Glückliche Zufälle

Myzel und / oder künstlerische Forschung. – Das aktuelle Jahrbuch 2012 der ZHdK „Praktiken des Experimentierens“

2012:Aug // Birgit Schlieps

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08-2012

















„Myzel“, das ist die Gesamtheit aller fadenförmigen Zellen eines Pilzes. Richard Wentworth erwähnt es in seinem Beitrag „Periskop“ im aktuellen Jahrbuch 2012 des Departements Kunst & Medien (DKM) der Züricher Hochschule der Künste (ZHdK) zur aktuellen Praxis in der künstlerischen Ausbildung mit dem Titel „Praktiken des Experimentierens“. Myzel bezeichnet für ihn ein Organisationsprinzip einer wirkungsvollen kollektiven Energie, das von gegenseitigem Geben und Nehmen jenseits hierarchischer Konstellationen geprägt ist, wie er es an einigen universitären Institutionen erlebt hat. Myzel ist als Bild auch wiederzuerkennen auf dem mit einer großformatigen Fotografie gestalteten flexiblen Bucheinband. Aber was hier wie die Unterseite eines Pilzes aussieht, ist Teil einer Dachkonstruktion im Innenraum des Bourbaki-Panoramas in Luzern. Das Riesenrundgemälde von Edouard Castres und das dreidimensional gestaltete Vorgelände zeigt die französische Armee des Generals Bourbaki am Ende des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 bei ihrem Übertritt in die Schweiz, ihrer freiwilligen Entwaffnung und Umsorgung durch die örtliche Bevölkerung. Auf dem Foto des Einbands stehen Besucher des Panoramas innerhalb einer rondellförmigen Absperrung. Einige schauen sich die Aussicht an, andere scheinen mit etwas anderem beschäftigt zu sein.

Ist vielleicht auch so der Zustand der aktuellen künstlerischen Forschung zu beschreiben? Dass sich viele Gedanken über den Sinn und Zweck einer solchen Forschung machen, aber dass der Zugang zu diesem unwirklichen Gelände erst noch gefunden werden muss? Oder dass es Versuchsanordnungen gibt mit unterschiedlichen Anteilen von fiktiven und realen Elementen, Projektionen, Modellen und tatsächlichen örtlichen Zusammenhängen?
Die Herausgeber des Buches, Christoph Brunner, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Forschungsassistent (ZHdK) und Giaco Schiesser, Professor für Medientheorie, versuchen über fünf verschiedene Kategorien von Stoffen – im Vorwort als zu bearbeitendes Material und als Rohstoff bezeichnet – sich dem anzunähern, was Praktiken des Experimentierens sind und was sie sein könnten. Der Inhalt des Buches ist auf sehr dünnem durchscheinenden Papier gedruckt, englisch/ deutsch gespiegelt mit jeweils quer verlaufenden Titelblättern, die auch immer vorhergehende und nachfolgende Beiträge innerhalb eines Kapitels (Stoffe I–V) auflisten. So wird suggeriert, dass man sich während des Lesens in bestimmten Feldern aufhält. Die fünf verschiedenen Stoffe sind mit Labor-Experiment, Schnittstellen, Kunst-Theorie-Wissenschaft, Lehre-Forschung und Carte Blanche benannt. Im Vorwort wird das „alchimistische Labor“ des DKM als Experimentier-Raum des vernetzten künstlerischen und theoretischen Experimentierens in Forschung und Lehre beschrieben. Es besteht aus folgenden Komponenten:
Dem Bachelor Medien und Kunst, der die Bereiche Bildende Kunst, Fotografie, Mediale Künste und Theorie zusammenführt und dem Master Fine Arts, einer gemeinsamen Ausbildung für unterschiedliche Arten von Autoren im Feld der Kunst und der ästhetischen Theorie. Mit dem Department direkt verbunden ist das Institut für Gegenwartskunst (IFCAR) mit den Forschungsschwerpunkten „Urbanität und Öffentlichkeit“ und „Wissensformen der Kunst“. Ein weiteres Institut, das Institut für Theorie (ith) ist mit dem DKM eng verknüpft, seit 2011 aber ZHdK-übergreifend aktiv und am Department „Kulturanalysen und Vermittlung“ (DKV) verortet.

