Über das Schreiben als Künstler

Warum schreibst Du und wenn für wen?

2010:Dec // Christoph Bannat

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11-2010
















Man schreibt immer für seine Klasse. Denkt heute jemand noch in Begriffen wie Klasse? Kosumentenklassen vielleicht.Kunst und Konsum eignen sich, nach Bourdieu, bekanntlich glänzend zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion: der Legitimierung sozialer Unterschiede.

Andreas Koch hat mich gebeten, etwas zu Kunst und Kritik, oder Kunstkritik zu schreiben. Ist das Kritik an Kunst, oder an Bildern, oder an der durch die Kunst hindurch scheinenden Bildung? Oder ist Kunstkritik, dies kritisch berauschendes Paradoxon – eine moralische Instanz, an der sich alles, also das Leben in seiner Gesamtheit, zu messen hat?

N: „…eine amorphe Unterschicht, und die aufgeweichten Konturen der ausgebeuteten Klasse sind kein Einwand gegen den Klassenkampf als die richtige politische Strategie.“ (René Pollesch)

Schreiben, und ich vermute darum geht es bei dieser Anfrage, fängt bei jedem mit dem Lesen an, diesem Passepartout zur Welt der Erwachsenen. Man lernt einen gesellschaftlichen Code. In diesem Sinne ist die Bibel und Martin Luther die größte, vielleicht weltweit größte Alphabetisierungskampagne. Ich las erst mit vierzehn Jahren mein erstes Buch – „Das Milchauto“ war meine Initialzündung. Nicht dass meine Eltern keine Bücher zu Haus gehabt hätten. Meine Eltern kommen aus einer Beamten- und einer Handwerkerfamilie, beide mit evangelischem Hintergrund. Beide Elternteile kulturinteressiert bis kulturgläubig. Mehrgeschossiger sozialer Siedlungsbau.

Wer Kultur sagt, ist schon gegen sie – Adorno? Doch man soll bekanntlich das, was einem leicht fällt, kultivieren, schwer wird’s mit der Zeit von alleine. So lautete mein Leitspruch nach einigen Jahren an der Kunsthochschule.

Dass ich so spät anfing zu lesen hing mit meiner Unfähigkeit zusammen, meinen Körper konzentrisch auszurichten, also mich zu konzentrieren. Nach dem Milchauto las ich „Hier und Jetzt“, ein Jugendbuch über ein ungleiches Brüderpaar. Dann „Wunschloses Unglück“ von Peter Handke, fünfmal weil ich es nicht so verstand. Noch schlimmer, ich verstand nicht, warum ich es nicht zu verstehen vermochte, lagen doch alle Wörter offen vor mir. Eine Magie, die mir später bei Marguerite Duras und Emmanuel Bove wieder begegnete. Als ich Jahrzehnte später Handkes Erzählung über seine Mutter erneut las, las ich auch die Geschichte des Vierzehnjährigen, der ich einmal war, mit. Auch wenn die Geschichte jetzt deutlich vor mir lag, wusste ich, dass sie bereits der Vierzehnjährige, wenn auch nur intuitiv, verstanden hatte. Fazit: Zur Geschichte des Lesens gehört immer auch eine Form der Selbstbegeisterung und die Fähigkeit sich seine eigene Geschichte, hier die des Lesens, erzählen zu können. Doch das erste Wunder des Lesens bestand zunächst in der ergreifenden Erfahrung, eine Erzählung an einem Stück durchlesen zu können – ein erhabenes Gefühl.

Nun: „Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit, moralischer Infantilität, ist das Erhabene der Tragödie. Es ist wahrscheinlich der Grund des Erhabenen überhaupt, in dem weit eher der Genius erscheint als Gott.“ (Walther Benjamin)

Wikipedia: „Der Genius (pl. Genien oder lateinisch Genii) war in der römischen Religion der persönliche Schutzgeist eines Mannes und Ausdruck seiner Persönlichkeit, seiner Schicksalsbestimmung und insbesondere seiner Zeugungskraft. Mit dem Tod des Mannes erlosch der Genius. Ursprünglich waren die Genien Ahnengeister, die über ihre Nachkommen wachten.“ Und man könnte hier die „Ahnengeister“ vielleicht so übersetzen: Gebt meine Worte, Bilder, Töne weiter.

