5. Mai, Gipsstraße Still und friedlich fällt das Licht in die Räume des Malers Peter Scior. Sie sind menschenleer und auch sonst ist dort nichts Irritierendes zu finden. Eine Arbeitsplatte auf Holzböcken wie in einem Atelier oder einer improvisierten Situation während eines Umzuges. Kartons, die herumliegen, es könnte auch etwas anderes sein. Bezeichnend für seine Gemälde ist die Zärtlichkeit, mit der diese Bilder gemalt sind. Wie schafft er es, uns heute diese romantischen Bilder
vorzuführen, ohne kitschig zu sein? Es bleibt eine Gratwanderung entlang an der Harmlosigkeit und Naivität. Diese Bilder strahlen etwas aus, was hoch im Kurs steht: Achtsamkeit und Meditation. An diesem kühlen Nachmittag im Mai, umschmeichelt von den Jazzimprovisationen auf dem Klavier, die der Galerist aufgelegt hat, kann ich mich darauf einlassen.
Das Licht draußen ist härter, die Kontraste sind aufdringlicher, die Konturen schärfer. Peter Sciors Weichzeichner schafft Versöhnlichkeit.
8. Mai, Brunnenstraße Ich weiß, manchmal sehe ich auch nicht mehr durch. Erst heute Abend wieder, bei der Beinah-Newyorkesken-Haysinger-Scheibitz-BMW-Elektroautorelease in den ehemaligen KOW-Räumen im Brandlhuber-Brutalismus, kam ich nicht mehr mit. Erst fragte mich Frank N., ob das an der Bar nicht Ulf Poschardt wäre und ich, ja, durchaus, das könne sein.
Um dann später Kolja Reichert von der FAZ am Sonntag zu erzählen, dass ich Newsletter-Abonnent von Peter Richter wäre, um nicht allzu viele Texte von ihm zu verpassen. Und um ihn dann nach jenem Ulf Poschardt von vorhin zu fragen, mit dem er offensichtlich nach Hause fahren wollte. Aber nein, das ist doch genau dein Newsletter-Peter-Richter. Peinlich Nummer Eins.
Später kam dann besagter veranstaltender Haysinger, seines Zeichens Mann von Anna-Catherina Gebbers und Werbeprofi, an mir vorbei und ich hörte noch das Wort Janine, und ich dann vorschnell, ach, du bist Adriano Sack. Betretenes, fast schockiertes Schweigen allerseits.
Keine Ahnung, warum mir das passierte, zweimal Springer-Presse, wo sie gar nicht da war. Lag meine Verwirrung vielleicht doch am Ambiente?
28. Mai, zuhause Kürzlich habe ich mir ein Paar Schuhe von Acne Studios gekauft, natürlich gebraucht, aber sehr gut erhalten. Wie ich bald feststellen musste, drückt der rechte von oben unangenehm auf den großen Zeh. Nach ein paar Mal anziehen, habe ich jetzt also eine „Acne“-Narbe auf dem Fuß.
1. Juni, Rungestraße Transparente Stoffbahnen hängen in mehreren Gassen von der Decke. Links am Rand ist ein Schlagzeug versteckt. In dem fensterlosen Raum ist es jetzt schon stickig. Man dürfe nicht später rein und nicht eher raus und das ginge ca. 30 Minuten.
Das Publikum der „openstudios rs 20“ war soeben durch eine Raum- und Bodeninstallation aus getrockneten Blättern, Blüten, Körnern und Halmen geleitet worden. Ein Pfad, der deine Sinne und deine Sinnlichkeit ansprechen möchte und dich eventuell staunen lässt über a) die Schönheit der Natur, b) die Einfachheit der Kunst, c) die Poesie des Einfachen und Schönen. Klein, fein und leise ist etwas, das sich oft vermissen lässt. Und was sich dann in der Performance fortgesetzt hat.