In der Debatte zu den Möglichkeiten, der Sinnhaftigkeit und zur Notwendigkeit künstlerischer Forschung, könnte es um ein Inwertsetzen künstlerischer Tätigkeit jenseits einer von Angebot und Nachfrage bestimmten Kommodifizierung und einer durch Institutionalisierung geförderten Fixierung auf ein spezifisches Produkt gehen. Diese Inwertsetzung könnte über die Bestimmung von Parametern und Qualitäten eines Raums gehen, der künstlerische Forschung ermöglicht.
Ohne auf die Beiträge detailliert einzugehen, möchte ich mit diesem Text hier ein „transversales“ Lesen wiedergeben (Wikipedia, 20. 6. 12: „Eine Transversalwelle – auch Quer-, Schub- oder Scherwelle genannt – ist eine physikalische Welle, bei der eine Schwingung senkrecht zu ihrer Ausbreitungsrichtung erfolgt. Im Gegensatz zu Longitudinalwellen sind nicht alle Arten von Transversalwellen an ein Medium gebunden. Außerdem können nur Transversalwellen polarisiert werden“), das mit einzelnen Begriffen und Kontexten, zusammengetragen aus den einzelnen Beiträgen, den möglichen Raum künstlerischer Forschung qualitativ beschreiben kann.
Das Feld entsteht durch eine „Kontingenz“ der Elemente zueinander, die durch bewusstes Zusammenstellen, Zusammendenken hervorgerufen werden kann oder von den Elementen selbst induziert wird (Christoph Brunner). Das sich gegenseitige Berühren, zeitlich unvorhergesehenes Zusammenfallen und die Ermöglichung neuer Kombinationen sind Werkzeuge des „Wahrwerdens“ (Christoph Brunner). Imaginationen sind Begleiter aber nicht Ziele dieses Prozesses. Mittels einer praktizierten „Translokalität“ werden raumübergreifende Vorgänge im globalen Maßstab mit konkreten Ereignissen wieder im Raum verortet. Die entworfenen Handlungsfelder bewegen sich in einer Topografie des Imaginären und Symbolischen, die punktuell durch ein In-Szene-setzen sichtbar werden (knowbotiq & Felix Stadler). Durch eine „Re-territorialisierung“ des Raums und der Schaffung autonomer Räume könnte auch die Universität an dieser Praxis teilhaben, anstatt einer übergreifenden Deformierung und Modularisierung von Entwicklungsprozessen zuzuarbeiten (Gerald Raunig). Das Ergebnis eines künstlerischen Forschungsvorhabens kann nur ein Ausschnitt aus einem Prozess sein, nach Giaco Schiessers Argumentation ein „Arte-Fakt“, der, im Unterschied zur künstlerischen Praxis, verknüpft sein sollte mit einer expliziten Forschungsfrage. Kenntnisse verschiedener wissenschaftlicher bereits herausgebildeter Methoden sind sinnvoll, einerseits um unnötige Abgrenzungen zu vermeiden, andererseits um das in Gebrauchnehmen und Neukombinieren von bereits Vorhandenem zu fördern, ohne auf Weiterentwicklungen, Erfindungen und Erfahrungen zu verzichten, bei denen nach Hans Jörg Rheinberger, zitiert von Giaco Schiesser „die Methode für immer in ihre Anwendung verwickelt bleibt“. Mit dem Aufstellen von Regeln und dem Verwenden von Werkzeugen wird ein vorübergehendes Fremdwerden und ein veränderter Blick auf die Dinge ermöglicht, eine Art „stockende Spekulation“ (Nils Röller).

Elke Bippus diskutiert mit Jörg Huber und Robert Nigro die Entwicklung einer Theorie der Ästhetik in Verbindung künstlerischer und theoretischer Praxis und Reflexion anhand des Buches „Zum Gehör“ von Jean-Luc Nancy. Hören als eine „Wirklichkeit des Zugangs“, das Subjekt als Ort der „Resonanz“, es wird Material und Raum im Verweisen und im „Mit-Sein“ zu anderen Körpern.
Christoph Schenker und Hannes Rickli interessiert die Sicht auf die künstlerische Arbeit als ein Forschungsprozess innerhalb eines „Experimentalsystems“, wie die kleinste Arbeitseinheit von Forschungspersonen, inklusive ihrer Apparate und Praktiken innerhalb der Naturwissenschaften genannt wird. Dieses System steht in der künstlerischen Arbeit im Dienst eines explorativen Experimentierens, nicht zur Rechtfertigung und Überprüfung von Theorien, sondern im Sinne des „Serendipitätsprinzips“ (Prinzip der glücklichen Zufallsentdeckungen) zur zufälligen Beobachtung und neuen Entdeckung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem.
Eine eigene „künstlerische Intelligenz“ (innerhalb der Ausbildung der darstellenden Künste) zu entwickeln, braucht nach Heiner Goebels „Zeit“ für Experimente zur Entwicklung einer eigenen Ästhetik jenseits des klassischen Handwerks, Zeit für die Entwicklung reflektierterer, zeitgenössisch erweiterterer Konzepte der darstellenden Künste jenseits verschiedener Disziplinen, Zeit für das Zuschauen, das Beobachten, das Warten, das Zusammenarbeiten, Zeit dafür zu spielen, zu performen. Er plädiert dafür, keine Geschichten zu erzählen. Ich verstehe das als Aufforderung, entlang der Geschichten zu arbeiten mit einem Zugriff auf die Wirklichkeit.
Denken in Interdependenzen, wie z. B. das Verhältnis von Theorie und Praxis als ein wechselseitiges, dass lässt sich von Karl Marx lernen. Klaus Schöneberger & Roberto Nigro schlagen ein Re-Reading von Marx als Prozess des Neubeginnens vor, zum Verstehen sozialer Prozesse und gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine der zu bearbeitenden Fragestellungen wäre: Wenn die Artikulation von Kreativität zu einem konstitutiven Bestandteil kapitalistischer Akkumulation und Wertschöpfung geworden ist, inwieweit kann dann künstlerisches Handeln an der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse mitwirken. Ute Meta Bauer konstatiert in ihrem Schlusstext die kontinuierliche Verschiebung dessen, was ein Außerhalb und Innerhalb einer Kunsthochschule oder Universität überhaupt konstituiert und fordert die Bereitschaft des sich Infragestellens und Neuerfindens ein.

