Freiheit-Spezial

2019:September // Tom Biber, Barbara Buchmaier, Andreas Koch, Peter K. Koch

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09-2019

Freiheit. Mein ganzes Lebenskonstrukt habe ich um dieses Wort herumgebastelt. Nach Ausschluss aller anderen, scheinbar unfreieren Berufsmöglichkeiten, entschloss ich mich, Künstler zu werden. Näher waren da in Betracht tatsächlich eine Banklehre, dann ein Berufsakademie-Wirtschaftsstudium bei Daimler und schließlich ein Grafikdesignstudium. Erstere beiden die absolute Horrorvorstellung, Gefängnis, das erkannten zum Glück meine Aufnahmeprüfer und ließen mich durchrasseln, letzteres vermieste mir ein Kunst-Lehrender Luxemburger an der „Freien“ Kunstschule Stuttgart. Er schmiss mir während eines Malkurses eine Werbebroschüre vor die Füße und fragte, willst du diese Scheiße dein Leben lang machen? Und das nur weil ich ihm gestand eine Mappe bei der Visuellen Kommunikation in Berlin abgegeben zu haben.
Also freie bildende Kunst in Berlin! Wobei? Es heißt eigentlich nur „bildende Kunst“ aber ich sage oft freie Kunst, im Unterschied zu angewandter oder darstellender Kunst. Wie frei sie dann wirklich war oder ist, die bildende Kunst, stellte sich dann im weiteren Verlauf heraus. Das frei war mir jedoch wichtiger als das bildend … AK

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Ich summe: Frei zu sein bedarf es wenig, nur wer frei ist, ist ein König, und erschrecke heftig. Steckt in dieser, auf den ersten Blick leicht naiv-fröhlichen Liedtextzeile nicht die unverhohlene und geradezu sprengsatzartige Aufforderung, den Verzicht als eine Voraussetzung anzusehen, um einen der höchsten aller Seinszustände zu erreichen, nämlich den der Freiheit. Ich soll also nichts haben und nichts anstreben, um mich so von dem zu befreien, von dem ich dachte, dass ich es bräuchte, um frei zu sein. Klingt etwas verdreht und ist es auch, erklärt mir doch die kapitalistische Produktions-, Güter-, Optimierungswelt ständig, dass ich Freiheit nur dann erlangen kann, wenn ich zuerst ganz viel habe, nämlich Geld. Für diesen Grundstoff kann ich mir dann Freiheit kaufen, in Form von (Frei-)Zeit, in Form des neuen SUV, in Form eines Hauses am Meer, der Reise um die Welt, der schönen Frisur, der teuren Kleidung und so weiter und so fort, was zusammengenommen dann erst das Gefühl von Freiheit in mir erzeugen kann/soll/muss? Das Dumme an der Sache ist, dass man für den Grundstoff Geld häufig zuerst relativ viel Freiheit aufgeben muss, um in Form von Arbeit für eine bestimmte Leistung bezahlt zu werden, die häufig auch mit (Unfrei-)Zeit in Verbindung steht. Da man das aber in dieser Komplexität schlecht verkaufen kann, gibt es in der Werbung kaum einen Begriff, mit dem öfter und dümmer geworben wird, als mit dem der Freiheit. Kaufst du Produkt = kriegst du Freiheit. Hä? Ein kleines, aber doch entscheidendes Detail wird dabei verschwiegen, muss man doch erst nach der Freiheit suchen, wenn man sich unfrei fühlt, also kompensatorisch handeln, um aus einem Zustand auszubrechen, in dem man sich anscheinend unfrei fühlt. Die Formel müsste also so gehen: Bist du unfrei = kaufst du Produkt = kriegst du Kompensation. Das Wort Freiheit kommt da gar nicht mehr vor, weil es mit Freiheit nichts zu tun hat. Steckt also doch nur im Verzicht die Freiheit? PK

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Wenn ich etwas über „Freiheit“ schreiben soll, krampft sich bei mir gleich alles zusammen. Das Wort kann so vieles und nichts bedeuten, und in verschiedenen Lebenssituationen nimmt man Freiheit auch immer wieder ganz unterschiedlich war: Wann man Freiheit, sich selbst als „frei“ empfindet, wann man sich mehr davon wünscht, oder vielleicht sogar auch weniger. Das Wort „Freiheit“ steht für mich auch für eine fancy leere Hülse, damit verbunden wäre die These, dass es eine Freiheit als solche gar nicht gibt. BB