Der Klangkünstler und Schlagzeuger Oliver Schmid (Resonator/ Superterz/ Sophie Hunger) streichelt behutsam sein ruhendes wildes Instrument. Leichtes Klopfen und durchlässige Klangflächen begleiten die 2-Kanal-Videoprojektion, die auf den Stoffbahnen zu tanzen beginnt.
Der Natur entnommene Strukturen bilden Linien, Raster, Gitter und korallenartige Muster ab.
Leise tänzelt auch der zierliche kleine Körper der Performerin, als sei sie selbst ein Fischlein im Korallenriff, das sie am Mischpult zur Collage komponiert und im Einklang mit der Musik auf die Gaze schickt. Man könnte noch lange zuschauen und ins Träumen geraten, wenn nur der Sauerstoff nicht so knapp wäre. Schneller als erwartet ist hier der Zauber zu Ende, in New York waren es wohl ganze vier Stunden. Ursula Scherrer hat in den letzten 20 Jahren unzählige Performances vor allem in New York und Osteuropa zur Sensibilisierung der Wahrnehmung des Selbst und seiner Umgebung beigesteuert. Heftiger Applaus.
18. Juni, Böttcherstraße PEOPLE: mal wieder – „Social Fashion by At-Risk Youth“. Die vierte Kollektion ist jetzt fertig und wird heute Abend im BALDON in der Böttcherstraße präsentiert. Ich plane hinzugehen und sehe: Ah, das ist im LOBE-Haus, sehr gut, das wollte ich mir schon immer mal ansehen, auch wenn ich gar kein ausgesprochener Brandlhuber-Fan bin.
„Blind World“ ist das Motto der Kleidungsstücke, die hinten im schicken Café hängen, im Erdgeschoss und 1. Stock , viele junge Leute sind da, auch viele Praktikant*innen, man sitzt vor allem hinten, draußen auf der Terrasse. Ein paar Teile gefallen mir, dunkelblau-schwarzer Mantel und Blazer, ein langer, patchworkartig zusammengenähter Rock, schwarz, orange, rot gemustert, alles in DE gefertigt und gar nicht mal so teuer, der Mantel ca. 180,– EURO. Doch dann fahre ich wieder, war mir doch irgendwie zu „normal“. „At-Risk“ habe ich da nicht wirklich entdeckt in der Präsentation im Brandlhuber-Haus-Café. Auf dem Rückweg durch den Wedding denke ich: Eigentlich toll – hätte ich schon gerne, und doch: Warum eine Präsentation in all diesem Schick zwischen ausgewählten Limonaden und poliertem Beton? … ist das widerständig? Nein. Es gibt kein Zurück, drunter geht’s nicht mehr, oder? Aber wer will schon zurück …? Wir sind nicht mehr „blind“, schon lange nicht mehr.
22. Juni, im Büro Erst jetzt kriege ich die Nachricht, dass Uta Grosenick, die Co-Gründerin vom Distanz-Verlag, nicht mehr mit an Bord ist. Christian Boros hätte sie ausbezahlt. Jetzt bin ich gespannt, wo sie nach Stationen bei Taschen (hier war sie zum Beispiel Mitherausgeberin der um die Jahrtausendwende Kunstkanon erzeugenden Art-Now-Reihe), bei Du- Mont (dessen Kunstbuchsparte sie gemeinsam mit Nicola von Velsen (jetzt Holger-Liebs-Nachfolgerin bei Hatje Cantz) leitete) und schließlich bei Distanz, landen wird. Ob die Summe bis zur Rente in fünf Jahren reichen wird? Und Nicht-Arbeiten ist für Uta bestimmt auch keine Lösung.