Du siehst hier zunächst den Befehl zu schreiben?
Nein, noch nicht. Doch bricht man die Aussage einmal herunter, könnte es heißen, dass es Leben gibt, die ständig bearbeitet werden müssen. Schreiben ist da eine Möglichkeit der Vergegenwärtigung und gleichzeitig die Möglichkeit, Abstand von sich nehmen zu können. Ich sehe nicht, dass Schriften, Manifeste oder Bücher Werkzeuge sind. Eher Medien der Anpassung. Codes, an die man sich anpassen kann.

Gezeichnet habe ich seit ich denken kann, und aus Gekritzel entwickelte sich Schrift. Die Unfähigkeit sich zu konzentrieren machte das Zeichnen leicht. Die Gleichzeitigkeit möglicher Fluchtlinien auf dem Papier lässt sich in einer Zeichnung leicht herstellen. Sobald ich das erste mal bewusst verliebt war, habe ich, wahrscheinlich manisch, Briefe geschrieben. Briefe an Frauen. Meine Stars. Stars: wirklicher nie, leuchtend und unerreichbar fern am Himmel, dem unendlichem Archiv der Sterne. Und, je mehr der eigene Körper im Dunkeln lag, desto deutlicher sichtbar wurde das Objekt der Begierde – es sei denn, der Himmel ist bewölkt. Und ab und zu erlischt ein Stern. Die Disziplin des Schreibens, horizontal von links nach rechts verlaufendend, um im Gesamtbild zur Kolumne auf zu steigen, ihre Regeln und Techniken fallen mir bis heute schwer und kommen mir oft, wie am ersten Tag, wunderbar absurd vor. Die Briefe zu versenden hatte für mich etwas Befreiendes. Gleichzeitig waren sie etwas Pervers-Parasitäres, in dem ich mich in einen anderen Körper einzuschreiben versuchte…, aber das führt jetzt zu weit. Da stellt sich die Frage: Wo schreibe ich mich heute, und mit dieser und anderen Veröffentlichungen ein? An welches Schattenvolk denke ich beim Schreiben, und welchen Sexus hat das dieses Volk der Leser? Ich habe einen drei Jahre älteren Bruder und eine ein Jahr jüngere Schwester. Nachdem mein Vater in Rente gegangen war, bekam ich noch zwei Brüder, wie mir meine Mutter nicht ohne Stolz mitteilte. Mein Vater hatte die Patenschaft für zwei minderjährige Afghanen, die in Hamburg gestrandet waren, übernommen. In meiner Jugend wurde ich, wie meine ganze Generation, durch Popmusik, jenes in den 60/70er Jahren herrschende Medium für Lyrik unterrichtet. „I drive a Rolls Royce, because it’s good for my voice” aus „Children of the revolution“ von Marc Bolan ist bis heute eine meiner Lieblingszeilen.

Als der Kunsthistoriker Ludwig Seyfarth mich vor einigen Jahren, in Bezug auf mein Schreiben, fragte, was ich denn eigentlich wolle, stürzte mich das in ein tiefes Loch. Das stopfte ich mit der Antwort, dass ich für Dilettanten, wie ich einer bin, schreibe. Dass ich eben für jene schreibe, für die Schreiben sich nicht von selbst versteht und die damit kein Geld verdienen (müssen). Und, dass ich mich deshalb nicht als Standpunktprofi gebärden muss.

Während meines Kunsthochschulstudiums begegnete ich Leuten, die Studien- und damit auch Lebenszeit darin investierten, die richtigen Distinktionsmuster schreibend zu erlernen, um sie anschließend zu reproduzieren. Dem genetischen Befehl von Anpassung und Vervielfältigung folgend. Anpassung an das richtige Feld, um dort durch Vervielfältigung Kapital, wenn auch oft nur symbolisches, anzuhäufen. Ersetzt man Vervielfältigung durch Veröffentlichung und denkt sich bezahlte Berufe dazu, ist dieses Feld schnell umrissen.

Natürlich bin auch ich ein Phänotyp. Beim ersten Bourdieu lesen, traf mich der Schlag, mich dort diagrammisiert beschrieben zu sehen: Als Comic-, Rock-, Jazzkonsument und Filmregisseursnamensmerker. Merkmale jener nicht staatlich anerkannten, illegitimen, sich erst in den 60/70er Jahren zum Wirtschaftsfaktor entwickelnden Kultur. Ich wurde 1960 in Hamburg geboren und machte Ende der 70er meine Mittlere Reife. Schmiss eine Lehre als Verlagskaufmann. Jobbte im Hafen, im Lager eines Kaufhauses, in der Poststelle einer Versicherung. War unterwegs. Machte den Gesellenbrief als Siebdrucker. War wieder unterwegs und machte Zivildienst in Fulda. Nach vier Aufnahmeversuchen in Berlin wurde ich in Hamburg an der Kunsthochschule über einen Begabtenpassus angenommen. Dort berührten mich sofort jene Leben, die bereits eine Lehre gemacht hatten.