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Freie Kunst versus angewandte Kunst, das ist eine Auseinandersetzung, die ich tagtäglich lebe und das schon seit über 25 Jahren. Tatsächlich haben sich bei meinem Erleben beider Berufsfelder die Vorzeichen eher umgedreht. Denn ist es nicht so, dass man als bildender Künstler eine Menge ungeahnter Unfreiheiten ertragen muss? Da ist zum Beispiel der finanzielle Aspekt, der dabei gar nicht mal der entscheidende ist, und erfolgreiche Künstler würden mir sofort widersprechen. Aber als erfolgloser oder mittelerfolgreicher Künstler, und damit ungefähr Teil von 95 Prozent aller, muss man sich ernähren können. Der Markt ignoriert einen, die Stipendien hat man gehabt und sie waren auch nur ein Zubrot, aber als Familienvater mit Büro und Lager muss ich im Monat mindestens 4000 Euro Einnahmen haben, sonst gehts mit meinem Konto bergab. Wenn ich für andere Bücher gestalte, bekomme ich dafür auf jeden Fall schon mal finanzielle Freiheit. Und kann mir nebenher noch die Freiheit nehmen, die von hundert zu machen, immerhin auch ungefähr 100 unbezahlte Stunden pro Ausgabe … AK
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Aber wichtiger ist, dass, wenn man sich die Freiheit nimmt, den Markt, der einen ja auch nicht wahrnimmt, zu ignorieren, trotzdem noch unter einer selbst auferlegten Werk­immanenz leidet (als Marktkünstler ist diese eh Pflicht). Das heißt, man arbeitet daran, sein Werk immer weiterzuentwickeln. Es basiert auf den vorherigen Ergebnissen, baut aufeinander auf. Man arbeitet an einer Art Wiedererkennbarkeit, wenigstens für sich selbst. Die Stringenz, die Evidenz einer Arbeit beruht immer auf den vorherigen. Natürlich kann man neue Werkgruppen entwickeln, kann auch an verschiedenen Themen arbeiten, aber ein Videokünstler wird in den seltensten Fällen anfangen zu malen. Man ist schließlich Gefangener seines eigenen Werkes und jeder Ausbruch ist schließlich doch nur ein Ausbruch. AK
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Und dann gibt es da noch viele Formen von Zensuren, abgesehen von der oben erwähnten Selbstzensur. Kann, darf man so was heutzutage noch, wieder machen? In Zeiten hypersensibler und hyperkommunizierender Gesellschaften sind manche Arbeiten, aber auch manche Daseinsformen als Künstler von Teilen der Gesellschaft nicht mehr toleriert, und das ist durchaus auch ein Fortschritt. Ein Frauen verschleißender alter weißer Maler, wie früher zum Beispiel Picasso oder Gustav Klimt, hätte es heute schwer. Bilder werden abgehängt, Ausstellungen verschoben, sobald ein #metoo-Konflikt aufscheint. Auch der Rassismus-Verdacht wird schneller geäußert als vielleicht noch vor zehn Jahren. Kunst ist nicht frei und war es wohl nie. Das ist nicht immer schlecht, denn die Freiheit der einen, ist zu oft die Unfreiheit der anderen.
Kunst agiert immer in Grenzen, und diese zu überschreiten, war immer Teil ihrer Entwicklung. In der grenzenlosen Digitalmoderne ist das jetzt schwerer. Einerseits, weil alles sichtbar wird, jede Provokation ständig passiert, jedes Tabu gebrochen wird und wurde, und so eine der Antriebsfedern von Kunst obsolet wurde, und andererseits eine starke Meinungsöffentlichkeit schnell reagiert und ganz andere Formen des Prangers bereitstellt. Die Kunstkritik hat da nur noch wenig mitzureden und fristet ihr Dasein in ungelesenen Katalogtexten. AK