28. Juni, im Schwarzwald Ich bin mit einem Plakat von Horst Janssen zu einer Ausstellung in Düsseldorf 1966 aufgewachsen. Es hing in meinem Zimmer und war eigentlich von meinen Eltern archiviert und auf eine Holzplatte kaschiert. Mir gefiel es, so dass ich es als Fünfzehnjähriger in meinem neuen Einfamilienhauszimmer aufhängte. Jetzt fällt mir erst auf, dass Janssen die gleiche Fäkalkritikerschelte zeichnete, wie jüngst Neo Rauch in der Zeit. Das Plakat zeigt einen Mann beim Radschlag, mit aufgerissener Hose und beschmutztem Arschspalt. „‚Nix Neues!‘ sagt der Kritiker Wolf Schön vom Rheinischen Merkur. ‚Alles nur Radschlägerei!‘“ sagt ein Mensch auf dem Plakat aus einem Bild heraus. Der Radschläger hier ist wohl der Künstler selbst, der dem Kritiker sein LmaA entgegensetzt. Bei Neo Rauch durfte Wolfgang Ullrich mit seinen eigenen Exkrementen malen. Also „Nix Neues“ schreibt der Kunstkritiker Andreas Koch von der von hundert. „Alles nur Scheißemalerei!“
5. Juli, im Zug Frank rief mich im Zug an. Ebs wäre tot. Dieser plötzliche Tod der um die Fünfzigjährigen, wie schon bei meinem Vater und meinem Großvater, so früh, Schlaganfall, Herzinfarkt – bei meinen Vorfahren war es der latent schlechte Lebenswandel, Rauchen und Trinken und Stress.
Eberhard Havekost habe ich zuletzt an besagtem 8. Mai bei der Scheibitz-Veranstaltung gesehen und gesprochen. Er versuchte mir mit seiner einzigartigen schleifigen Haiku-Rhetorik, als deren Gegenüber man oft verstummte, weil man nur halb verstand, die Qualitätsunterschiede des gerade auftretenden Marzahn-Rappers und LA-Hip-Hoppern zu erläutern. Ich hatte natürlich keine Ahnung und nickte immer. Das war also das letzte Mal. So schade.
2. August, im Büro Das besagte Bild von Neo Rauch wurde für einen wohltätigen Zweck auf einer Golf-Charity-Versteigerung für 750.000 Euro verkauft. Aktionator war Christian Lindner. Das Bild wurde von dem Berliner Immobilenunternehmer Christoph Gröner gekauft. Christian Lindner pries es mit den Worten, dass das Bild einmal in den Schulbüchern abgebildet würde und eine Analogie zur derzeitigen Debattenkultur darstellen würde. Jetzt wandern Immobiliengewinne, erwirtschaftet von der CG-Gruppe, in ein Kinderhospiz – vielleicht nicht der schlechteste Weg.
Dass Gröner einen Verein für gesunden Menschenverstand gründen wolle und derzeit eine Redaktion aufbaut, die mit Fake-News aufräumen soll, passt allerdings zu seinem Investment. Vielleicht nennt er die Website ja gleich www.scheisse.de und wettert darauf gegen alles, was er nicht so gut findet. CO2-Lüge, Mietpreisbremse, Integration, Tempolimit, Feminismus … beim Besuch der Vereinsräume kann man sich dann das Bild anschauen.
7. August, Dorotheenstadt Friedhof II Ich lernte Havekost 2004 kennen. Er fragte mich, ob ich einen Katalog mit druckgraphischen Werken für das Kupferstichkabinett Dresden gestalten könne. Klar, gerne! Ich konnte frei mit der Bildanordnung arbeiten, außerdem hatte ich eine recht einfache, das Konzept tragende Gestaltungsidee, es war also reibungsarm, trotzdem spannend. Es war eines der ersten Bücher, das ich komplett alleine, ohne Grafikkollegen machte. Ich schwamm mich gerade frei, hatte eine neue Beziehung und war dabei, meine Galerie zu schließen. Dass Cover und Plakat wie eine Beerdigungsanzeige auf einem Waldfriedhof aussahen, störte weder Ebs noch mich. Jetzt sind ganz in der Nähe seines Grabes ein paar ähnlich Tannen.
Peter Scior: „Raum 5“, 2019
Aufgang LoBe-Haus, Wedding
Horst Janssen, Ausstellungsplakat Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, 1966
Neo Rauch, „Der Anbräuner“, 2019, Foto aus der Versteigerung , Ausschnitt