Vielleicht weil sie bereits mehrjährige Erfahrungen mit Anpassung, Pragmatismus, Unterwerfung, Autorität, Selbstdisziplinierung und einer dem Handwerk eigenen Körperlichkeit gemacht hatten. Gleichzeitig hatten sie eine kritische Distanz dem Kunstbetrieb gegenüber. An der Hamburger Kunsthochschule der späten 80er und frühen 90er gab es zwei Pole in der Lehre. Der eine war Franz Erhardt Walther, der einem erklärte, dass man Kunst lernen, also auch lehren kann und der andere Kai Sudeck. Der versuchte in stundenlangen Sitzungen, einem die Notwendigkeit der Bindung des Kunstwillens ans eigene Leben, und umgekehrt, verständlich zu machen. Um die dreißig, während einer Gastdozentur von Jutta Koether, begann ich gemeinsam mit zehn bis fünfzehn anderen Kunststudenten zu schreiben und zu veröffentlichen. Bald darauf war ich Mitherausgeber des Copy-Fanzines Dank und arbeitete kommerziell für die deutsche Vogue, Taz, Szene-Hamburg. Mitte der 90er dann professionell für verschiedene Printmedien und TV-Kulturmagazinsendungen sowie einige Radiosender. 2008 entstand, mit meiner Frau, mein erster 60-minütiger Dokumentarfilm, für Arte-ZDF. Bis zu diesem Zeitpunkt und seitdem arbeite(te) ich als prekär beschäftigter Aufbauhelfer im Kunstbetrieb, schreibe unregelmäßig für artnet, von hundert, Kunstblog und arbeite weiter als bildender Künstler.

Ich liebe die erregende Ungenauigkeit, im Gegensatz zur erregenden wissenschaftlichen Genauigkeit, bei größtmöglicher formaler Präzision, wie Kunst sie einem bietet. Die war immer mein idealisierter Zu- und Fluchtspunkt. Ich halte nicht viel von dem ganzen feuilletonistisch-journalistischen Geschreibsel, dieser Verwüstung des Lesens – aber die Wüste lebt, wie wir wissen. Ich liebe gute Texte, in denen ich die artistische Disziplin einer ausbalancierte Verschwendung wiederfinde. Ich liebe es, wenn sich Lebenszeit nicht als Zetteltraumata, wie im Tagesgeschäft des Journalismus einschreibt, sondern als Traum. Mein Schreiben über Kunst ist, was die Ausrichtung dieser Kräfte betrifft, im Inneren moralisch, und eben nicht in einem gesellschaftlichem Sinne, einer mehr oder weniger hierarchisch codierten Verabredung.

Ich schreibe immer noch für den Lehrling, den Gesellen, die Aushilfskraft, den Arbeitslosengeldempfänger, den Rumtreiber, den Vierzehnjährigen, den Kunststudenten, ich schreibe immer noch für mich.
– Meinst du für die avancierte Mittelklasse?
– Avanciert, klingt schon zu hoffnungsvoll in unserer heutigen Konsensgesellschaft, in der Sinn und Sinnlichkeit zusammenfallen und sich alle auf eine Realität geeinigt zu haben scheinen.
– Mittelklasse?
–Vielleicht.
N: „Es ist nicht so leicht ein neues Engagement zu bekommen, Cosmo. Bist du jetzt pleite?“ (Wieder Pollesch aus dem Stück „Tal der fliegenden Messer“) Jetzt hast Du so viel übers Lesen und Schreiben geschrieben, du wirst aber doch auch als Kritiker gesehen.

Wenn Kritik, wie Foucault schreibt, heißt, nicht dermaßen regiert werden zu wollen, heißt das eben nicht, dass man nicht regiert werden möchte. Übersetzt auf die Bilderproduktion könnte das heißen, dass man eben nicht von solchen Bildern dermaßen regiert werden möchte. Hier sehe ich meinen Ansatz von Kritik, wobei es egal sein sollte, ob diese Bilder aus dem Kunstbetrieb stammen oder nicht.

Christoph Bannat

Zeichnung (© Christoph Bannat)
Zeichnung (© Christoph Bannat)
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