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Ich bin überhaupt erst Künstler geworden, um all dem Zwang zu entgehen, den ich immer wieder als unerträglich und krankmachend empfunden habe. In Systemen funktionieren, Schule, Ausbildung, Beruf, das habe ich alles überhaupt nicht verstanden. Immer habe ich mich nur als ein kleines Rad in einem menschenverschlingenden Suprasystem gesehen, zum Beispiel, wenn ich morgens um 6:30 Uhr mit der Straßenbahn mit den anderen grauen Arbeitsschafen zu meiner damaligen Ausbildungsstätte gefahren bin. Irgendwann hatte ich solch nervenzerfetzende Angstzustände, dass ich mich entschieden habe, lieber eine Stunde morgens in der Dunkelheit zu Fuß zu laufen, um meine Arbeit zu erreichen, als mich weiterhin meiner sozialen Phobie auszuliefern. Eine erste klitzekleine Befreiung. Die größere folgte dann später, als mich mein bemitleidenswerter psychischer Verfall dazu zwang, alle bisherigen Tätigkeiten aufzugeben, angetrieben vom ehrlichen Versuch, mich allen System komplett zu entziehen, um außerhalb zu leben, also richtig geil asozial zu sein, so meine damalige und aus heutiger Sicht etwas naive Vorstellung, die aber diesen radikalen und mich bis heute prägenden Entschluss erst möglich gemacht hat. Was ich damals noch nicht wusste: nach Raus kommt Rein. Raus ging recht schnell, aber man kann eben nicht nur draußen sein, man muss auch irgendwann mal wieder drinnen sein, sonst geht man vor die Hunde. Also habe ich das nächste Jahrzehnt damit verbracht, irgendwo anders wieder rein zu kommen, und zwar in die Kunstszene, die mir so viel Freiheit versprochen hat. Dass dort mindestens so viele Bedingungen eine Rolle spielen, wie in jedem gottverdammten anderen beruflichen System, das habe ich erst mit den Jahren verstanden. Ob ich dort die Freiheit gefunden habe, die ich mir davon versprochen habe, ist nicht überliefert, aber ich habe Erkenntnisse gewonnen, die mich frei machen.PK

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Heute früh wieder ein ähnlich befreiendes Gefühl wie schon so oft. Erst wenn ich ein Ziel habe, das ich erreichen will, fühl ich mich frei. Obwohl oder weil ich dann alles andere ausblenden kann. Wie mit Scheuklappen laufe ich dann gerade aus und konzentriere mich auf den Weg. Und denke nicht an links oder rechts. Bin also eher gefangen als frei, gefangen in meinem Vorhaben. Heute früh ging es nur darum, mit dem Fahrrad von Mitte nach Steglitz zu fahren und wieder zurück. Wie ein Idiot bretterte ich dann die Straßen runter, über rote Ampeln, lieferte mir kleine Rennen mit anderen Radfahrern oder gleich mit Autos, atmete manchmal durch, überforderte mich wieder und war glücklich. So geht es mir aber auch bei anderen Tätigkeiten. AK