Ein Fazit, ein Résumé des Buches? Es bietet einerseits einen guten Einblick in die vielfältigen möglichen Praktiken des Experimentierens, zuweilen mit etwas unübersichtlichen Begriffsaneinanderreihungen, andererseits einen Ausschnitt aus Überlegungen, die die institutionelle Organisation betreffen. Die Stoffeinteilungen helfen nicht wirklich bei der Erschließung der Texte. Das transversale Lesen liefert jedoch einen brauchbaren Handapparat zum Abstecken eines möglichen Raums künstlerischer Forschung. Auch gefällt mir die Idee des Myzel, dass letztendlich jenseits der Erfindung neuer Parameter für die künstlerische Forschung das Gelingen einer solchen immer abhängt von der Dynamik des sich jeweils neu ergebenden spezifischen kollektiven Zusammenhangs.

„Vergleichbare“ Programme oder mögliche Ansatzpunkte zur weiteren Entwicklung in Berlin (sicher eine unvollständige Liste):
—Universität der Künste Berlin, UdK:
1. Graduiertenschule für die Künste und Wissenschaften mit einem künstlerischen Schwerpunkt und einem wissenschaftlichen Schwerpunkt und einer Schnittmenge des disziplinenübergreifenden Austausches;
2. Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“: dort sind unter anderem Projekte möglich, die Artistic research zum Gegenstand der Untersuchung haben, aber nicht selbst eine künstlerische Forschung beinhalten;
3. Institut für Raumexperimente, Klasse Olafur Eliasson;
— Weißensee Kunsthochschule Berlin, KHB: Masterstudiengang Raumstrategien;
—Freie Universität Berlin, FU : Internationales Graduiertenkolleg Promotionsstudium „Interart Studies“    


„Praktiken des Experimentierens. Forschung und Lehre in den Künsten heute“, Departement Kunst und Medien ZHdK (Hg.), Jahrbuch 4 Departement Kunst & Medien (ZHdK), Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2012


siehe auch:
—„Private Investigations – Paths of Critical Knowledge Production in Contemporary Art“, Andrei Siclodi (Hg.), Büchs’n’Books — Art and Knowledge Production in Context, Volume 3, Innsbruck 2012
—„Intellectual Birdhouse. Artistic Practice as Research“, F. Dombois, U. M. Bauer, C. Mareis, M. Schwab (Hg.), Verlag Walther König, Köln 2012
und:
—„The Routledge Companion to Research in the Arts“, 
Michael Biggs, Henrik Karlsson (Hg.), Routledge, London/New York 2011
—„Artistic Research“, Isabelle Graw (Hg.), Texte zur Kunst, Heft Nr. 82, Juni 2011, Berlin 2011
—„The Pleasure of Research“, Hank Slager (Hg.), Finn. Akademie der bildenden Künste, Helsinki 2011
—Journal for Artistic Research (JAR), Michael Schwab 
(Ed. in Chief), Online-Magazin gegründet in Bern 2009
—„Kunst und Wissenschaft“, Dieter Mersch, Michaela Ott (Hg.), Fink Verlag, München 2007
—„The Debate on Research in the Arts“, Henke Borgdorff, Bergen National Academy of the Arts, Bergen 2006

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