notwendig bleiben.

Während der langen Konferenztage entfaltete sich ein onkomodernistisches Drama: Die Subsysteme der Erde kollabieren. Der unflexible Teil der Menschheit, der in der Konferenz abwesend war, soll über diesen Umweg graduell zur Transformation bewogen werden. Zu diesem Zweck werden schwerere Geschütze als Kunst und Geisteswissenschaft, die ja von affektbeladen bis magisch verrufen sind, aufgefahren. Langwierige Antragsverfahren werden eingeleitet, um ein neues Erdzeitalter wissenschaftlich einzuführen, parallel dazu werden beantragte Kulturprojektgelder bewilligt. In den Dialogen und Vorträgen lassen sich komplexe Ebenen des Narrativs herausarbeiten und Warnungen vor anthropomorphen Vereinfachungen abgeben. Meine Wahrnehmung wird schärfer und schärfer, während die Rückenschmerzen auf den kreativ designten Sitzarrangements der HKW-Ausstellungshalle stärker und die Handlungsoptionen immer geringer werden. Wir befinden uns im Great Deadlock. Was tun? Nach Hause gehen, ins Bett legen. Resilienztraining. Während des Schlafs antifragil werden. Zur Erleichterung perspektivwechselnd ins Universum hinauszoomen: von dort sieht unser Planet aus wie ein metabolischer Hasenköttel auf der großen Grillwiese gegenüber des HKW. 

„Das Anthropozän-Projekt – Kulturelle Grundlagenforschung mit den Mitteln der Kunst und der Wissenschaft“,
Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10,
10557 Berlin ,umfangreiche Dokumentation auf www.hkw.de
10.01.2013 - 31.12.2014
ohne Titel (© Christina Zück)
ohne Titel (© Christina Zück)
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