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Beim Schreiben über „Freiheit“ fällt mir mein Sternzeichen ein. Es ist der „Wassermann“ und damit ist und war – auch ohne esoterisch zu sein – irgendwie immer die Vorstellung verbunden, dass ich Freiheit, Freiraum brauche, um glücklich und zufrieden zu sein – „mein“ Ding zu machen. Immerhin habe ich es bis heute durchgehalten, selbstständig zu arbeiten und davon zu leben. Sich immer wieder aus bestehenden Netzen herauszuwinden oder gar nicht erst anzufangen, allzu dichte davon zu spinnen, mag für Freiheit stehen, aber muss der „Wassermann“ bzw. die „Wasserfrau“ nicht auch fischen, um sich von etwas zu ernähren. Ein eher engmaschiges Netz wäre dann doch von Nöten ;-)
BB
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Golf ist zum Beispiel das reinste Start-Ziel-und-dazwischen-toller-Weg-Spiel, das ich kenne. Es geht wirklich nur darum, den Ball mit so wenig Schlägen wie möglich nacheinander in 18 Löcher zu spielen. Man läuft 10 Kilometer in – je nach Mitspielerzahl und Verkehrssituation – drei bis viereinhalb Stunden. Man blendet alles andere komplett aus, quatscht maximal ein bisschen mit seinen Mitspielern, ist aber ansonsten total fixiert auf das nächste Ziel, und das zwischen 70 und 100 Mal, je nachdem, wie gut man spielt. Das ist eine totale Kopfbefreiung, eine Droge, die man immer wieder haben will. Und so doch eine Sucht und wieder Zwang. AK
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Tatsächlich erlebe ich das Weglassen an Möglichkeiten als Befreiung. Selbst meinen seit zweieinhalb Jahren betriebenen Veganismus (außer manchmal Fisch) erlebe ich als Entdeckung neuer Welten, da ich mich intensiver mit den verbliebenen Nahrungsmitteln beschäftige und neue entdecken muss. Ich bin mittlerweile Tofuspezialist.
Auch verzichte ich auf ein eigenes Auto und weitestgehend aufs Fliegen (im Schnitt nur alle fünf Jahre). Das mache ich nicht nur als Beitrag zum Umweltschutz, sondern vor allem auch, um mein Leben zu verbessern. Die Abschaffung des Autos vor über 15 Jahren ließ mich befreit aufatmen, ich musste mich nicht mehr darum kümmern und kann die im Schnitt 200 Euro im Monat für Mobilität entspannt auf unterschiedliche Fortbewegungsmöglichkeiten aufteilen. Natürlich auch auf Autos in Form von Carsharing (und hier die entspanntere stationäre Variante).
Fliegen stresste mich immer, nicht wegen Flugangst, sondern tatsächlich wegen der Abruptheit der Wechsel der Umgebungen – und dies in einem nervenden Stop and Go. Check-in, Security, Warten, Check-out, Warten, Koffer … Es ist nicht mein Rhythmus. Wir (meine Familie) fahren jetzt mit Zug, Fahrrad und Fähre nach Bornholm, und waren davor auch schon zehn Mal mit Carsharing-Autos auf der gleichen Insel.
Das erinnert vielleicht alles ein wenig an alte weiße Männer, vorwiegend Studienräte, die in ihren Volvos vor 30 Jahren nach Skandinavien fuhren und ja, why not?
Es ist eine Form der Lebenskunst, der Asketik, der Übung, relativ unabgelenkt, aber mit offenen Ohren und Augen durch die Welt zu laufen. Natürlich verzichte ich auch auf alle Social Medias und schreibe/bekomme im Schnitt zwei SMS pro Tag. Das wäre ein individueller Ansatz, der global erst mal gar nichts bringt. Alle anderen konsumieren ja kräftig weiter. Aber ich eliminiere durch diesen Ansatz mein Gefühl, dass es die anderen besser haben könnten. Selber schuld, wenn sie mit ihrem SUV zwanzig Minuten keinen Parkplatz finden. AK
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Ich kann mir das bedingungslose Grundeinkommen vorstellen, aber stelle mir die bedingungslose Freiheit vor, dann scheitere ich dabei sofort und fühle mich innerlich eingeschränkt und hilflos. Wie kann ich die Freiheit spüren, wenn es keinen Zwang gibt? Ich kann mich zum Beispiel nur darauf freuen, am nächsten Tag frei zu haben, weil ich heute nicht frei habe. Nur der Kontrast versetzt mich überhaupt in die Lage, den Unterschied klar wahrzunehmen. Hätte ich jeden Tag frei, dann würde ich diese Freiheit nicht mehr wahrnehmen, sondern würde vielleicht plötzlich die Unfreiheit als etwas Befreiendes wahrnehmen. Hier muss ich an den Druck denken, der aktuell auf die liberalen Demokratien ausgeübt wird, dem anerkannt freiheitlichsten aller denkbaren Staatssysteme, Druck von Menschen, die die Freiheit anscheinend nicht mehr spüren können und sich demnach nach Unfreiheit sehnen. Was sie dann in der gewünschten Unfreiheit machen werden, das bleibt die Frage. Möglicherweise wissen sie es selber nicht und suchen einfach, so wie es Heranwachsende bisweilen tun, hin und wieder einen gewissen Gegendruck, um sich selber besser spüren zu können, verfügen vielleicht nicht über die Kapazität, das Gefühl von Befreiung innerhalb ihres persönlichen Umfelds zu finden. Wir werden es in der Zukunft sehen. Anscheinend muss es immer etwas geben, von dem man sich befreien möchte, und sei es die Freiheit selbst. Je stärker der Zwang, je stärker das Gefühl, dass ich nicht frei bin oder frei entscheiden kann, was ich mache oder wohin ich gehe, desto größer wird das Streben nach Freiheit. Bis zur Explosion. Stehen Zwang und Freiheit in einem moderaten Verhältnis zueinander, kann man sich mit beidem wunderbar arrangieren. Anderseits muss man daraus auch schließen, dass maximale Freiheit auch nach maximaler innerer Stärke und Stabilität verlangt. Wenn mich niemand zwingt, dann habe ich die schwierige Aufgabe, dass ich alles frei entscheiden muss, was aber ziemlich viel besser ist, als nur noch gezwungen zu werden und nichts mehr frei entscheiden zu können. Freiheit oder Zwang, wir wählen die Freiheit. PK

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Die neuen EC-Karten können scheinbar funken und empfangen. Mein netter, telefonischer (immerhin) E-Banker weiß nichts darüber und beschreibt mir dennoch das neue Plastikgeld. Er mache eh alles nur noch mit dem Smartphone.
Freiheit durch Verblödung?
Sind wenigstens die Weltmeere noch frei, oder wann waren sie es das letzte Mal?
Plastikmüll, Überfischung und jahrhunderte-langes Juristen-Geschachere um Seerecht, Piraterie und die Definition von Eigentum und Untermenschentum (hier war allerdings im 15. und 16. Jahrhundert das Kirchenrecht dem damaligen „weltlichen Recht“ weit voraus) grenzen die Freiheit ein. Der Horror-Staatsrechtler Carl Schmitt hat über diese, seine „Freiheiten“, die Linie beschrieben. Kandinski hat schon etwas früher ebenfalls über die Linie geforscht. Und Donald Trump bringt die Linie als Mauer und Grenzzaun wieder in die Welt. Die Linie ermöglicht die Trennung, die Spaltung!
Freiheit in der Kunst? Ja, noch nicht strafbar! Aber die Künstler, die Inhalte und Anregungen jenseits der Geschwätz-Linie anbieten, kämpfen mehr denn je um Miete, Strom, Gas. TB
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Moral und Freiheit stehen sich ja prinzipiell gegenüber. Jedenfalls wird der Moralisierende immer beschuldigt, sich über den moralisch Verurteilten zu erheben, ihn zu bevormunden, zu gängeln, um ihm schließlich die Freiheit zu rauben, das zu tun, was ihm gerade im Sinn steht. Aber natürlich funktioniert unser gesellschaftliches Miteinander nicht ohne Moral. Sie bleibt an vielen Stellen gleich (du sollst nicht töten, stehlen, lügen, betrügen etc.) an anderen ändert sie sich auch, so wie sich auch die Gesellschaft mit ihren Möglichkeiten ändert.
Neuestes Wort in diesem Sinne ist die sogenannte Flug­scham, also ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass Fliegen vielleicht nicht das zeitgemäßeste Transportmittel ist. Auch Rauchen erfuhr in den letzten Jahrzehnten eine schrittweise Verdrängung, erst aus den Zügen, dann aus den Kneipen und schließlich wird der öffentliche Raum zur Tabuzone für die glimmende Zigarette werden. Die Predigt vom Verzicht aus moralischen Gründen erhält in Zeiten der drohenden Klimakatastrophe eine besonders hohe Kanzel und ist allerorts zu hören. Nur folgen ihr scheinbar sehr wenige Menschen, die Autos werden größer, die Flugreisen nehmen zu und alle konsumieren wir immer mehr. Die Prediger auf den Kanzeln nerven und wollen uns nur unsere Freiheit nehmen. Der von den Grünen geforderte Veggieday war wohl das berühmteste Beispiel und kostete die Partei damals 2013 einige Prozente. AK

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Also anders, weniger moralisch, dafür egoistischer? Hier wäre die Idee, durch beständiges Bohren und Vorleben ein allgemeines Umdenken zu erzeugen. Ganz langsam. Man ist Vorreiter, verzichtet hier und da stark und sichtbar, an anderen Stellen ist man aber durchaus hedonistisch, bricht die eigenen Regeln (gerade das macht Freiheit ja aus, das Regelnbrechen), isst plötzlich ein 300-Gramm-Bio-Steak und genießt es unendlich, das letzte war ja 18 Monate her.
Auch diese Haltung wird nicht viel bewirken, mindert aber auch das Gefühl, irgendwie vielleicht doch zu leiden am Verzicht. Es ist das Huckleberry-Finn-Prinzip. Dieser sollte mit Tom Sawyer einen Zaun streichen. Beide taten so, als würde es großen Spaß machen. Am Ende machten alle anderen Kinder mit und die beiden Jungs ließen sich sogar noch dafür bezahlen, dass man mitstreichen durfte. So weit muss es ja nicht kommen. Verzicht macht an vielen Stellen wirklich Spaß. Und da kann man die Moral beiseite packen. Die Welt geht erst mal eh unter. Nur dass der Verzicht mir gut tut, gesundheitlich und zeitökonomisch, und zusätzlich mein Gewissen beruhigt. Ja, ich war auch schuld, aber wirklich nicht so viel.
Erst wenn das allgemeine Leiden größer wird und die Politik sieht, dass alles gegen die Wand fährt, und Gesetze erlässt, Steuern erhebt, Verbote ausspricht, wird sich spürbar was ändern. Und dann ist die Freiheit wieder da. Und zwar die, die Gesetze manchmal zu brechen, sich hier was rauszunehmen, dort über Rot zu fahren und da eine CO2-Tonne zuviel rauszublasen. Dann muss man sich nur noch gegen den Überwachungsstaat wehren, aber das ist eine andere Geschichte. AK

Andreas Koch (AK), Barbara Buchmaier (BB),
Peter K. Koch (PK), Tom Biber (TB)  
Illustrationen: Andreas Koch